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fünf Tage. Ich könnte nun erzählen, daß ich auf einem solchen Zuge nach Paris gefahren bin. Aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, muß ich gestehen, daß ich es nicht mit voller Bestimmtheit behaupten kann. Ich habe so intensiv an diesen Zug gedacht, ich habe diese Waggons mit grunzenden Schweinen in so vielen Nächten vor mir gesehen, ich kenne den engen Sitz des Wärters, der nur durch eine schmale Holztür abgeriegelt ist, ich habe die endlose Dauer dieses langsam hinkriechenden Zuges – mindestens in meiner Phantasie – so oft und so lebendig empfunden, daß ich heute nicht mehr mit voller Bestimmtheit zu sagen vermag: bin ich in diesem Schweinezug gefahren, oder habe ich es nur geträumt oder gefürchtet? Habe ich es erzählt, weil es so gewesen ist, oder habe ich es erzählt, weil es so hätte gewesen sein können? Es hat in meinem Leben eine Menge Situationen gegeben, die, wenn ich sie oft geschildert habe, ihre wirklichen Konturen und Farben allmählich geändert haben. Wenn ich frei und ungezwungen erzählen soll, wie ich nach Paris gekommen bin, so würde ich die Reise im Schweinezug zum besten geben. Wenn ich aber vor mir selber einen Eid auf die Richtigkeit meiner Erzählung ablegen müßte, so würde ich zu stottern beginnen. Sei es wie es sei, an einem Herbsttage in der ersten Hälfte der neunziger Jahre kam ich in Paris an.

      Düsteres Paris

      In meinem ganzen Leben bin ich dem Tode nicht so nahe gewesen wie mit achtzehn Jahren, damals in Paris. Nie ist mein Himmel schwärzer, sonnenloser gewesen als um diese Zeit. Überblicke ich meine Lebensreise, so ist es, als werde der Himmel über mir von Jahr zu Jahr heller und blauer. Haben diese inneren und äußeren Kämpfe einen Sinn gehabt, so kann es nur einer gewesen sein: Ich habe mir meine Heiterkeit erkämpfen müssen, und erst als ich halbwegs erwachsen war, so um das fünfzigste Lebensjahr herum, war dieser Kampf um die Heiterkeit entschieden. Damals, zwischen dem achtzehnten und neunzehnten Jahr, war mein Himmel ganz schwarz verhängt.

      Ich wohnte in dem Proletarierviertel Belleville, in demselben kleinen Hotel wie mein Wiener Freund, der Monteur Huber. Das sagt sich so leicht: Proletarierviertel Belleville. Aber ich kam aus dem Wiener Bürgertum, wenn auch aus einem verarmten, war gewohnt an helle Wohnräume und vor allem an eine selbstverständliche Sauberkeit und Ordnung. Die Pariser Vorstädte mit ihren alten, steilen, finsteren, viel zu engen Gassen bedeuteten auch für Freund Huber eine Hölle. Täglich ärgerte mich das Rinnsal in den holprig gepflasterten Straßen, in das die Frauen Kübel von Schmutz, Wasser und sonstige Unsauberkeiten mit einer Ungeniertheit ohnegleichen gossen. Unsagbar die tapetenzerrissenen bräunlichen Stuben des Proletarierhotels, in dem ich für fünf Franken wöchentlich hauste. Ein Schrank, ein Tisch, ein Sessel, ein Bett. Statt des Fensters eine Glastür, die bis zum Boden reichte und durch die im Herbst ein scharfer Wind hereinpfiff. Der Korridor so eng, daß zwei Personen, wenn sie einander begegneten, sich dünn machen und an die Wand lehnen mußten, um passieren zu können. Schauerlich die Klosetteinrichtungen. Die wichtigsten Verrichtungen mußte man stehend vornehmen, es fehlte damals – übrigens auch heute noch vielfach – an Sitzaborten. So wird der philosophischsten Beschäftigung jede Behaglichkeit geraubt. Aus diesem Elendshotel floh ich am Morgen, nur nachts war ich in meinem Stübchen. Kein Mensch besuchte mich. Ich glaube, in diesem Pariser Jahre habe ich keine drei Briefe empfangen. Es war ein Jahr mönchischen Lebens. Vormittags lief ich in die Bibliotheken und studierte Proudhon, den philiströsen Erzvater der Anarchisten, nachmittags suchte ich Material zu einer eigenen Arbeit zusammen. Was beschäftigte mich?

      In dem Kopf eines jungen Menschen hat nicht eine Philosophie Platz, sondern dreißig Philosophien liegen mehr oder minder ungeordnet neben- oder übereinander. Mein letzter starker Eindruck in Wien war der Philosoph Philipp Mainländer; er hat sich einen Schüler Schopenhauers genannt, weil er sich vom Pessimismus des großen Frankfurters ergriffen fühlte. Aber es lag ein Wertherelement in Mainländers wehleidiger Philosophie der Erlösung. Er selbst hat durch Freitod geendet, und der Gedanke an den Selbstmord ist mir damals Nacht für Nacht durch den Kopf gegangen, nur war ihm die Waagschale gehalten durch einen unwillkürlich sozialen Gedanken. Sterben? Ja, gern, aber das Leben auf irgendeinem Altar niederlegen, es nicht einfach wie Spülwasser in das Pariser Rinnsal schütten, sondern mit seinem Tode einer Idee dienen. Damals hatte ich auch die ersten Schriften von Nietzsche gelesen. Der Begriff des Heroischen hatte sich in meinem Schädel eingenistet.

