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      Alexander Oetker

      Und dann noch die Liebe

      Roman

      Hoffmann und Campe

      »A gentleman will walk

      but never run.«

      Sting

      Später

      Ich sehe ihr nach. Langsam und gemächlich geht sie die Dorfstraße entlang, als habe sie alle Zeit der Welt. Vielleicht stimmt das sogar. Es sind nur 150, vielleicht 200 Meter, keine lange Strecke. Doch sie ist 91. Und sie geht so selbstverständlich und den Menschen hinter ihren Fenstern zugewandt, dass es mir die Tränen in die Augen treibt. Ob dieser Gang gebückt ist, spielt keine Rolle, auch nicht, dass sie manchmal kurz innehalten muss. Sie kann jetzt diese Straße entlanglaufen. Sie ist hier. Nach all dem, was sie mir erzählt hat, ist das alles andere als selbstverständlich.

      An der Hoftür dreht sie sich noch einmal zu mir um. Ein zurückhaltendes Lächeln, ein Winken, dann verschwindet sie im Garten. Gleich wird sie das Kaffeewasser aufsetzen und den Kuchen aus der Tüte vom Supermarkt ziehen.

      Ich habe gesagt, dass ich noch eine Weile hier sitzen will. Es ist ein warmer Tag. Der Verkehr rauscht auf der Bundesstraße vorbei gen Berlin, ich aber sitze im Schatten unter dem Blätterwerk der ausladenden Linde im Sommerwind.

      Wir haben wieder so viel gesprochen. Seitdem sie zum ersten Mal von all dem begonnen hat, reden wir viel mehr miteinander. Ich erzähle ihr meine Chosen, die mir spätestens dann bescheuert vorkommen, wenn sie von früher erzählt. Wir sind uns so nah, heute.

      Angefangen hat das alles vor ein paar Ewigkeiten, am Ende eines Jahres, das irgendwie alles verändert hat: Deutschland, Europa, mich.

      Wenn ich heute auf dieses Jahr zurückblicke, dann kommt es mir vor, als wäre ich eine unbestimmte Zeit lang atemlos durch die Gegend gerannt. Und nicht nur ich – die ganze Welt. Zumindest der Teil der Welt, den ich überblicken kann. Dass dieser Teil nicht sehr groß ist, brauch’ ich wohl nicht zu sagen, auch wenn mir das damals noch nicht richtig klar war.

      Es ist wie immer: In dem Moment, in dem etwas Großes passiert, spürst du nicht, dass du dir diesen Moment einprägen solltest. Weil du damit beschäftigt bist, deine eigenen kleinen Probleme zu lösen. Erst hinterher erkennst du, dass diese Begebenheit wirklich historisch war. Wobei dieses Wort so grandios und übermächtig klingt – dabei kann auch eine ganz kleingeistige, miese Nummer historisch sein.

      Jetzt, in der großen Retrospektive, wo alle über 2015 reden, Schicksalsjahr, sie sagen es immer wieder, versuchst du, die Elemente dieser Zeit irgendwie zusammenzupuzzeln. Natürlich gelingt das nicht. Weil du das Gefühl von damals nicht mehr herbeizaubern kannst. Diese Atemlosigkeit, dieses Gebanntbeobachten. Du weißt, dass es da war, aber wie es dich in dem Moment angefasst hat, das weißt du nicht mehr.

      Es sind nur noch Fragmente, die herausstechen, Leuchttürme vielleicht, in deren Licht dieses Jahr dann entweder besonders grausam oder besonders strahlend dasteht – und die eigene Rolle naturgemäß brutal überzeichnet wird.

      Ganz so, als hätte ich die Grenzen geöffnet, die Menschen aus dem Wasser gezogen, die Frau in mein Bett geholt, das marode Land gerettet.

      Und nun? Was mache ich mit dieser Erkenntnis, dass man hinterher glaubt, es sei so besonders gewesen, nur weil man selbst dabei war? Heute, wo die Welt wieder unnormal ist, wenn auch aus anderen Gründen. Wieder ist nichts mehr so, wie es vorher war. Weil es schon vorher verrückt war, wir haben es nur nicht gemerkt. Und das Beste: Auch jetzt machen wir einfach genauso weiter wie vorher.

      Ich bin verheiratet. Ich bin Workaholic. Jeden Abend presse ich den ganzen Wahnsinn des Tages in anderthalb Minuten und erzähle meinen Zuschauern davon, als sei dieser Bericht die allumfassende Wahrheit.

      Ob mich das erfüllt? Ob ich mir selbst glaube? Hey, ich bin Journalist. An dem einen Tag sind wir die vierte Säule der Demokratie. Und am nächsten Tag treiben wir schon wieder eine neue Kuh durchs Dorf, bis sie entweder zur Kuhkönigin wird – oder vom Laster überfahren.

