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will auf einem freien Weg ins Unbekannte gehen, in eine offene Zukunft, die aus einer offenen Vergangenheit kommt. Mit falschen Sicherheiten nehmen wir uns bloß die Kraft, diesen Weg mit eigenen Füßen zu gehen. Verstehst du das?«

      Bo legte die Gabel ab. »Und ob ich das verstehe«, sagte er. Sein Blick war erstaunt. »Es ist ein bisschen, als ob du mir meine eigenen Gedanken erzählst. Das mit dem Willen zur Unsicherheit kenne ich sonst eigentlich nur von mir.« Was ihn betraf, so war er auf seiner Athosfahrt vor Jahren zu dem Schluss gekommen, dass er die überlieferte Weisheit, die geistige Führung, die Glaubensgewissheit, die kultischen Handlungen, die brüderliche Gemeinschaft, die ganzen über viele Jahrhunderte bewährten festen Formen des Mönchslebens zwar achten, ja bewundern, aber nicht übernehmen konnte, selbst wenn er es wollte. Es ging nicht. Er konnte sich kein Kostüm anziehen, und wenn es ihm noch so gut gefiel. Dieses nicht und auch kein anderes. Er musste die Formlosigkeit aushalten, und wenn er jemals zu einer Form fand, die für ihn stimmte, dann allein aus gelebtem, sei es formlos gelebtem Leben. »Im Moment gibt es für mich nur eine einzige Sicherheit: dass ich ungesichert mit dir zusammengehen will.«

      Sofie stand auf, setzte sich vor ihm auf dem Boden, legte ihm den Kopf auf den Schoß. Eine Weile blieb sie so, streichelte seinen Schenkel. Dann blickte sie zu ihm auf. »Mein Frauenkreis ist aus dem Impuls heraus entstanden, mich mit anderen Frauen so zu verbinden, wie wir wirklich sind, nicht wie wir gerne wären. Welche Kräfte finden wir wirklich in uns, so wie wir sind, welche Formen können daraus entstehen? Formen, die wir mit dem Herzen tragen können, die uns nicht im stillen peinlich sind. Die den Alltag durchdringen und bereichern und nicht nur ein kurzzeitiger Ausbruch aus dem Alltag sind, in den wir hinterher wieder abstürzen, wenn uns die Hochgefühle nicht mehr tragen. Der Weg dazu, mein Weg, schien mir das Singen zu sein, das Singen in einer Gruppe von Frauen, die ihr Leben in die Hand nehmen wollen. Wenn wir auf die Stimmen lauschen, so wie sie wirklich sind, dachte ich, ist es, als ob wir gemeinsam einen Weg gehen. Einen Weg bauen. Einen Weg ins Dunkel.« Sie legte den Kopf auf seinen Schoß zurück.

      »Ein Weg ins Dunkel«, wiederholte Bo. Er strich ihr durchs Haar.

      »Ein Weg ins Dunkel unseres wirklichen Lebens«, murmelte sie ihm in die offene Hand. »Vielleicht wird es ja mit der Zeit von selbst hell, von innen heraus. Ohne künstliche Beleuchtung.«

      »Okay, Luzie, vieles ist nah dran an dem, was mir auch am Herzen liegt«, sagt Sofie, »aber knapp daneben ist auch vorbei.«

      Beim Aufbruch haben sie es offengelassen, ob sie weiter mitmachen und zum Sommerfest wiederkommen wollen, doch kaum ist der Frauenhof hinter der ersten Kurve verschwunden, wächst auch der innere Abstand. Luzie hat die Zeremonien und Weltfriedensgesänge nicht in dem Maße als peinlich empfunden wie Sofie. Göttin als Wort für die Lebenskraft, die kosmische Energie oder so, ist für sie ganz in Ordnung, sie muss sich dabei keine alte Frau mit weißem Dutt im Himmel vorstellen. Sie hat es mehr gestört, dass die lesbischen Frauen in der Gruppe so getan haben, als würden sie mit ihrer Liebesentscheidung als einzige das richtige Leben im falschen führen. Sie könne sich ja mal umschauen, meint sie, ob es ähnliche Projekte gibt, die vielleicht ein bisschen »biologistischer« sind, wo man nicht schief angeschaut wird, wenn man sagt … wenn frau sagt … dass sie lieber mit Männern ins Bett geht.

      Sofie erwidert das Grinsen der Freundin. Bei Luzies Pagenkopf und ihrer burschikosen Art ist es verzeihlich, wenn die Lesben sich in ihr geirrt haben. Sie überlegt kurz, schüttelt den Kopf. »Nein, Luzie, lass uns was Eigenes machen. Eines hat das Wochenende ganz sicher für mich gebracht: ich weiß jetzt genau, wie wichtig mir das Thema ist, ich kann da keine Kompromisse machen und mich mit Halbheiten abfinden, die für mich nicht stimmen«, und als sie in Hannover am Bahnhof vorfahren, wo Sofie den Zug nach Hamburg nehmen will, sind die wesentlichen Entscheidungen gefallen. »Keine kommerzielle Veranstaltung, kein therapeutischer Ansatz, kein ideologischer Überbau«, fasst Luzie am Bahnsteig kurz und knackig die Ergebnisse ihres einstündigen Brainstormings im Auto zusammen. »Keine Trennung vom Alltag«, fügt Sofie hinzu. Der Zug fährt ein, sie umarmen sich.

