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er verlangte? Ungeduldig forderte sie nun den Preis dafür ein. Wann hatte sie dieses Briefchen geschrieben? Einen Stift hatte ich in der Tasche nicht entdeckt, auch nicht den Kalender, aus dem das Blatt herausgerissen wurde. Offenbar war er das Ergebnis eines vor dem Treffen gefassten Entschlusses, endlich Klarheit zu schaffen.

      Warum hatte sie dann ihren Brief zerrissen? Geschah es in Wut und Enttäuschung? Waren ihre Träume zerplatzt und sie hatte ihre Drohung, die wegen des fehlenden Schnipsels nicht erkennbar war, umgesetzt. Was konnte sie diesem Mann, den sie zu lieben glaubte, wirksam androhen, welches Druckmittel hatte sie gegen ihn in der Hand?

      Und die wohl wichtigste Frage: Wer war der große Unbekannte, der meiner kleinen Kellnerin diese schwere Enttäuschung bereitete, an der sie schließlich sterben musste? Hatte Isabelle ihm vielleicht ihren Brief gegeben, und er hatte ihn zerrissen, worauf sie die Schnipsel in ihre Handtasche steckte? Wie waren die letzten Augenblicke dieses jungen Lebens verlaufen?

      Ich stelle es mir bildhaft vor: Isabelle steht in ihrem besten Kleid an Deck, das Boot nähert sich dem Hafen. Sie blickt auf das Hotel, auf die Häuserzeile am Hafen. Sie hat Tränen in den Augen.

      Was passiert dann? Hat jemand versucht, sie ins Wasser zu stoßen? Warum gerade hier und jetzt? Gab es eine Rangelei, in deren Verlauf das Kleid zerreißt und die Handtasche von Bord fällt? Wäre das Mädchen hier nur einfach über Bord gegangen, hätte sie den Anlegesteg mühelos schwimmend erreichen können.

      Warum, in aller Welt, hat sie nicht geschrien? Es waren so viele Menschen in der Nähe auf all den Booten und in den Häusern am Kai. Welche Gründe führen dazu, dass ein Mensch in Todesangst nicht um Hilfe schreit? Oder hat sie geschrien und niemand will es gehört haben? Warum also gibt es keine Zeugen? Jemand, der schon zu früher Stunde an Deck eines der Boote war oder aus einem Fenster der Häuser schaute? Wollen diese potenziellen Zeugen ihr Wissen vielleicht nicht preisgeben? Welche Gründe könnte es dafür geben?

      So viele Fragen! Doch das ist genau die zu lösende Aufgabe: Jeder Kriminalfall besteht zunächst aus vielen unbeantworteten Fragen. Sie präzise zu stellen, macht den ersten Schritt des professionellen Handelns aus. Alle nun einsetzenden Ermittlungen sind logische Schritte in Richtung auf deren Beantwortung. Hypothesen werden gestellt, um in schrittweiser Kleinarbeit deren Stichhaltigkeit zu überprüfen. Schließlich wird das Bild immer klarer, bis die ganze Wahrheit zu Tage tritt.

      Hatte nicht auch Catherine an diesem frühen Morgen um diese Zeit ihren Dienst angetreten?

      Hatte sie etwas gehört oder gesehen? Auch ihre Motive, mich als Aufklärer zu engagieren, liegen noch im Dunkeln. Welches sind ihre persönlichen Interessen, das, was hier ihrer Meinung nach zum Himmel stinkt, aufzulösen? Das würde für mich vorrangig zu klären sein, wenn ich mich tiefer in diese, ich gebe es zu, reizvolle Beziehung, in dieses Liebesabenteuer hineinbegeben sollte!

      Was genau geschah an Bord dieses Bootes während der Einfahrt in den Hafen? Wie genau kam Isabelle zu Tode? War sie vielleicht wehrlos gefesselt und geknebelt? Nein, unmöglich! Das war als Annahme sofort wieder zu verwerfen. Es waren keine Fesseln an ihren Handgelenken und Füßen. Die Fischer, die sie zu reanimieren versuchten, hätten etwas finden müssen.

      War sie vielleicht in einem Zustand völliger Hilfs- und Willenlosigkeit, kaum noch bei Bewusstsein, als sie ins Wasser kam? Stand sie vielleicht zu diesem Zeitpunkt unter Drogen? Das wäre bei einer Obduktion zu klären!

      Sollte es am Ende vielleicht gar ein Unfall gewesen sein, dass sie gerade hier im Hafen zu Tode kam? Oder sollte dieser Mord im Hafen etwas demonstrieren, ein Exempel statuieren? Seht her, welche Macht wir haben! Wer nicht gefügig ist, dem passiert hier etwas, mitten unter euch, und niemand kann es wagen, etwas gegen uns zu unternehmen! War dieses öffentlich begangene Verbrechen Teil einer Erpressung? Warum waren viele Menschen so verängstigt, weil sie genau wussten, worum es ging?

      Die wildesten Spekulationen jagten mir durch den Kopf. In solch frühen Phasen der Ermittlung ist es stets erlaubt, frei zu assoziieren. In einem zweiten Schritt gilt es jedoch, diese Hypothesen an den nachprüfbaren Indizien zu messen. So verwarf ich gleich wieder jene Ansätze, die nicht oder noch nicht belegbar waren.

