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Uhr, die Melodie der Hauptnachrichten. Los geht’s.

      »Und wir schalten direkt nach Brüssel zu unserem Reporter vor Ort. Wir haben es gerade im Beitrag gehört: Die Situation ist verfahren. Der EU-Kommissar und der deutsche Finanzminister sind sich uneinig, und der griechische Kollege will weitere Zugeständnisse der anderen Europäer. Rechnen Sie heute mit einer Einigung?«

      Ich straffe die Schultern, lächle bei der Frage und denke darüber nach, wie gut es ist, wenn sie immer jemanden ins Studio setzen, der zeigen will, wie klug er doch ist. Da bleibt mir exakt nichts mehr zu antworten, weil der Moderator alles schon vorweggenommen hat. Doch es gibt ja immer noch die vorgestanzten Bemerkungen und Einschätzungen:

      »Daniel, eine Einigung, das käme dem Wunder von Brüssel gleich. Weil die Positionen einfach zu unterschiedlich sind. Griechenland braucht dringend die Auszahlung einer weiteren Milliardentranche, sonst ist das Land am Monatsende pleite. Doch die Geberländer, die Deutschen, die Holländer, die Schweden, verweisen darauf, dass dafür erst die Reformen durchgezogen werden müssen. Klar ist: Das wird eine lange Nacht. Ich habe mir mein Kuschelkissen jedenfalls mitgebracht.«

      Paris dankt. Ein Lächeln. 1 Minute, 30 Sekunden, Pointe zum Schluss. Abgang. So muss das sein.

      Oma ruft oft an in letzter Zeit, denke ich, noch bevor ich den Schlusswitz gemacht habe.

      Jarret de Porc

      2015

      Die ziemlich heiße Kellnerin bringt zwei halbe Liter Bier. Ich sehe ihr nach: helle, kurze Haare, Ringel-T-Shirt in Schwarz-Weiß, dazu ein schwarzer Rock, schlanke Waden, schöne Fesseln in den Ballerinas.

      Alain schaut mir belustigt zu: »Ach ja, das tolle Singleleben. Du brauchst dich nicht zurückzuhalten, bei den Beinen.« Ich sehe ihn an. Der Nichtsingle in Perfektion. Seit einem Jahrzehnt. Oder mehr. Mit derselben Frau. Einer sehr schönen Frau. Beide leben zusammen in einem gekauften Haus in der Altstadt von Luxemburg. Sie arbeitet dort für einen Internetriesen, er ist der Korrespondent der AFP in Brüssel, ein kluger junger Mann, viel klüger als ich. Und viel fleißiger. Weil er der Erste sein muss, der die Nachrichtenlage überblickt, sich mit allem auskennt und seine Erkenntnisse aufschreibt.

      Das Schlimmste: Bei ihm muss alles stimmen. Bei mir reicht es, wenn ich die Dinge, die er schreibt, weltgewandt vortrage. So tue, als hätte ich sie selbst erfunden. Dabei kommt alles von ihm – und seinen Kollegen. Die nicht ihren Flug verpassen, sondern längst da sind, im Pressezentrum, während ich noch im Hotel einchecke. Und noch da sind, während ich bereits wieder in der Wanne liege. Ich schaue zu ihm auf, auch wenn er das nicht weiß. Ich mag ihn echt gerne. Und er mag mich gerne und schaut vielleicht aus genau den entgegengesetzten Gründen zu mir auf – weil ich so weltgewandt vortragen kann. Ich glaube es nicht, aber ich habe ihn auch nie danach gefragt. Wir stoßen an und prosten uns zu. Ein Bier. Endlich.

      Wir sitzen im Les Brassins, ein toller Laden. Retroplakate von belgischen Bieren an den Wänden, viele Kerzen, schwere Holztische. Eine hölzerne Bar beherrscht den Raum.

      Wir sind mit dem Taxi vom Rat hergefahren, nun, da die Minister ihrerseits beim Abendessen sitzen und bis in die Nacht debattieren. Nun haben wir Zeit, Alain bis zu den nächsten wichtigen Verlautbarungen und ich bis zur 23-Uhr-Schalte. Die um 22 Uhr habe ich Paris ausgeredet, weil ohnehin nichts vorangeht. Auch Alain glaubt, die Sitzung geht bis drei, vier Uhr.

      Wir haben Jarret de Porc bestellt, knusprige belgische Schweinshaxe, für Alain gibt es Stoemp dazu, Kartoffelbrei, ich habe Fritten bestellt, dazu die süß-scharfe Senfsauce, die sie hier so toll machen. Es ist voll, der Laden brummt, nur junge Leute, die eine Hälfte Einheimische, die andere Hälfte EU-Angestellte, Journalisten. Die Kellnerinnen sind wirklich ausnahmslos jung und hübsch, geradezu aufsehenerregend hübsch. Sie sind alle Brüsselerinnen und würden sich nie mit den Expats aus dem EU-Viertel einlassen. Purer Selbstschutz. Weil die eine Hälfte der Stadt immer hier war, ist und sein wird – und die andere Hälfte der Bewohner alle Jubeljahre einmal komplett ausgetauscht wird, wenn der Wanderzirkus nach einer Wahl einfach weiterzieht. Ich weiß das. Und komme trotzdem sehr gern in diesen Laden.

