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und eine heiße Schokolade auf einem kleinen Silbertablett. Sie stellte beides auf den Tisch. Alice nahm den Löffel und drehte ihn unschlüssig in den Händen. »Ich muss was Wichtiges mit dir besprechen«, sagte sie leise.

      Schon seit sie sich hingesetzt hatte, war sie Jessa seltsam bedrückt vorgekommen. Jetzt richteten sich in Jessas Nacken die Haare auf. »Was Schlimmes?« War Alice etwa schwer krank? Seit ihre Eltern gestorben waren, fürchtete Jessa nichts mehr, als eines Tages auch noch Alice zu verlieren.

       Ihre Schwester sah die Sorge in ihrer Miene und lachte auf. »Nein! Nein, nichts Schlimmes, du Angsthase! Ganz im Gegenteil…« Aber trotz dieser Beteuerung zögerte sie, mit der Sprache rauszurücken. »Dr. Myers – na ja, er hat mir vorgeschlagen, nach Yorkshire zu fahren und ein paar Recherchen anzustellen.«

      Mit ihren zwölf Jahren hatte Jessa keine Ahnung gehabt, was Recherchen waren, aber das war auch egal. Dr. Myers war Alice’ Professor, das wusste sie. Und noch etwas hatte sie sehr wohl verstanden: Alice würde wegfahren! »Für wie lange?«, fragte sie und ihre Stimme klang ein bisschen wie die einer Maus.

       In Alice’ Gesicht erschien ein schwaches Lächeln. »Nur ein paar Tage. Ich gehe in das Archiv, schaue mir ein paar Briefe von diesem Maler an, über den ich eine Hausarbeit schreiben muss, und dann komme ich auch schon wieder. Du wirst kaum merken, dass ich weg bin!«

       »Versprochen?«

      »Versprochen!« Ihre Schwester nahm den Teebeutel aus ihrem Glas, drückte ihn aus und legte ihn auf den Unterteller. Jessa starrte auf das Tattoo an Alice’ Arm. Whatever our souls are made of … Die Haut rings herum war noch immer ein bisschen gerötet. Das Tattoo war erst wenige Tage alt.

      Alice’ Worte hatten Jessa noch nicht beruhigt. »Du kommst bestimmt wieder? Du machst dich nicht einfach vom Acker, so wie Mum und Dad?« Ihr schossen Tränen in die Augen beim Gedanken an ihre toten Eltern, und ein bisschen wütend über sich selbst, wischte sie sie weg.

      Alice langte über den kleinen Tisch, nahm Jessas Hand und hielt sie ganz fest gedrückt. »Ich komme immer wieder, das weißt du doch!«, behauptete sie

      Es war eine Lüge gewesen.

      Zwei Tage später war Alice nach Yorkshire aufgebrochen.

      Und nie wieder zurückgekehrt.

      Allein bei der Erinnerung daran loderte es in Jessa so stark, dass ihr beinahe schlecht davon wurde. Um sich nichts anmerken zu lassen, starrte sie auf die Platte von Ms Trentons Schreibtisch, umklammerte ihren linken Arm und grub die Fingernägel tief ins Fleisch.

      »Ich habe Alice nicht verloren«, flüsterte sie. »Sie hat mich im Stich gelassen.«

      »Ja«, murmelte Ms Trenton. »Ja. Ich weiß, dass du das so sehen musst, um damit wenigstens einigermaßen klarzukommen. Aber ich weiß auch, wie sehr du darunter leidest, Jessa. Das ist der Grund, warum ich dir deine permanenten Grenzüberschreitungen immer wieder durchgehen lasse. Wut ist aber nicht der richtige Weg, um Trauer zu verarbeiten.«

      »Das heißt?«, fragte Jessa.

      »Das heißt, dass du für deinen Ausflug auf dieses Dach nicht bestraft wirst. Aber um einen Termin bei Dr. Clarke kommst du diesmal nicht herum, meine Liebe!«

      »Das ist eine Bestrafung!«

      »Möglich.« Ms Trenton nickte. »Aber ich mache das nicht nur wegen deines kleinen Ausflugs heute, sondern noch aus einem anderen Grund.« Sie griff nach einem dicken, wattierten Umschlag, der neben ihrer Schreibtischunterlage lag. »Der hier ist heute angekommen.« Sie reichte ihn Jessa.

      Und die zuckte unwillkürlich zusammen.

      Der Umschlag war an Alice Downton adressiert. Und er kam aus Yorkshire.

