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Woche war es jetzt her, dass Ms Trenton ihr den Umschlag mit Alice’ Buch gegeben hatte, und Jessa war in dieser Woche immer unruhiger und kribbeliger geworden. Jede Nacht hatte sie von diesem Herrenhaus geträumt und jede Nacht war das Gefühl, dass sie Alice dort suchen musste, stärker geworden. Schließlich hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Sie hatte ihr Sparkonto geplündert und sich eine Zugfahrkarte nach Leeds gekauft, wo sie in den Bus in Richtung Haworth umgestiegen war. Dort angekommen, hatte sie versucht, Clarice Galloway aufzusuchen, aber die Bibliothek, in der die Frau arbeitete, hatte geschlossen. Also hatte Jessa dem Impuls nachgegeben und sich auf den Weg nach High Moor Grange gemacht. Sie war in den Überlandbus von Haworth nach Laneshawbridge gestiegen.

      Und hier war sie nun. Auf dem Weg zu einem verfallenen Kasten mitten im Moor. Allein aufgrund eines zerfledderten, alten Buches in ihrem Rucksack und dem vagen Gefühl aus einem jede Nacht wiederkehrenden Traum. Dumm eigentlich und trotzdem fühlte sie sich gerade ganz ähnlich wie beim Roofing auf einem Hochhaus an der Dachkante: ein bisschen ängstlich, ein bisschen euphorisch. Und fast so, als wäre sie endlich wieder lebendig.

      Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen hörte sie zu, wie Billie Eilish davon sang, dass alle guten Mädchen in die Hölle kamen. Auf der rechten Seite des Busses rückten die Berge näher an die Straße heran und Jessa betrachtete die im Nebel nur undeutlich erkennbaren Hänge.

      Eine Frau auf dem Sitz auf der anderen Seite des Ganges war ebenfalls in Haworth eingestiegen. Sie hatte ihr schon die ganze Fahrt über seltsam neugierige Blicke zugeworfen und als sich jetzt ihre Augen begegneten, sagte sie etwas, das Jessa wegen der Kopfhörer nicht verstehen konnte.

      Die Frau wiederholte ihre Frage und zwang Jessa damit, einen der Stöpsel aus ihren Ohren zu ziehen.

      »Wie bitte?«

      »Das stammt aus Sturmhöhe, oder?«, fragte die Frau ein drittes Mal. Diesmal deutete sie auf das Tattoo an Jessas rechtem Arm, das zur Hälfte sichtbar war, weil sie den Ärmel hochgeschoben hatte.

      Jessa betrachtete die in ihre Haut eintätowierten Worte und nickte.

      »Ein wunderbares Buch«, behauptete die Frau.

      Ja, dachte Jessa. Du siehst genau so aus, als würdest du diesen Schinken mögen. Sie zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln und steckte den Kopfhörer wieder ins Ohr.

      Die Frau sah enttäuscht aus. Vermutlich hatte sie auf ein nettes, kleines Gespräch über romantische Literatur gehofft und keine Ahnung davon, was sie mit ihrer harmlos gemeinten Frage an Erinnerungen angestoßen hatte.

      Denn wieder einmal glitten Jessas Gedanken in die Vergangenheit davon, diesmal zu dem Tag, an dem Alice das Zitat in Schönschrift auf ein weißes Blatt Papier geschrieben hatte – als Vorlage für den Tätowierer. Jessa hatte sie dabei beobachtet, und ihr war ein Fehler aufgefallen …

      »Du hast geschrieben yours and mine are the same. Im Buch steht aber his and mine.«

       Alice legte den Füllfederhalter weg und lächelte. »Stimmt.«

       »Warum schreibst du es nicht richtig auf?«

       »Weil es nicht um einen Jungen geht«, sagte Alice. »Ich will diesen Spruch nicht wegen einem Jungen auf der Haut haben.«

      »Warum dann?«, erkundigte Jessa sich.

       »Deinetwegen.« Alice wuschelte ihr durch die Haare. »Damit ich dich nie vergesse.«

       »Du kannst mich nicht vergessen. Wir sind ja immer zusammen.«

       Da lachte Alice. »Stimmt auch wieder! Weißt du, was? Ich habe nachgedacht.«

       »Worüber denn?«

       »Erinnerst du dich noch dran, wie ich dir das Lesen beigebracht habe?«

       »Klar.«

       »Und daran, wie wir darüber geredet haben, dass Menschen eine Seele haben, damit sie lieben können?«

      Auch daran erinnerte Jessa sich. Sie sah ihre Schwester aufmerksam an. In letzter Zeit war Alice ziemlich nachdenklich, fand sie.