      Um diese Zeit ereigneten sich in Frankreich eine Reihe von anarchistischen Attentaten. Ein wilder Südfranzose, Ravachol, der Münzverfälschung und der Bombenwerferei angeklagt, hatte Frankreich belustigt, indem er auf die Frage des vorsitzenden Richters, woher er denn das Recht hernähme, Zwanzigfrankstücke zu fälschen, erwiderte: »Fälschen? Meine Zwanzigfrankstücke hatten mehr Goldgehalt als die der Bank von Frankreich.« De facto waren die Kupferlegierungen Ravachols goldreicher als die des französischen Staates, und dabei konnte er noch immer ein gutes Geschäft machen. Aber Ravachols Kopf war ohne eigentlichen Märtyrerglanz. Der strahlte um das Haupt eines anderen Attentäters, mit dem ich mich irgendwie seelenverwandt fühlte: der einundzwanzigjährige Emile Henri hatte in ein Café eine Bombe geworfen und einige Menschen schwer verletzt. Befragt, warum er auf diese Leute, die er nicht kannte und die ihm nichts angetan, die Bombe geschleudert, erwiderte er mit leiser Stimme: »Sie saßen so selbstzufrieden hinter den Glasscheiben des Cafés.« In der Verantwortung Henris tauchte immer wieder der Gedanke auf: die Gleichgültigen sind die Schuldigen! Es gilt, die stumpfen Seelen aufzuschrekken; man muß sein Leben opfern, um die Herzen aufzurütteln. Neutral zu sein, ist eine Schuld! … Emile Henri wurde zum Tode verurteilt. Sein Schicksal ging mir nahe wie der Tod eines Freundes. Ich selbst war in ihm angeklagt, ich selbst war in ihm verurteilt. Ich verschaffte mir das Bild Henris. Eine edle Trauer malte sich in dem Gesicht dieses, wie ich heute erkenne, nervenkranken Jünglings. Es gelang mir, Tagebücher Emile Henris aufzustöbern, ich las sie mit brüderlichem Herzklopfen. Gleich der erste Satz in den Tagebüchern war mir aus der Seele geschrieben: »Früher konnte der Mensch, den das Leben anekelte, ins Kloster gehen, heute bleibt ihm nichts übrig als das Spital und das Gefängnis.« Damals trug ich mich mit dem Gedanken, das Leben Emile Henris zu beschreiben; er ist heute vollkommen in Vergessenheit geraten. Das Opfer seines hingeworfenen Lebens ist nutzlos vertan. Kaum für acht Tage hatte er die Bürger erschreckt. Die Selbstzufriedenheit der Phantasielosen ist nicht zu durchdringen. Das Tagebuch Emile Henris ist später veröffentlicht worden in der Zeitung des Kommunisten Jean Grave, eines heute auch vergessenen Revolutionärs, dessen Bedeutung vor allem darin bestand, daß er die Arbeiterschaft von der Teilnahme am parlamentarischen System abzuhalten suchte. Sein berühmtes Flugblatt »Greve des electeurs« – Streik der Wähler – habe ich damals ins Deutsche übersetzt und an Gustav Landauer nach Berlin geschickt. So begann eine Freundschaft, die fünfundzwanzig Jahre gebraucht hat, um wieder abzusterben.

      Es machte mir nichts aus, daß ich ein Leben der bittersten Entbehrungen lebte, eigentlich nährte ich mich nur von dem köstlichen Pariser Weißbrot und von gedörrten Pflaumen. Niemals habe ich in diesem Pariser Jünglingsjahr das Paris der Boulevards, das Paris der großen Vergnügungsstraßen, das Paris der entzückenden Umgebungen, geschweige denn das Paris der eleganten Leute auch nur mit einem Blick gesehen. Ein einziges Mal habe ich Montmartre gestreift. In Wien hatte ich einen jungen Sozialisten kennengelernt, der wie ich eine heroisch betonte Bewegung wünschte. Er wohnte bei seinen reichen Eltern in der Praterstraße und ist später der erste Dramaturg der Reinhardt-Bühnen geworden. Dieser junge Mensch war für einige Zeit nach Paris gekommen, um es zu genießen. Er wohnte in einem Hotel der großen Boulevards. Von dort schickte er mir einen Rohrpostbrief, ich möge ihn morgen Abend um neun Uhr mit unserem gemeinsamen Freunde Huber am Eingang des Moulin Rouge erwarten. Er gehörte nicht zu unserem törichten Mönchsorden und wollte uns offenbar etwas von den Reizen der Vergnügungsstadt zeigen. Wir fanden das freundschaftlich. Ich kann nicht leugnen, daß ich mich auf den Abend vorbereitete. Schließlich gab es auch in dieser schwärzesten Zeit meines Lebens noch immer eine Karl-Theater-Erinnerung in meinem Kopf. Wenn ich über den Place de la République ging und Straßensänger, von einem Geiger begleitet, ihre sentimentalen Chansons sangen, konnte ich auch damals nicht anders: Ich mußte stehenbleiben, und bei der zweiten Strophe mußte ich den Refrain schon mitsummen. Die Franzosen haben fast bis zum Kriege noch so etwas wie ein Volkslied gehabt. Die Chansonniers von Montmartre knüpften an die entzückende Tradition Berangers an. Noch um die Jahrhundertwende wurden in Paris Pierrot-Lieder gedichtet. Der Gassenhauer, der wirklich rüde Gassenhauer,

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