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Melodie des Herbstes. Anna Maria Luft
Читать онлайн.Название Melodie des Herbstes
Год выпуска 0
isbn 9783347091030
Автор произведения Anna Maria Luft
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
„Das hat prima geschmeckt“, lobe ich die Köchin. Grinsend bemerkt Edgar: „Helene hat Angst, sie wird zu dick. Sie hält sich sonst mit Essen sehr zurück. Und weil sie viel gegessen hat, ist es für dich, Marielia, ein besonderes Lob.“
Marielia lächelt, als sie sagt: „Helene, möchtest du in deinem Alter lieber eine Bohnenstange sein?“
Meinen Namen spricht Mariella so als, als wären wir schon sehr miteinander vertraut. Das tut mir gut.
Georg, der Sohn sagt: „Sehen Sie meinen Vater an. Er ist so dünn wie ein Zaunpfahl. Ist das etwa schön im Alter? Er könnte doch etwas mehr auf die Waage bringen.“
Edgar sieht von einem zum ändern und grinst. „Leute, was habt ihr für Sorgen? Man ist so wie man ist. Georg, wenn ich dir zu wenig auf die Waage bringe, lege ich noch einen Stein drauf.“
Darüber amüsiert sich Lörchen. Sie meint: „Papa, bei mir musst du gleich vier Steine drauflegen.“
Mariella macht erst ein nachdenkliches Gesicht, ehe sie verlauten lässt: „Dass man zu- oder abnimmt, dick oder dünn ist, liegt nicht allein am Essen. Man bringt auch eine gewisse Veranlagung mit. Georg, du bist so wie dein Vater, kein Gramm mehr. Man kann nicht viel dafür oder dagegen tun.“
Wir nippen jetzt alle, bis auf Lörchen, von einem Gläschen mit Kirschlikör. Der Vater schenkt seinem Töchterchen in ein Glas, auf dem die sieben Zwerge abgebildet sind, Zitronenlimonade ein. „Die Zwerge sollen alles austrinken“, sagt sie „Dann kann ich auch Kirschlikör trinken.“
Ich verabschiede mich und bedanke mich für das Essen.
„Einen schönen Nachmittag“, rufen sie mir nach.
„Den wünsche ich euch auch“, sage ich.
Drüben in meiner Wohnung lege ich mich auf die Couch und verschiebe meinen Spaziergang auf später.
Nachdem ich etwas ausgeruht habe, suche ich den Wald auf. Bäume haben für mich eine große Anziehungskraft. Auch das Grün der Natur erweckt Lebensfreude in mir. Ich bleibe stehen, weil ich einen Specht klopfen höre. Man bezeichnet ihn als Zimmermann des Waldes. Er sucht kranke hohle Stämme, denn meistens gibt es hinter der Rinde, die oftmals locker ist, Borkenkäfer und sonstige Schädlinge. Der Specht vertilgt sie und ist deshalb sehr nützlich.
Durch das Geäst scheint die Sonne, für kurze Zeit verschwindet sie wieder, weil sich Wolken davorschieben, aber bald kehrt sie zurück.
An diesem Pfingstsonntag, es ist der 20. Mai, ist das Wetter sehr mild, für einen Spaziergang gerade richtig. Ich gehe gemächlichen Schrittes wieder heim und finde, dass ich mich ausgezeichnet erholt habe.
Kapitel 3
Ich stehe am Fenster und blicke hinunter auf die Straße, wo ich sofort Edgar entdecke. Er geht mit gemächlichen Schritten dahin. Heute hat er seine vollen grauen Haare sorgfältig nach hinten gekämmt. Mit seiner braunen Lederjacke, darunter ein hellblaues Hemd, sieht er sehr gepflegt aus. In der Hand hält er eine rotgelb gestreifte, schon sehr alte Tasche aus Leinen, die er oft zum Einkäufen benutzt.
Ich denke mir, warum geht er so früh aus dem Haus? Warum auch nicht, wo er meistens schon um sieben aufsteht.
Nachdem er weitergegangen ist, betrachte ich voller Freude mein Blumenfenster, auf das ich sehr stolz bin. Hier blühen Orchideen in Rosa, Hellrot und Weiß. Obwohl sie sehr pflegeleicht sind, und ich sie nur zweimal pro Woche gieße, zeigen sie meistens ihre ganze Pracht. Während die Pflanze in voller Blüte steht, sind schon wieder neue Knospen zu erkennen.
Heute habe ich Geburtstag, was wohl keinen auf der Welt interessiert, nicht einmal Edgar. Oder bin ich zu voreilig? Der Tag hat ja erst begonnen.
