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den erregten Möwenhimmel nicht durchlöchern. Ich konnte ihn nicht einschüchtern, auch nicht zur Ruhe bringen. Die Möwen lärmten, aber wir hielten dem Lärm stand.

      Einmal schnappte eine Möwe nach meinem Bein, und weil mein Stock sie nicht traf, schleuderte ich ein Ei nach ihr, und das Ei zersprang auf ihrem Rücken, und das zerplatzende Dotter machte ihr gelbe Hoheitsabzeichen: nun flog sie für Brasilien.

      Addi nickte mir anerkennend zu, er hatte den Treffer beobachtet, und er kam zu mir und zog mich unter seinen Regenmantel, weil uns von See her die ersten Böen anfuhren, die ersten scharfen Stöße, die den Strandhafer glatt an den Boden drückten und die den Sand in kleinen Fahnen emporrissen und ihn gegen meine nackten Beine warfen.

      Er rief Hilke, die immer noch eifrig Eier sammelte. Er zeigte auf die Regenfront und auf die Nordsee. Kürzer war die Bogenlinie des Meeres, trüber, von einem weißlichen Vorhang verdeckt, der wehend auf uns zukam. Das Wasser blitzte und leuchtete im Vordergrund, und von den Kämmen riß der Wind glitzernde Schleppen auf.

      Mach Schluß, rief Addi, aber meine Schwester hörte es nicht, oder sie hörte es und wollte nur noch den Korb voll sammeln, und so folgten wir ihr langsam, das heißt: ich bahnte uns einen Weg zu ihr zwischen den Möwen. Ich fühlte mich wohl unter Addis Regenmantel, erhielt mir nur einen Schlitz zum Sehen und Schlagen. Ich spürte die Wärme seines Körpers, lauschte auf seinen schnellgehenden Atem, empfand den leichten Druck seiner Hand als Wohltat auf meiner Schulter.

      Mach Schluß, rief er wieder, denn plötzlich hörte der Wind auf, und es begann zu regnen. Hilke erschien klein und entrückt hinter der heftigen Schraffur des Regens, doch immer noch lief sie gebückt zwischen den lieblosen Gelegen, bis auf einmal ein Blitz über der See sprang oder vielmehr riß; das Wurzelwerk eines Blitzes riß im Erscheinen vor dem dunklen Horizont, und ein braver, ich möchte mal sagen, gemütlicher Donner rollte über die Nordsee heran; da richtete meine Schwester sich auf, blickte auf die See, dann auf uns, wies mit ausgestrecktem Arm auf ein Ziel und lief, von ihren nach innen gekehrten Waden stark behindert, gleich los in die bezeichnete Richtung, worauf uns nichts anderes übrigblieb, als ihr zu folgen.

      Möwen stoben auf. Abwehrbereit sperrten sie ihre Schnäbel auf. Ein Wasserfall von irrsinnigem Geschrei stürzte auf uns herab, während wir vor Regen und Gewitter flohen, durch den Sand, durch das Dünental, über die Düne. Der Wind hatte wieder eingesetzt und warf uns den Regen entgegen, den Frühjahrsregen von Rugbüll, der den Gräben und Kanälen ihre Enge beweist, die Wiesen absaufen läßt, und der von den knochigen Hinterteilen des Viehs den getrockneten und verzottelten Winterspinat abwäscht.

      Wenn es bei uns regnet, dann verliert das Land seine Offenheit, seine schutzlose Tiefe, ein zerstäubter Nebel hängt über ihm und nimmt einem die Sicht; alles wird niedrig, verkürzt sich oder wächst sich schwarz und knollenhaft aus, und es lohnt sich einfach nicht, unter irgendein Dach zu treten, um ein Ende des Regens abzuwarten, denn das Ende läßt sich nicht absehen, man kann es nur nach einem Erwachen glücklich feststellen. Wenn es nur geregnet hätte, wären wir gemächlich nach Hause gegangen, das nehme ich doch an, aber das Gewitter trieb uns zum Lauf über die Düne, die reißenden Blitze über der See, der Donner, die harten Böen; das war kein Gehen unter der Wucht dieses Unwetters, wir taumelten über den stumpfen und nassen Sand der Düne, immer noch Hilke folgend, die jetzt auf die Hütte des Malers zulief, die Hütte erreichte und sogleich die Tür aufriß, aber nicht schloß, sondern in der dunklen, vom Regen schraffierten Öffnung stehenblieb und uns winkte und zur Eile anspornte, bis wir bei ihr waren. Sie rief uns in die Hütte hinein. Sie warf die Tür zu und seufzte zufrieden auf.

      Den Riegel, sagte der Maler, du mußt noch den Riegel vorschieben, und meine Schwester schlug mit ihrem Handballen gegen den Riegel, und dann standen wir triefend in der Hütte des Malers.

      Ich tauchte gleich unter Addis Mantel hervor, ging um den Arbeitstisch herum an das breite Fenster und sah hinaus wie schon einmal und erwartete wie schon einmal, einen toten Mann in der Brandung zu erkennen, einen toten Flieger, den die Wellen gegen den Strand warfen und den der Sog dem Meer zurückgewann, und vielleicht wußte der Maler, wonach ich Ausschau hielt, denn er sagte nur lächelnd: Gewitter, heute gibt’s nur Gewitter.