      Irgendwann in diesem Schicksalsjahr fangen die Menschen in meinem Land an, uns nicht mehr zu glauben. Nicht alle Menschen. Nur diejenigen, die schon immer Schwierigkeiten mit ihrem Leben hatten. Oder die, die soziale Medien für ihren Freundeskreis halten. Oder die, die generell so ihre liebe Mühe mit der Demokratie haben.

      Natürlich sind wir auch selbst daran schuld. Weil wir Fehler machen, weil wir Menschen sind. Kleine Fehler, die all die Kritiker mit dem Finger auf alle zeigen lassen: Seht ihr? Nichts kann man denen glauben.

      Und dann gibt es noch ein paar Gesinnungskollegen, die meinen, sie könnten sich doch mit einer Sache gemein machen, die sie für gut halten. Die auf einmal die Seite gewechselt haben – nicht mehr berichten, sondern richten. Sich Bundesverdienstkreuze anstecken lassen von denen, die sie eigentlich kontrollieren sollten. Aus ihrer Blase auf die ganze Welt schließen, ohne mal wirklich nachgeschaut zu haben, wie das Leben denn ist, im Arbeitsamt in Saarlouis oder Nantes.

      Irgendwann in diesem bestimmten Jahr also werden sie anfangen, uns als Lügenpresse zu bezeichnen. Werden sagen, die Kanzlerin oder der Präsident rufen uns morgens an und sagen, was wir berichten sollen. Und dann werden immer mehr Fehler auf unserer Seite für immer größeren Vertrauensverlust sorgen. Alle werden in Panik geraten, weil die Abozahlen einbrechen und die Quoten.

      Und dann – und ich weiß das, weil ich es erlebt habe –, viele Jahre später, wird das alles nichts bedeuten. Weil es einfach weitergeht. Weil die, die uns Lügner genannt haben, tot sind oder arm oder bedeutungslos, so bedeutungslos wie vorher. Und weil die Menschen einfach eine Lust haben an Nachrichten, die sie wie Unterhaltung konsumieren können.

      Und so werden wir eben Unterhalter sein, Entertainer im großen Spiel, nicht zu unterscheiden von denen am Rednerpult im Bundestag oder in der Assemblée Nationale, die auch nur ins Fernsehen kommen, wenn sie mal einen besonders geilen Witz reißen oder Pippi Langstrumpf singen.

      Heute also ist alles wieder normal. So wie vorher. Nur noch ein bisschen nebensächlicher. Weil wir wissen, dass die Umbrüche so groß sein können, wie es vorher keiner für möglich hielt: dass da eine Pandemie kommt, und auf einmal hält die Welt einfach an – und dreht sich dennoch gefühlt noch schneller weiter als vorher. Dass ein Kind mit Größenwahn Präsident ist und alle auf einmal ganz unironisch »Mr. President« sagen, und es passiert dennoch gar nichts Schlimmes, so im Sinne von Atomknopf oder so – und dann wird er abgewählt, und es hat alles nichts bedeutet. Während auf der anderen Seite Dinge, die damals erst ins Bewusstsein gerückt sind, heute einfach noch immer da sind. Wie dieses Lager in Moria auf der griechischen Insel, von dem vorher niemand je gehört hatte – und von dem nach 2015 jeder sprach, weil sie dort die Menschen hielten wie Vieh. Oder anders gesagt: Sie tun das bis heute, nur ist das Lager wieder aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden, es taucht nur noch ab und zu in den Schlagzeilen auf, wenn sich mal wieder ein Flüchtlingskind mit Reinigungsmitteln vergiftet hat, um dem Leid ein Ende zu setzen. Moria ist wie eine alte Operationsnarbe, die nur noch schmerzt, wenn das Wetter schlecht wird.

      Wenn ich mit meiner Oma spreche, die 70 Jahre vor unserem Schicksalsjahr ihr ganz eigenes Schicksalsjahr hatte, so wie ganz Europa damals, ein viel tragischeres, schrecklicheres, tödlicheres, aber auch befreiendes, weil die Herrschaft des Schreckens endete, dann weiß ich auf einmal, wie unbedeutend das alles ist. Aber hey, es ist meine Zeit, mein Leben.

      Ich stehe von der harten Holzbank auf, die sie gegenüber der kleinen Kirche aufgestellt haben, betrachte das Kreuz am Erker, dann gehe ich die Hauptstraße entlang, grüße die alte Frau, die aus dem Fenster schaut. Wir kennen uns seit Jahrzehnten. So ist das hier. Ich schwitze, weil es immer heißer wird, das Pflaster brennt schon, ein Tag im August, wie ich ihn in Kindertagen immer geliebt habe, weil die Schatten immer länger werden und alles dennoch kein Ende zu nehmen scheint.

      Ob ich spüren würde, wenn ein neues Jahr kommt, das wieder zu einer Zäsur wird? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass die Veränderung, der Umbruch, nie mit einem Knall beginnt. Sondern mit einer leisen Stimmung,

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