Mein Frühstückstisch ist reichlich gedeckt. Zuerst trinke ich ein Gläschen Sekt und spüre gleich die Wirkung des Alkohols. Ich fühle mich leicht beschwingt, gerade richtig an so einem Tag. Ich gönne mir heute eine Fahrt nach München. Warum sollte ich mir nicht selbst eine Freude bereiten? Ich wohne in einem kleinen Ort nahe Starnberg und kann die S-Bahn benutzen, wenn ich nach München fahren will, manchmal auch die Bundesbahn, aber sie hält nicht immer in Starnberg. Ich gestatte mir öfter das Vergnügen, die bayerische Metropole aufzusuchen, um dort bummeln oder einkaufen zu gehen. Vielleicht suche ich mir heute ein Sommerkleid aus, bin ich am Überlegen. Womöglich gehe ich auch ins Kino. Heute zu meinem Geburtstag möchte ich unbedingt einen Spaßtag haben.
Jetzt werde ich erst einmal in aller Ruhe zu Ende frühstücken.
Ich bin 73 Jahre alt geworden. Ich frage mich so oft, wo die vielen Jahre hingegangen sind. Was ist überhaupt Zeit, überlege ich. Es ist ja nicht nur das Fortschreiten der Gegenwart. Es ist auch die Abfolge der Ereignisse, die einem im Leben begegnen. Kaum ist die Gegenwart da, ist sie auch schon wieder vorbei. Jede Minute dauert nur eine Minute, jeder Tag nur einen Tag. Ich höre Edgar sagen: Die Zeit ist relativ. Und, was er noch sagt: Die Wahrnehmung der Zeitdauer hängt davon ah, was in dieser Zeit passiert.
Das kann ich gut nachempfunden. In manchen Jahresabschnitten habe ich die Zeit so empfunden, als wäre sie wie im Flug vergangen, ein anderes Mal habe ich geglaubt, sie bleibt stehen.
In diesem Moment denke ich daran, was in meinem Leben alles Aufregendes passiert ist, und manches, was längst der Vergangenheit angehört, ist in meinem Kopf noch so gegenwärtig, so fest verankert, als wäre es soeben geschehen. Es fällt mir nicht schwer, die schönen Erlebnisse für immer festzuhalten, wie die Geburt meiner Tochter und die erste Weihnacht mit ihr und mit meinem Mann. Damals sind wir als Ehepaar noch ein Herz und eine Seele gewesen. Manche traurigen und unangenehmen Begebenheiten möchte ich allerdings aus meinem Gedächtnis verbannen. So leicht ist das jedoch nicht. Ich kann den Tag und sogar die Stunde nicht vergessen, an dem mich Friedhelm, mein damaliger Mann, verlassen hat. Ich habe bitterlich geweint und mich verzweifelt auf die Couch geworfen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits in die rassige junge Italienerin Maria Bernadette verliebt. Meine Hoffnung, ich könnte ihn noch zum Bleiben bewegen, hatte sich nicht erfüllt. Er war fest entschlossen gewesen, mich zu verlassen. Einige Zeit war mir noch die Hoffnung geblieben, er käme reumütig zurück, doch welch ein Trugschluss. Schon einige Monate später hatten wir das Haus verkauft, damit jeder seinen Anteil erhalten konnte. Eine vierköpfige Familie war an der Immobilie interessiert, aber da sie aus finanziellen Gründen nicht gleich zugreifen wollte, hatten wir ihnen einen Nachlass gewährt.
Der Verlust unseres Eigenheims war für mich sehr dramatisch gewesen. Lange Zeit wurden mir deshalb öfter Albträume beschert. Ich habe geträumt, dass ich auf der Straße leben muss. Bis jetzt hat sich mein Gedächtnis noch nicht von diesem negativen Erlebnis befreien können.
Mitten in meine Gedanken hinein läutet jetzt das Telefon. Ich nehme erwartungsvoll den Hörer ab und staune, dass meine Tochter in der Leitung ist. Sie sagt: „Mutti, herzlichen Glückwunsch zu deinem dreiundsiebzigsten Ehrentag.“
„Oh, danke, Dietlinde, lieb von dir, dass du heute an mich denkst“, sage ich und frage mich in diesem Augenblick, ob das ein Zeichen der Versöhnung sein könnte. Ich warte schon so lange sehnlichst darauf.
Dietlinde schweigt vorerst. Deshalb wiederhole ich: „Ich finde es sehr nett von dir, dass du…“
Sie unterbricht mich mit dem vielversprechenden Satz: „Manchmal kommt es anders als man denkt.“
„Wie meinst du das, Dietlindchen?“, frage ich. „Bitte, könntest du dich genauer ausdrücken? Komm mich besuchen, dann können wir darüber reden und über vieles andere. Ich würde mich riesig darüber freuen.“
„Nein, ich komme nicht“, sagt sie so energisch, dass ich zusammenzucke.
„Dann danke für deine guten Wünsche“, wiederhole ich mich. „Es hat mich sehr gefreut, dass du…“ Ich habe den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als sie auflegt. Darüber bin ich