      Ich hatte ihn ja oft zu seiner Hütte begleitet, und ich hatte neben ihm auf dem Arbeitstisch gesessen, wenn er die Entstehung oder das Ende einer Welle beobachtete oder die Wolken oder das herrschsüchtige Licht über dem Meer, und damals, als wir gemeinsam den toten Flieger entdeckten, hatte er mich lange festgehalten auf dem Tisch und nur den weich driftenden, rollenden, entspannt treibenden Körper beobachtet, der den Rhythmus der Dünung so in sich aufgenommen hatte, daß er selbst leicht dünte und sich schlaff überschlug, ja, und es dauerte mir viel zu lange, bis wir endlich hinabliefen und den toten Flieger auf den Strand zogen.

      Nur Gewitter, sagte er und lächelte in der Dämmerung, dann zog er ein großes Taschentuch heraus und trocknete mir das Gesicht ab, während ich die flockige Brandung absuchte und nach seiner Auffassung nicht still genug hielt, denn er befahl mir mehrmals: Still, halt doch mal still, Witt-Witt. Er war der einzige, der mich so nannte, warum auch nicht: Witt-Witt ist der eilige, besorgte Ruf der Strandläufer, mehr fällt ihnen nicht ein, vielleicht fiel dem Maler auch nicht mehr zu mir ein, jedenfalls nannte er mich so, und auf Witt-Witt sah ich mich nun um oder kam näher oder hielt still. Max Ludwig Nansen rieb mir auch das Haar trocken und den Hals und die Beine, und danach reichte er sein großes Taschentuch Hilke, die sich ebenfalls abzureiben begann und dann mit den Fingern ihr nasses, langes Haar strählte und preßte. Rauh und stoßweise kam der Wind von der See und rief hinter der Tür Tumulte hervor. Keine Möwe war jetzt zu sehen, nicht mal die Wächter waren in der Luft. Das Meer schäumte und glitzerte, und ich bückte mich, legte den Kopf tief zur Seite, sah über das Schäumen und Glitzern hin und dachte mir das Meer als Himmel und den dunklen Himmel als Meer, und als ich hochsah und mich umdrehte, entdeckte ich sie.

      Jutta hockte lautlos und unbeweglich neben dem Schrank, sie hockte im Schneidersitz auf dem Boden, die Hände im Schoß, die mageren Schenkel so gespreizt, daß sich der Stoff ihres Kleides straff spannte, und ich sah, daß sie lächelte und nur das verstörte und fassungslose Lächeln von Addi erwiderte. Ich wunderte mich. Ich sah von einem zum andern, von Juttas knochigem, spottlustigem Windhundgesicht zu Addi, der nur steif und nutzlos dastand, eine verwunderte Kleiderpuppe und so weiter, deren ganze Verwunderung einem sechzehnjährigen Mädchen mit magerem Nacken, mit mageren Schenkeln und schnellen, unternehmungslustigen Augen galt – eben Jutta, die nie meinte, was sie sagte, und die Bleekenwarf verhext hatte, seit der Maler sie mit ihrem kleinen, gewalttätigen Bruder Jobst aufgenommen hatte nach dem Tod ihrer Eltern, die ebenfalls Maler gewesen waren.

      Jedenfalls versuchte ich, dies stumme Erkennungsspiel zu begreifen, und ich wollte etwas sagen, doch da sagte schon meine Schwester: Reib dich ab, Addi, der Regen ist kalt, und gleichzeitig drückte sie ihm das Taschentuch in die Hand und stieß ihn auf ihre Art mit dem Ellenbogen auffordernd in die Seite, worauf er sie verständnislos anblickte, doch in schweigendem Gehorsam begann, sich abzurubbeln. Und während er das riesige Taschentuch gebrauchte, sagte Hilke zum Maler: Das ist Addi, mein Verlobter, er ist hier nur zu Besuch; und der Maler darauf, lächelnd in die Ecke weisend: Und das ist Jutta, sie wohnt bei uns mit ihrem Bruder. Darauf gab Hilke Jutta die Hand, Addi gab dem Maler die Hand, und nachdem ich Jutta die Hand gegeben hatte, gab ihr auch Addi die Hand, wobei mir einfiel, daß ich Max Ludwig Nansen noch gar nicht die Hand gegeben hatte und dies tat und damit erreichte, daß Hilke ihr Versäumnis begriff und schnell noch dem Maler die Hand gab, und fast hätte ich auch noch Hilke die Hand gegeben, wenn der Maler nicht zwischen uns getreten wäre, um seine Pfeife von einem Bord zu nehmen.

      Ich hoffe, das geht bald vorüber, sagte Hilke. Das Gewitter, sagte der Maler, nicht der Regen. – Das hast du davon, sagte Hilke zu mir, warum bist du uns nachgegangen, und ich darauf: Ich bin schon naß, und ich sah, wie die Männer sich überrascht und in belustigter Anerkennung zublinzelten über meinen Kopf hinweg, und Addi bot dem Maler eine Zigarette an, doch der hielt nur seine Pfeife hoch und lehnte ab. Der Maler setzte seine Pfeife in Brand, trat ans Fenster der Hütte und sah hinaus in den Wind, in die Dunkelheit über dem Meer, wo vermutlich wieder etwas geschah, was nur er ausmachen konnte mit seinen grauen geduldigen Augen. Ich hatte ihm schon anzusehen gelernt, wenn er in einen Anblick unsichtbarer

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