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Deutschstunde. Siegfried Lenz
Читать онлайн.Название Deutschstunde
Год выпуска 0
isbn 9783455810813
Автор произведения Siegfried Lenz
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Die Halbinsel stand in der See wie ein scharfer Schiffsbug, sie stieg nur langsam an zu einem gefalteten Dünenbuckel, der baumlos war, mit hartem Strandhafer bedeckt. Dort nisteten die Möwen. Dort bauten sie ihre kümmerlichen Nester in jedem Frühjahr; zwischen der Hütte des Vogelwarts und der Hütte des Malers, die frei am Fuß einer Düne lag und ein niedriges, aber sehr breites Fenster zum Meer hin hatte.
Ich ging jetzt auf dem Deich im Schutz des Gasthauses, verlor Hilke und ihren Addi aus den Augen, den Akkordeonspieler, der, vermutlich auf Wunsch meiner Schwester, sein Akkordeon mitgeschleppt hatte zu uns und gewiß auch schon darauf gespielt hätte, wenn meine Mutter nicht jedesmal mit schweigender Mißbilligung aus dem Zimmer gegangen wäre, sobald er nach dem Instrument gegriffen hatte, das mit den silbernen oder versilberten Initialen A.S. geschmückt war. Mein Vater hätte sich gern sein Lieblingslied vorspielen lassen, und ich hätte mir auch gern ein Lied von Addi gewünscht, doch da meine Mutter es offensichtlich nicht duldete, stand das schwere Akkordeon nur in Hilkes Zimmer herum. Ich überlegte mir schon, das Instrument heimlich auszuprobieren, nachts in meinem alten Kastenwagen.
Auf der hölzernen Plattform des Gasthauses blieb ich stehen, linste durch eines der beiden Aussichtsfenster in den Gastraum, in dem nur ein einziger, dunkler Mann an einem leeren Tisch saß, der Mann streckte mir die Zunge heraus, tat so, als wolle er den Aschenbecher nach mir werfen, auf dem eine abgenagte Makrelengräte lag, da flitzte ich unter der Fensterfront hindurch und gleich wieder auf die Böschung des Deiches, wo ich Hilke und ihren Verlobten schräg vor mir hatte. Sie gingen hintereinander auf den Steinen der Uferbefestigung, bis das Land sich senkte und in den flachen, hellen Strand der Halbinsel auslief, und als sie den Strand überquerten, Hand in Hand wieder, gegen den Hintergrund der See, zwischen Treibholz und Tang – als sie durch die Einsamkeit den Dünen zustrebten, da hätte man sie durchaus für Timm und Tine halten können, das Paar aus Asmus Asmussens Roman »Meeresleuchten«.
Nein, das ist unwahrscheinlich, denn Timm hätte nicht besorgt auf die Regenwand über der Nordsee gezeigt, er hätte vor allem nicht gefroren, so wie Addi fror, auch hätte er sich nicht so tief und erschrocken weggeduckt, als eine Blaumantelmöwe mit angewinkelten Schwingen auf ihn hinabstürzte, ein weißes Geschoß, das sich mit pfeifendem Geräusch näherte. Addi war so erschrocken, daß er sich nicht nur duckte, sondern auch wegdrehte, als die Möwe auf ihn hinabstürzte, so daß er nicht sah, wie sie dicht über ihm den Sturz auffing und sich vom Wind emporreißen ließ in sichere Höhe, wo sie gellende Warnungen ausstieß und ein Keckern und Klagen. So fing es immer an. Eine Möwe eröffnete den Angriff. Eine Blaumantelmöwe. Eine Stummelmöwe. Eine Hutmöwe. Keine Möwe an unserer Küste gibt ihre Eier freiwillig heraus. Sie greifen an. Rotäugig, gelbschnäbelig. Sie fliegen Scheinangriffe.
Das hatte der Akkordeonspieler noch nicht erlebt, möchte ich annehmen, wie auf einmal zwei Millionen Möwen gellend aufstoben, eine silbergraue Wolke über der Halbinsel entstehen ließen, die rauschend und flatternd mit irrsinniger Empörung stieg und fiel, eine Wolke, die kurvte, sich verschob und klatschend formierte, wobei ein weißer Regen von Möwenfedern niederging, oder, das ist vielleicht besser, ein Schnee aus Daunen, der das Tal zwischen den Dünen füllte, locker und warm, so daß meine Schwester und ihr Verlobter ohne weiteres hätten schlafen gehen können, wenn sie es gewollt hätten. Mir sprang das Herz, um es mal so auszudrücken.
Sobald die Möwen von ihren kümmerlichen Nestern aufgestiegen waren und einen neuen lärmenden Himmel gezogen hatten, lief ich den Deich hinab zum Strand, fand Deckung hinter einem zerschlagenen Fischkasten und lag atemlos in dem Toben, das die Luft erfüllte, fest in meiner Hand den Stock, mit dem ich, wenn es sein mußte, einer der blaugrauen Tauchermöwen den Kopf abschlagen würde. Vielleicht würde ich ihr auch nur einen Flügel abschlagen, sie nach Hause tragen und ihr das Sprechen beibringen.