      Wo war eigentlich das Boot oder die Yacht geblieben, nachdem man das Mädchen so im Zentrum des Hafenbeckens umgebracht hatte? Am unauffälligsten war es doch wohl, wenn es sich gleich auf einen der festen Liegeplätze begeben hätte. Lag dieses Boot zu dem Zeitpunkt, als ich zum Frühstück vor dem Hotel saß, bereits am Kai, hatte sich in die Reihe der anderen Boote eingefügt? Oder war es, weil das Mädchen rechtzeitig zu seinem Arbeitsbeginn am Steg abgesetzt werden sollte, gleich wieder gestartet und aufs Meer zurückgekehrt?

      Nein, das war unwahrscheinlich! Es hätte dann ein Zusammentreffen mit den kurz darauf vom Meer zurückkehrenden Fischerbooten geben müssen, die es dann später hätten identifizieren können. Also handelte es sich sehr wahrscheinlich um eines der Boote, die gewöhnlich hier ankern! Lag es vielleicht auch heute, gerade jetzt, vor meinen Augen?

      Ich betrachtete also erneut die Reihe der feudalen Yachten. Der weißhaarige, ältere Herr hatte die Zeitung nun ausgelesen und verschwand unter Deck. Nebenan zur Linken erschien gerade das ‚Walross‘, um vorsichtig auf dem Steg balancierend an Land zu gehen. Er war mir seit Tagen aufgefallen, weil er ein ungewöhnliches Äußeres zur Schau trug, weshalb ich ihm diesen Namen verpasst hatte. Ein vielleicht Fünfzigjähriger, der eine starke Leibesfülle um sich versammelte und durch einen ebenso markanten Schnurrbart an die wuchtigen Meeressäuger erinnerte. Die Tage zuvor hatte ich ihn während meines Frühstücks an einem der Nebentische gesehen. Er war immer schon vor seiner Frau und dem etwa zehnjährigen Jungen hier, um seinen Kaffee zu trinken. Wenn die Frau mit dem Kind erschien, stand er bald auf, um das Café zu verlassen. Ich hatte den Eindruck, dass ihn die Lebendigkeit des Jungen störte, die Frau ihn hingegen langweilte. Dann kaufte er dem Jungen ein Schokoladencroissant und sich eine Zeitung, um damit an Bord zurückzukehren. In meiner Urlaubsstimmung hatte ich mir, irgendwie unfähig, das genaue Beobachten sein zu lassen, meine Gedanken zu dieser Familie gemacht. Nicht ohne Parallelen zu meiner eigenen Familienzeit schmerzhaft erkennen zu müssen. Der Junge war, abgesehen vom Bartschmuck, das getreue Ebenbild seines Vaters, dicklich und als Kind schon unsympathisch.

      Die Frau, wohl zwanzig Jahre jünger als er, gab mir den Eindruck, als habe sie rechtzeitig das Kind geboren, um den Mann zu binden und sich so den materiellen Wohlstand zu sichern, der ihn offenbar von anderen ‚Walrössern‘ unterschied.

      Dann lag in der vordersten Reihe noch ein schickes Sunseeker-Boot mittlerer Größe. Diesen britischen Bootshersteller hatte ich von den James-Bond-Filmen der Jahrtausendwende in Erinnerung. Zum Beispiel in Stirb an einem anderen Tag, Casino Royale oder Ein Quantum Trost.

      Die Betrachtung der feudalen Yachten, auf denen sich derzeit vor meinen Augen nichts regte, führte nicht weiter. Ich ließ den Gedanken also zunächst fallen, und ging zur Rezeption, um nach meiner Freundin zu schauen, die auch heute pünktlich ihren Dienst angetreten hatte. Dann begab ich mich auf den Weg. Es sollte ein Tag werden, den ich noch lange in Erinnerung behalten würde!

       3

      Der vierzehnte Juli ist französischer Nationalfeiertag. Da laufen einige Uhren anders. In einem Touristenort wie diesem müssen allerdings die Dienstleistungen funktionieren, und die Geschäfte und Restaurants verdienen wie an keinem anderen Tag im Jahr. Da der Feiertag auf einen Sonntag fiel, bot er vielen Menschen aus der Umgebung Anlass zu einem langen Wochenende am Meer. Man war bereits am Freitag angereist und hängte dann noch einen oder ein paar Urlaubstage in der Woche an. Cassis war also hoffnungslos überlaufen, alle Hotels ausgebucht.

      Ich hatte mir vorgenommen, auf keinen Fall in Hektik zu verfallen, mein kleines Pensum eher als Zeitvertreib zu betrachten.

      Zuerst wollte ich, um dem Wunsch Catherines nachzukommen, der Mutter von Isabelle Verdone, wie sie vollständig hieß, einem Besuch abstatten. Catherine nannte mir den Namen und die Adresse: Madame Verdone, Rue Pasteur, numéro 3. Danach wollte ich den Wirt des Fischrestaurants auf dem Platz treffen. Er hatte so geheimnisvoll getan, dass ich mir auch von diesem Gespräch etwas mehr Klarheit versprach. Doch es kam ganz anders.

      An der Bar Cap Canaille

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