ТОП просматриваемых книг сайта:
Ich war begeistert. Stefan Großmann
Читать онлайн.Название Ich war begeistert
Год выпуска 0
isbn 9783903005839
Автор произведения Stefan Großmann
Жанр Философия
Серия Wiener Literaturen
Издательство Bookwire
Ich genoß das Glück, frei über meinen Tag zu verfügen, ich las in der Universitätsbibliothek, was ich wollte. Meine Versuche, Marx zu lesen, sind freilich nur halb gelungen. Ich las die polemischen Schriften, besonders den Achtzehnten Brumaire, der ja einer der hinreißendsten politischen Pamphlete ist, mit Genuß, aber schon der erste Band des Kapitals – und ich bin über den ersten nie hinausgekommen – machte mir Schwierigkeiten. Mag sein, daß ich von Jugend an mich an unvergleichlichen Sprachkünstlern verwöhnt hatte. Wer das Schopenhauersche Deutsch, die klarste, biegsamste und dann wieder wie aus Eichenholz geschnittene Sprache, Seite für Seite genossen hat, der hatte an dem Marxschen Deutsch schwer zu kauen. Überhaupt lasen alle meine Freunde rings um mich Marx und seinen »Übersetzer« Kautsky, so daß ich eines Tages, als mir Vorwürfe über meine mangelnde Marx-Disziplin gemacht wurden, mit einigem Recht erwidern konnte: »Müssen wir denn alle den gleichen Weg gehen? Wenn ihr alle Marxisten seid, dann brauche doch ich es nicht auch noch zu werden.«
Tagsüber saß ich viel bei den römischen Schwestern. Ihr »Leid« realisierte sich allmählich, ich hatte noch keine Ahnung, in welcher Richtung. Die schönen hochgewachsenen Mädchen wurden blaß, und ihre Augen tränten leicht. Beide dichteten ein bißchen. Eine von ihnen, die ältere und größere, die ich immer mit besonderer, ich möchte sagen, scheuer Andacht beobachtete, trat in einer Dämmerstunde auf mich zu und und fragte mich mit dem Leidenston, der damals üblich war, fast hingehaucht, während der volle Blick ihrer großen Augen in mich tauchte: »Liebst du mich?« Ich war in größter Verlegenheit, an nichts hatte ich weniger gedacht. Es interessierte mich, zuzuschauen, wie die anderen romantisierten, aber ich selbst hatte eher eine leise Abneigung gegen diese Seelenübungen. Die allgemeine Mimosenhaftigkeit hatte merkwürdigerweise in mir eher einen gewissen brutalen Trotz wachgerufen. In meiner Verwirrung und, aufrichtig gesagt, um nicht unhöflich zu erscheinen, antwortete ich auf die Seelenfrage: »Ich weiß es nicht.« Ich hätte, wenn ich ganz aufrichtig gewesen wäre, hinzufügen müssen: Ich habe darüber noch nicht nachgedacht. Aber ich glaube, daß meine rechtschaffene Antwort die schöne Römerin verstimmt hat. Nie mehr ist zwischen uns von Liebe die Rede gewesen. Freilich stellte sich nach einiger Zeit heraus, daß beide Schwestern in anderen Umständen waren. Mein Einjähriger hatte auf ziemlich skrupellose Weise Seelenromantik getrieben –, und dafür hatte ich nun den Schlaf meiner Nächte hergeben müssen! Die leidselige Stimmung des Kreises war mir schon lange unerträglich geworden. Ich hatte mir ein Heftchen Epigramme angelegt, und es macht mir noch heute Spaß zu denken, daß ich junger Kerl inmitten dieser ausschweifend gefühlvollen Umgebung Epigramm auf Epigramm gespitzt habe. Gegen die allgemeine Mitleidswelle, gegen das wahllose Mitleid mit Jedermann lehnte ich mich auf. Ich schrieb in mein Epigrammheft:
Mitleid mit allen Betrübten?
Freund, wer hätte so viel Gefühl.
Also sei es unser Ziel:
Mitleid mit den Geliebten.
Das kann ich noch heute, einige Jahrzehnte später, so ziemlich unterschreiben.
Ich habe zu erwähnen vergessen, daß die eigentliche Grundlage meiner freien Existenz ein paar Lektionen waren, die mir Professor Willomitzer verschafft hatte. Obwohl ich aus der Realschule davongerannt war und obwohl ich ihm in einem Ermahnungsgespräch, das er zu führen sich bemüßigt fühlte, meinen scheinbar müßiggängerischen Tag erzählt hatte, hat er mir nicht nur Stunden, die ich seinen Schülern gab, gelassen, sondern mir noch eine besondere deutsche Grammatikstunde verschafft. Ich verdiente gerade so viel, um mittags das Essen in der Volksküche, abends einen bescheidenen Imbiß in der Nähe des Arbeiterbildungsvereins zu bezahlen. Aber die schlechte Ernährung, die Schlaflosigkeit, diese verfluchten Seelenromane in meiner Nähe, all das zehrte an mir. So konnte ich nicht weiterleben. In dieser Situation geschah es, daß einer der Arbeiter, die ich in den Morgenstunden im mütterlichen Geschäft kennengelernt, der Monteur Matthias Huber, nach Paris ging. Er lud mich ein, mit ihm zu kommen. Huber war ein kleiner, stiller, sanfter, etwa vierzigjähriger Mensch, der Freude am Denken hatte. Die echten Revolutionäre, die ich in meinem Leben traf, haben immer unansehnlich ausgesehen und so leise sich bewegt wie Zolas gut gesehener Souvarine. Mir fehlte das Geld zur Reise. In meiner Phantasie spielte es eine große Rolle, daß ich gehört hatte, es ginge allwöchentlich ein ungarischer Schweinezug nach Paris, der nur bis Wien von ungarischen Wärtern