      So machen sie es. Im Lauf der nächsten Monate führen sie lange Gespräche mit Freundinnen, und alle sind angetan von der Idee, sich regelmäßig viermal im Jahr mit anderen Frauen, teils schon bekannt, teils noch kennen zu lernen, für ein langes Wochenende zu treffen, ohne professionellen Anstrich und ohne den Anspruch, hinterher irgendwelche vorzeigbaren Produkte oder Programme abzuliefern. Sie wollen zusammen singen, aber nicht als Chor öffentlich auftreten, sie wollen zusammen nachdenken, aber keine Thesen in die Welt setzen, sie wollen sich öffnen und füreinander da sein, aber niemanden therapieren, sie wollen feiern, ohne die Augen vor dem Alltag zu verschließen, und Kräfte freisetzen, die in diesen Alltag hineinwirken, ihn im kleinen verändern, in den Familien, in den Arbeitszusammenhängen, in den Freundeskreisen. Der Gedanke des Jahreskreisfestes gefällt allen, der Aufmerksamkeit auf den Rhythmus des Jahres und des Kontakts zu einer natürlichen Lebensordnung, die sie sich aber nicht unbedingt im Bild einer Göttin vorstellen müssen. Zum Herbstanfang findet das erste Treffen in einem Anglerheim bei Lauenburg statt.

      Kraftquelle, Orientierungshilfe, Gemeinschaftserlebnis, Inspiration, Hocherfahrung – von Mal zu Mal gewinnt das Fest im Leben der Frauen, die anfangs zu neunt sind und über die Jahre nie mehr als zwölf werden, neue Facetten, größere Bedeutung. »Ihr seid mein Dorf!«, erklärt Lydia, die ukrainischer Abstammung ist und traditionelle mehrstimmige Gesänge in die Gruppe einbringt. Aus den vielstrophigen ukrainischen Liedern werden im Aneignungsprozess wenige lautmalerische »Sätze« in einer Phantasiesprache, zu der Sofie die anderen ermutigt. Sie verwendet zwischen den Treffen viel Zeit und Energie darauf, singbare Weisen zu komponieren, mit denen sich spielen lässt, zapft ihren unerschöpflichen Vorrat an afrikanischen Liedern an und bearbeitet diese für die Zwecke der Gruppe. Wenn sich ihr irgendwoher ein Text zuspricht, nimmt sie ihn und arbeitet damit, Verse aus Gedichten von Karin Kiwus, die sie gern liest, oder von Else Lasker-Schüler. Die Gruppe wandelt die Texte ab, zersingt die Worte zu Lauten. Diejenigen, die Chorerfahrung haben und die Art zu singen gewohnt sind, verlieren mit der Zeit ihre Kunststimme. Es geht nicht um äußere Perfektion, alle Töne sind gefragt, von den rauesten zu den reinsten. Die gesungenen Laute werden breiter, erdiger, mundartlicher, verlieren ihre hochdeutsche Blässe. Mit der Erfahrung wird der Umgang freier, die Hemmschwellen sinken. Trotzdem spürt Sofie, dass sie noch etwas anderes will. Was? Die Elemente sind alle da: sich austauschen, zusammenfinden, gemeinsam kochen und essen, singen und tanzen; eine Gemeinschaft werden. Wäre eine größere Unmittelbarkeit denkbar, mehr Spontanität, mehr Intensität? Mehr … Theater?

      Unterdessen versucht Gregor, sie zur Rückkehr auf die Bühne zu bewegen. Dass Sofie in ihrer Frauengruppe auflebt und Kraft daraus zieht, ist ja ganz prima, aber die Kraft muss in die richtigen Kanäle fließen. Wenn sie eine neue Inspiration braucht, vielleicht noch mal nach Abidjan wie vor einigen Jahren und in die quirlige ivorische Theaterszene eintauchen, dann hätte er nichts dagegen, gemeinsam mit ihr und den Kindern in der Spielpause im Sommer an die Elfenbeinküste zu fahren, so ein Mix aus Kulturtrip und Badeurlaub würde wahrscheinlich allen gut tun. Dann kommen ihm dringende Verpflichtungen dazwischen und die Reise fällt ins Wasser. »Abidjan? Da war ich vor kurzem erst«, bemerkt Sofies Vater, der zwischen zwei Rundfunkterminen beim NDR auf einen Kurzbesuch vorbeikommt und, als die Tochter nachfragt, von seiner mehrwöchigen Reise durch Ghana und die Elfenbeinküste erzählt, wo er für den WDR eine Radiosendung über weibliche Gesangstraditionen bei verschiedenen westafrikanischen Völkern gemacht hat. Gesendet wird sie erst im August, aber er kann Sofie ja schon mal das Band schicken, wenn es sie interessiert. Ja, sehr! Gespannt lauscht sie den Erklärungen, die ihr Baaba über Nnwonkoro, Ayabomo, Dansuom und Adowa bei den Akan, Nzima und Ga gibt. Allgemein sind durchweg die Frauen für den öffentlichen Ausdruck der Gefühle zuständig und begleiten auch die meisten Riten und Übergangszeremonien mit ihren Liedern, das weiß Sofie ja selber. Ihr Stoff können Mythen, Träume, aktuelle Ereignisse, alles mögliche sein. Aber es gibt interessante neuere Entwicklungen; einige sieht er durchaus kritisch. Ayabomo zum Beispiel. Das ist zwar bei den Nzima ein alter Brauch, der es den Frauen ermöglicht, Missstände anzusprechen und eheliche Probleme öffentlich zu machen, ohne befürchten zu müssen, dafür von den Männern geschlagen zu werden, aber seit einiger Zeit nutzen die Frauen ihn verstärkt, um nicht nur gleiche Rechte und anständige Behandlung, sondern auch einen modernen Lebensstandard mit

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