      »Und? Hast du noch viel zu tun?«, fragt Alain. »Das wird eine lange Nacht.«

      Darauf sind wir eingestellt, und wir wissen, wie wir uns vorbereiten müssen, damit wir nachher schlafen können, auf den harten, gelben Sesseln im Pressesaal. Jetzt das Bier, dann haben wir noch eine Flasche Rotwein aus dem Piemont bestellt, der kommt zusammen mit dem Schwein. Mit dieser Mischung schaffe ich es normalerweise, sogar während der Pressekonferenz die Augen zu schließen. So mancher Journalist erreicht das Einschlafen auch ohne Rotwein, allein wegen salbungsvoller, inhaltsleerer Sätze des EU-Währungskommissars.

      »Ich habe noch eine Schalte, und dann muss ich auf das Ende der Sitzung warten und einen Aufsager für morgen früh produzieren.«

      So heißen die Reportereinschätzungen, die statt einer Liveschalte einfach zu jeder Zeit ausgestrahlt werden können. Alain nickt.

      »Ich muss die Zusammenfassung für morgen früh schreiben – nach der Pressekonferenz des Ministers.«

      Es ist wie jedes Mal. Ankunft, Sitzung, wir essen, trinken, warten, dann Pressekonferenz. Und ab ins Bett. So gegen 4.

      »Wie geht’s dir denn?«, fragt Alain. Wir haben uns zwei Monate nicht gesehen, den Monat davor war er im Urlaub und hat nicht an der Eurogruppe teilgenommen. So haben wir uns verpasst. In der Zeit, in der er in Brüssel ist und ich in Berlin oder Paris, hören wir uns eigentlich nie, obwohl wir beide gleichermaßen antworten würden: »Ja, wir sind befreundet.« Manchmal rufe ich ihn im Büro an, um etwas Exklusives zu erfahren. Er erzählt immer eine kleine Story, doch so richtig exklusive Dinge lässt er natürlich nie raus. Würde ich auch nicht tun. Auch weil ich von einer exklusiven Story meilenweit entfernter bin als er, der ständig in den Hotels der Minister rumhängt und auf spannende Dinge wartet, während ich schon wieder nach Hause fliege.

      Die Kellnerin unterbricht uns, indem sie den Rotwein bringt und das Jarret. Die riesige Haxe dampft auf dem Teller, goldbraun ist sie gebacken, genau wie die Pommes frites daneben. Es sieht toll aus und riecht so gut, es ist genau das, was ich an diesem Tag brauche, an dem ich mich gerade mal dreieinhalb Kilometer bewegt habe: den Weg in Paris zur Gare du Nord, vom Bahnhof in Brüssel zum Taxi und dann immer wieder die Treppe im Ratsgebäude rauf und runter.

      »Guten Appetit«, murmele ich hungrig und reiße mir das erste Stück Fleisch aus der Haxe. Die Senfsauce ist süßlich-herb, die Pommes sind kross, das Fleisch rot und saftig. Unglaublich, das kriegen so nicht mal die Deutschen hin.

      Ich antworte auf Alains fünf Minuten zurückliegende Frage kauend und mit glücklich verklärtem Gesichtsausdruck: »Mir geht’s gut. Ich hab richtig gut zu tun. Morgen wieder zurück nach Berlin in die Redaktion, da bin ich dann den Rest der Woche. Die buchen mich die ganze Zeit, weil ich einfach immer ans Telefon gehe. Und dann fliege ich am Sonntag nach Paris, nächste Woche bin ich dort im Sender. Vielleicht geht ja auch noch was mit Breaking News nächste Woche.«

      Terroranschlag. Naturkatastrophe. Regierungskrise. Es ist unglaublich in diesen Monaten. Immer wieder klingelt mein Handy, immer ist es eine der Redaktionen, für die ich arbeite, es ist ein Wettlauf geworden. Sie wissen, dass ich innerhalb von 20 Minuten am Flughafen bin und abfliege. Und erst danach frage, was überhaupt passiert ist.

      Natürlich will ich nicht, dass etwas Schlimmes passiert. Aber wenn etwas Schlimmes passiert, heißt das: Ich darf dabei sein. Ich muss nicht zu Hause sein oder in der Redaktion. Ich bleibe in Bewegung.

      »Und wie geht’s dir?«, beharrt Alain. »Privat, meine ich.«

      Ich schaue auf meinen Teller, ärgere mich über sein Insistieren. Dann spüre ich, wie es in meiner Hose surrt. »Warte kurz«, murmele ich und greife zu meinem iPhone. »Match«, steht da in der Push-Nachricht von Tinder. Dann schon das Mailzeichen: »Neue Nachricht.« Ich öffne die Anzeige. Ihr Foto erscheint. Das griechische Mädchen.

      Sie hat mich angeklickt und nach rechts weggewischt. Match. Treffer. Ja.

      Sie schreibt auf Englisch:

      

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