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zu vollziehen, Exorzismus durch Exzess gewissermaßen. Noch krasser als Tristan demonstrierte Penthesilea, wenn sie Achills Leiche mit den Zähnen zerfleischte, die Quintessenz der romantischen Verblendung: Tod. Die extreme Spannung zwischen Identifikation und Distanz, der innere Krieg, den sie mit sich führte, verlieh ihrem Spiel eine unmittelbare Wirkung, die alle Kritiker begeisterte. Von einer »titanischen schauspielerischen Leistung« war in der ZEIT die Rede.

      Kurz vor Weihnachten starb Fred, und sofort standen die Gespenster der Vergangenheit mit auf der Bühne. Sie fuhr mit dem Vorsatz nach Mainz, den Gespenstern endlich ins Auge zu sehen, doch das eine Gespenst, auf das sie am meisten hoffte, kam nicht aus der Versenkung. »Ich habe mir von Egon deine Nummer geben lassen und ein paarmal bei dir angerufen, aber du warst nie da.« Wieder brummte Bo. »Doch, ich war da«, sagte er, »aber ich bin nicht drangegangen. Ich dachte, es ist meine Mutter.« Er schüttelte den Kopf. »Da war ich vermutlich schon nicht mehr zu erreichen. Von niemand.«

      Sie schwiegen lange. Neumünster-Süd strich vorbei. Großenaspe. Sofies Stimme klang verändert, als sie sagte: »Als ich wieder in Hamburg war, ist in der selben Nacht – da gab es für mich gar keinen Zweifel – Leni gezeugt worden. Es war, als ob das Glück, das dieser Augenblick hatte …«, sie stockte, »als würde darin ein großer Schmerz einfließen.« Wieder schwieg sie. »Du bist für mich mit meinen beiden Töchtern verbunden. Von Anfang an.«

      Bo schnaufte und sagte nichts.

      Mit der neuen Schwangerschaft war klar, dass es für sie bis auf weiteres keine zweite Spielzeit geben würde. Und die erste brachte sie innerlich gespalten zu Ende. Sie hatte in einem künstlichen Raum etwas mit aller Konsequenz ausagiert und dadurch im Leben eine tiefere Klarheit gewonnen: Wollte sie einen Lebensweg gehen oder eine Titanin der Bühne werden? Ließ sich das verbinden? Schloss es sich aus? Musste sie jetzt noch die Medea spielen? War das Schauspielen ein Weg, ihr Weg, zur eigenen Wahrheit, oder war es der Weg daran vorbei? Sie wusste es nicht.

      Nach Lenis Geburt schien sich die Geschichte zu wiederholen. Sie war unendlich fasziniert von der Kleinen und ihrer älteren Schwester, diesen Wesen, die auf ihren Ruf hin gekommen waren, sie wusste nicht, woher und warum, aber jetzt waren sie da, ihr anvertraut, in ihre Hand gegeben, und sie wollte dieses Vertrauen rechtfertigen und ihnen, ja, eine gute Mutter sein, auch wenn sie darunter nicht die dumpfe Gluckenexistenz verstand, die sie bei manchen Frauen sah und die ihre eigene Mutter ihr mit stillem Grausen unterstellte, weshalb sie sehr selten aus Frankfurt zu Besuch kam und, wenn, keine Hilfe war. Gerade in dieser ersten Zeit, wo die kleine Seele noch nicht auf der Erde Fuß gefasst hatte und Sofie in den dunklen Augen des Kindes die Nacht erblickte, aus der es kam, gab es für sie nichts Schöneres und Erregenderes, als sich zwischen den immergleichen täglichen Verrichtungen – stillen, wickeln, anziehen, ausziehen, herumtragen, beruhigen, einschläfern, schäkern – ahnend, tastend diesem anderen Schicksal zu nähern, das dabei war, sich immer stärker mit ihrem eigenen zu verflechten. Wer bist du? Wer bin ich? Warum bist du zu mir gekommen? Gregor verlor irgendwann die Geduld. Die Aufmerksamkeit, die sie ihm im Bett entzog, war das eine, aber was ihn noch stärker angriff, war ihre Weigerung, möglichst rasch an die Bühne zurückzukehren. Sie müsse die Kraft ihrer jungen Jahre nutzen, dürfe ihr großes Talent nicht vergeuden. Sah er denn ihre andere Kraft überhaupt nicht? Ihre Kraft des Lebens.

      Ja! Genau! Ganz genau! Die Verbindung von Kunst und Leben, das ist es doch, woran sie schon vor Jahren gemeinsam geknackt haben, versichern sie sich gegenseitig lachend und händedrückend und schulterrubbelnd und sich an der roten Ampel schräg umarmend, als wirklich alles alles erledigt ist, gepackt und geplant und mit Gregor und der Kinderfrau abgesprochen, die Milch abgepumpt und die beiden Kleinen noch einmal geherzt und der Mann dankbar geknuddelt, und sie endlich im Auto sitzen und die Fahrt endlich losgeht, endlich endlich. Kein alltagsferner Hochleistungszirkus einiger Auserwählter für die Masse der passiven Konsumenten, sondern Kunst als aktive Lebensgestaltung, Menschen verbindend, Gemeinschaft stiftend. Magie? Ja, von ihr aus auch Magie! »Ach, Luzie!«, ruft Sofie und umhalst die Freundin noch einmal an der letzten Ampel vor der Autobahn. »Diesmal machen wir ernst, ganz bestimmt!« Sie dreht das Fenster herunter, als sie anfahren, und lässt ihren roten Seidenschal im Wind flattern. »Mit fliegenden Fahnen!«, jubelt sie, und Luzie antwortet mit dem lauten Trillern, das sie sich von den Frauen in Afrika abgehört hat, reckt die Faust. »Bandiera rossa!«, ruft sie, und gemeinsam singen sie mit überschnappenden Stimmen:

      Bandiera rossa la trionferà.