      Feiner Nieselregen ging über den Mooren von Yorkshire nieder und rann Christopher über Wangen und Genick. Es fühlte sich an, als würden ihn tausend winzige, eiskalte Hände streicheln. Er unterdrückte ein Frösteln und setzte seinen Weg fort. Vorbei an den Gräbern des kleinen Friedhofs, der zu High Moor Grange, dem Landsitz seiner Familie, gehörte. Vorbei an all den Namen auf den uralten Steinen. Von den Menschen, die hier lagen, konnte ihm keiner gefährlich werden und doch schauderte es ihn. Ein paar von ihnen waren geboren worden, nachdem er selbst schon längst in der kalten Erde hätte ruhen sollen.

      Bei einem der Gräber blieb er stehen.

      Heather.

      Geliebte.

      Kein Nachname. Kein Geburts- und auch kein Todesdatum.

      Mit zusammengebissenen Zähnen trat Christopher dicht vor das Grab hin. Von hier aus konnte man weit über das Moor schauen, das Heather so sehr geliebt hatte. Auch im Regen leuchtete das Violett der blühenden Heide genauso flammend wie an dem Tag, an dem Heather gestorben war.

      Christopher seufzte, weil er glaubte, das Moor nach ihm rufen zu hören. Komm zu mir! Wehr dich nicht länger

      Leise Schritte ertönten hinter ihm. Er drehte sich nicht um. Er wusste auch so, dass es sein Bruder Adrian war, der zu ihm trat. Adrian, ganz in Grau gekleidet und mit einer Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, um die Welt vor seinem Anblick zu schützen.

      »Hast du keine Angst, dass du bei dem Wetter Sonnenbrand kriegst?«, fragte Christopher betont leichthin.

      Adrian schnaufte. »Ist heute wieder so ein Tag?« Seine Stimme war das Rascheln uralter Papierseiten. Die Ruhe, mit der er sprach, fühlte sich an wie eine Nadelspitze, die an Christophers Nerven entlangfuhr. Er selbst hatte ständig das Gefühl, schreien zu müssen.

      Er wandte den Kopf und warf seinem Bruder einen Blick zu. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

      »Ich rede von deiner Spottlust, Christopher.«

      »Das ist keine Spottlust. Es ist reiner, wohltuender Zynismus.«

      »Du fühlst dich wirklich besser, wenn du spottest, oder?«

      Nein!, dachte Christopher automatisch. Doch laut sagte er: »Zynismus bedeutet, die Dinge so zu betrachten, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten.«

      »Oscar Wilde zu zitieren, macht es nicht besser!«, rügte Adrian.

      »Stimmt, aber immerhin lässt es einen tragisch wirken.« Jetzt drehte Christopher sich um. Der Regen hatte auch Adrian durchnässt. Wie Christopher vermutet hatte, war das Gesicht seines Bruders unter der Kapuze verborgen. Adrian vermied es so gut es ging, ihm seinen Anblick zuzumuten. Christopher wusste, dass er ihn damit schützen wollte, und manchmal rührte ihn die Sinnlosigkeit dieser kleinen Geste. Du musst das nicht tun, wollte er sagen. Aber Adrian wusste, dass er das dachte. Es war nicht nötig, es auszusprechen.

      »Du siehst erschöpft aus«, sagte Adrian.

      »Ich sehe erschöpft aus?« Christopher stieß ein trockenes Lachen aus. Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen! Auch das sprach er nicht aus. Stattdessen meinte er: »Aus deinem Mund klingt das wie ein schlechter Witz.«

      »Ich dachte mir, ich übernehme zur Abwechslung mal deine Rolle.«

      Es steckte so vieles in diesem einen Satz, dass Christopher die Zähne zusammenbeißen musste, um all die Emotionen – den Schmerz, die Schuldgefühle, den Selbsthass – auszuhalten.

      »Tut mir leid«, murmelte Adrian. »Du weißt, wie ich das gemeint habe. Aber ich durchschaue dich, Bruderherz. Das vergisst du immer wieder. Ich weiß, dass kein Spott und keine noch so geistreiche Bemerkung von dir diesen Schmerz in dir lindern können.«

      »Du unterschätzt meine Kreativität.«

      Diesmal schnaubte Adrian nur.

      Minutenlang schwiegen sie, starrten gemeinsam auf den Grabstein.

      »Fünf Jahre ist es jetzt her, dass Alice …« In Adrians Stimme krächzte das lange Schweigen. »In letzter Zeit frage ich mich immer häufiger, was passiert, wenn

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