Die Möwen hatten mich längst entdeckt, auch über mir kreiste die Wolke, auch über mir klatschten und flatterten zornige Schwingen, und während die schweren Bürgermeistermöwen Höhe zu gewinnen suchten wie schwere Bomber, kurvten die wendigen Stummelmöwen dicht über dem Strand, in eleganter Wut stießen sie auf mich hinab, mit sausendem Luftzug, winkelten vor mir ab und zogen in steiler Kurve weit aufs Meer hinaus, wo sie sich zu neuen Angriffen formierten.
Ich sprang auf, zog meinen Stock in schnellen Kreisen über dem Kopf, so wie irgend jemand – aber wer nur? – es mit seinem Schwert getan hatte, um unter dem Regen trocken zu bleiben, und so verließ ich den Strand, fuchtelnd, schlagend, lief unter den pfeilschnellen Angriffen den beiden Spuren nach, den einzigen Spuren im feuchten Sand.
Nur ein kurzer, angestrengter Lauf zwischen den lieblosen Gelegen, in denen die blaugrünen, grauen und schwarzbraunen Eier lagen, dann sah ich sie wieder vor mir.
Addi war tot. Er lag auf dem Rücken. Eine Sturmmöwe hatte ihn getötet, oder zehn Heringsmöwen und neunzig elegante Seeschwalben. Sie hatten ihn durchlöchert, durchbohrt. Meine Schwester kniete neben ihm, machte sich gelassen und sachgemäß, jedenfalls klaglos, an seiner Kleidung zu schaffen – sie, die alles beherrschte, plante und festlegte und die alles ertragen konnte außer Unsicherheit und Zaudern – und senkte ihr Gesicht tief über sein Gesicht, umarmte ihn, legte sich über ihn, und sie schaffte es tatsächlich: Addis Beine machten wieder kurze stoßende, schlagende und zuckende Bewegungen, er warf seine Arme hoch, die Schultern wurden von einem Schüttelkrampf heimgesucht, sein Körper bäumte sich auf.
Ich vergaß alles. Meinen Stock gegen die stürzenden, klagenden Möwen schwenkend, lief ich zu ihnen hin, warf mich auf die Knie und sah, daß es durch Addis blaurot verfärbtes Gesicht zuckte, daß er die Kiefer aufeinanderpreßte und mit den Zähnen knirschte. Seine Finger waren gekrümmt, die Daumen fest in die Hand eingeschlagen. Seine Haut glänzte vor Schweiß. Wenn er den Mund öffnete, erkannte ich, daß seine Zungenspitze ganz vernarbt war.
Laß ihn, sagte meine Schwester, faß ihn nicht an. Sie hatte keine Zeit, um darüber erstaunt zu sein, daß ich plötzlich neben ihr war. Sie knöpfte Addis Hemd zu, streichelte scheu sein Gesicht, nicht erregt oder erschrocken, sondern scheu, und ich konnte beobachten, wie Addi sich unter ihrer Liebkosung beruhigte, aufseufzte und sich mit ängstlichem Lächeln erhob und mir zuwinkte, als er sah, daß ich mit meinem Stock die Möwen von ihm abhielt.
Hierhin und dorthin zuckte mein Stock, verblüffte die angreifenden Möwen, beendete ihren Sturz. Ich tat jetzt so, als hätte ich keine Zeit, auf die Vorwürfe einzugehen, die meine Schwester vorbereitete: ich focht für Addi. Ja. Ich kämpfte eine Kompaßrose frei. Mit Ausfallschritten, mit Sprüngen, mit Würfen aus dem Handgelenk setzte ich mich gegen die Vögel zur Wehr, während Hilke hastig Eier in den Bastkorb sammelte und Addi nur benommen dastand und sich den Nacken rieb, einen überraschend alten Nacken, wie ich feststellen mußte, durchfurcht und schon bißchen verledert.
Die Möwen wechselten auf einmal die Taktik. Sie hatten anscheinend gemerkt, daß sie mit Scheinangriffen nichts erreichten, nur einzelne Kamikaze-Vögel, Sturmmöwen vor allem, stürzten sich noch auf uns, die Schwimmfüße schön angelegt, mit aufgesperrtem, korallenrotem Schlund, mit Ju-87-Schwingen, doch das waren nur ein paar unaufgeklärte Nachzügler; denn die andern alle organisierten sich in flacher Wolke über uns, flatterten mit klatschendem Schlag auf der Stelle und griffen uns mit Geschrei an. Da Sturzflüge nicht halfen, sollte uns Möwengeschrei in die Flucht schlagen. Das kreischte. Das gellte. Das knarrte und keckerte. Das miaute. Spitz drang es ins Gehirn, ins Rückenmark, rief eine Gänsehaut hervor.
Addi hielt sich lächelnd die Ohren zu. Hilke sammelte gebückt Eier in den Bastkorb, getroffen und wieder getroffen von schrägem Möwenschiß. Ich warf meinen Stock nur noch in die Luft und verursachte damit federstäubenden Aufruhr. Mein Stock verschwand manchmal zwischen