      Bandiera rossa la trionferà.

      Bandiera rossa la trionferà.

      Evviva il comunismo e la libertà!

      Das war vor zehn Jahren ihr Lieblingslied auf den Häuserkampfdemos, an denen die frisch politisierten Schülerinnen mit fünfzehn, sechzehn hocherregt teilnahmen. Sie gingen zwar in eine Klasse, aber richtig zu Freundinnen wurden sie erst, als sie mit den deutschen und italienischen Hausbesetzern und ihren Unterstützern untergehakt durch die Straßen des Frankfurter Westends liefen, revolutionäre Parolen schrien und Arbeiterlieder sangen. Später mischten sie eine Zeit lang im Frauenzentrum mit, Luzie länger, Sofie kürzer, fuhren nach dem Auseinanderbrechen von Sofies Band zusammen in den Senegal, ein Jahr später an die Elfenbeinküste, und als sie 1977 in der Walpurgisnacht weißgeschminkt durch Hamburg zogen und sich als die neuen Hexen fühlten, die sich von den Männern nicht mehr das Recht nehmen ließen, sich nachts auf den Straßen frei zu bewegen, da sahen sie sich einmal kurz an und hatten beide sofort ihr altes »Avanti popolo« auf den Lippen, und das libertà! im Refrain sangen sie mit besonderer Inbrunst. Hinterher fuhren sie mit drei anderen Frauen an den Mönchteich im Osten der Stadt und waren sich einig, dass sie von nun an verstärkt verschütteten weiblichen Traditionen nachgehen und Ausdrucksformen weiblicher Lebenskraft aus anderen Zeiten und Kulturen auf ihre Weise wiedergewinnen wollten. Luzie war da gerade nach Bremen gezogen, und sie stellten sich vor, sich häufig zu sehen, Sachen zusammen zu machen, gemeinsam etwas zu bewegen. Dann gingen die Lebenswege auseinander. Luzie wurde völlig vereinnahmt von der neuen Stadt und der neuen Stelle als Kostümbildassistentin, ihre erste feste Anstellung nach dem Studium in Offenbach, und Sofie war ein Jahr später schon Mutter und bald darauf ihrerseits davon vereinnahmt, sich als Schauspielerin einen Namen zu machen. So sehr der Gedanke an die Freundin immer wieder an ihr nagte, das Leben war einfach zu voll, die Verbindung nicht zu halten, und das Wort von den neuen Hexen, die sie werden wollten, wurde nie mit Inhalt gefüllt. Der Anruf vor zwei Wochen war daher eine Riesenüberraschung und eine Riesenfreude – zumal er genau zum richtigen Zeitpunkt kam.

      »Besser hättest du es gar nicht timen können«, wiederholt Sofie, was sie letztens schon am Telefon gesagt hat. »Es ist so viel passiert in diesen vier Jahren, so viel ist wirklich gut gelaufen bei mir, und trotzdem – das ist mir im Winter klargeworden – stehe ich im Grunde am selben Punkt wie damals und habe immer noch keine Antwort auf unsere große Frage, wie wir heute als Frauen leben können. Welche Kräfte müssen wir wachrufen, welche Formen müssen wir finden, um in dieser kaputten Männerwelt nicht einfach mitzuschwimmen oder unterzugehen?« Luzie nickt nachdrücklich. So ähnlich ist es ihr auch gegangen, als ihr vor einiger Zeit im Frauenbildungshaus diese Broschüre über den Frauenhof im Weserbergland und die Jahreskreisfeste, die sie dort feiern, in die Hand gefallen ist. Die Idee, dass das Spirituelle selbst politisch ist und durchaus kein Eskapismus, keine Flucht vor dem politischen Engagement, gefällt ihr total. Das patriarchale lineare Denken mit seinem ewigen Mehrmehrmehr, größer besser höher schneller weiter, immer weiter auf der geraden Bahn von Leistung und Erfolg, von Fortschritt, Welteroberung und unendlichem Wirtschaftswachstum, das soll nicht nur theoretisch hinterfragt und politisch bekämpft werden, weil es mit brachialer phallischer Gewalt die zyklische Ordnung des Lebens zerstört und in letzter Konsequenz die Grundlage des Lebens überhaupt, die Erde selbst, nein, den Frauen geht es mit ihren Festen ganz praktisch darum, sich als kraftvolle Mondfrauen zu realisieren, die durch ihren Monatszyklus von selbst mit dem Kosmos und seinen Gesetzen verbunden sind. Es ist ein ebenso politischer wie spiritueller Akt, sich bewusst wieder einzugliedern in den großen Kreis und im Jahreslauf die kosmische Ordnung als inneren rhythmischen Vorgang zu erfahren. Das allumfassende Bild dafür ist die dreifaltige Göttin. Ihren drei Erscheinungsformen als junge, reife und alte Frau entsprechen die Lebensphasen wie auch die Jahreszeiten, so dass die weiße Göttin das Treiben und Blühen des Frühlingserwachens

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