       Alice tippte auf das Zitat. »Vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht haben wir beide gar keine eigene Seele.« Sie sah Jessa in die Augen. Ihre eigenen glitzerten ganz sonderbar dabei. »Ich meine, vielleicht haben wir beide uns so lieb, weil wir nur eine Seele haben. Darum müssen wir immer zusammenbleiben! Damit unsere Seele ganz sein kann …«

      Der Bus fuhr durch eine Kurve und das Ruckeln holte Jessa in die Gegenwart zurück. Links von ihnen war jetzt ein lang gezogenes Gewässer aufgetaucht.

      Der Bus hielt am Ende des Gewässers. »Watersheddles Reservoir«, sagte der Busfahrer an.

      Jessa stand auf. Hier musste sie aussteigen.

      »Sind Sie wirklich sicher, dass Sie bei dem Wetter da rauswollen?«, fragte die Frau neben ihr.

      »Ganz sicher«, hörte Jessa sich sagen. Sie war bestimmt nicht den ganzen langen Weg von London bis hierher gefahren, um jetzt, so kurz vor ihrem Ziel, den Schwanz einzuziehen, nur weil es ein bisschen nebelig war.

      Der Blick durch die Sprossenfenster von Christophers Zimmer ging auf das Moor hinaus, aber bei dem Nebel war heute nicht viel davon zu sehen. Die kalten grauen Schwaden zogen vor der Scheibe vorbei, berührten sie mit klammen Fingern, als wollten sie durch das Glas hindurch nach Christopher greifen.

      Er trat einen Schritt zurück und kämpfte gegen all die furchtbaren Erinnerungen, die ihn immer quälten, wenn es neblig war. Vergeblich.

      Ein Gedanke ließ sich einfach nicht vertreiben.

      Wie so oft, wenn … es … geschah, war es nebelig gewesen …

      »Hey!« Adrians Stimme war leise, aber sie durchschnitt die Kette aus schnell aufeinanderfolgenden Schreckensbildern, die durch seinen Geist taumelten.

      Erleichtert drehte Christopher sich um. Sein Bruder stand in der Tür zu seinem Zimmer, unter dem Arm ein hölzernes Schachbrett und in der Hand das Kästchen mit den antiken Elfenbein- und Ebenholzfiguren ihres Vaters.

      »Lust auf eine Partie?«, fragte er. Wie immer hatte er die Kapuze seines Hoodies tief ins Gesicht gezogen.

      Christopher hatte keine Lust auf Schach, aber er wusste auch, dass das konzentrierte Nachdenken über die Spielzüge ihn vom Grübeln abhalten würde. Also nickte er. »Immer.«

      Adrian betrat den Raum. Er schloss die Tür hinter sich mit dem Fuß und sah sich nach einem Platz für das Brett um. Die schwarze Couch und auch der davor stehende Glastisch waren mit getragenen Klamotten und Büchern belegt.

      »Wie es aussieht, müssen wir wohl auf der Erde spielen!«, sagte Adrian mit belustigter Stimme. »Hier sieht es aus wie …« Er verzichtete darauf zu erklären, wie es aussah.

      Christopher atmete tief durch. Dann löste er sich von der Fensterbank und räumte Tisch und Couch frei. Die Klamotten warf er im Schlafzimmer auf das altmodische Himmelbett, die Bücher stapelte er einfach auf dem Boden.

      »Ja«, spottete Adrian. »So ist es definitiv ordentlich.«

      Christopher bleckte die Zähne zu einem Grinsen. »Bau schon auf!«

      Das tat Adrian. Als er fertig war, nahm er die beiden Damen in je eine Hand, tauschte sie hinter seinem Rücken ein paarmal hin und her und hielt Christopher die geschlossenen Fäuste hin. Christopher tippte auf seine rechte Hand und zog damit die weißen Figuren.

      Er setzte seinen ersten Bauern von c2 auf c3.

      Adrian schaute ihn verwundert an. »Die Saragossa-Eröffnung? Wirklich?«

      Christopher lächelte. »Warte es ab. Diesmal werde ich dich damit vom Brett fegen.«

      »Das wäre ja was ganz Neues!« Adrian beugte sich über

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