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abends, wenn eine der Schwestern bei ihm zu Besuch war, nicht hinein zu kommen, sondern ihren Abschied im Vorzimmer abzuwarten. Dieses Vorzimmer war nun ein verdammt ungemütlicher, finsterer Raum, in dem man nicht einmal lesen konnte, und der Abschied der Schwestern zog sich, je länger die Beziehung dauerte, in umso spätere Nachtstunden hinaus; manchmal wurde es zwei, drei Uhr, bevor ich aus meiner andachtsvoll erduldeten Vorzimmerexistenz erlöst wurde. Warum harrte ich so sanftmütig aus? Es war der ungeheure Respekt vor dem »Erlebnis«, dem ersten in meiner Nähe, der mich stumm und geduldig machte. Die Liebe ging in meiner Nachbarschaft vorüber, und ich habe von jeher vor dem Blitzschlag der Leidenschaft eine andachtsvolle Regung gespürt. Es war schon ein gütiger Wink des Schicksals, daß die Liebe so dicht in meiner Nähe eingeschlagen hatte und daß ich sie also sehen konnte, ohne doch von ihr betroffen zu sein. Nur einen kleinen Nachteil brachte mir die Sache: ich war wieder in der schmählichsten Weise um meinen Schlaf betrogen, und mein Schlafdefizit stieg allmählich ins Uneinbringliche. Um die Abende, an denen das Zimmer des Einjährigen von einer der beiden Schwestern okkupiert war, auszufüllen, ging ich nun Abend für Abend in den Arbeiterbildungsverein Gumpendorf. Dort traf man Arbeiter und Handlungsgehilfen, Studenten und einige Doktoren, dann und wann auch einige junge Genossinnen, und auch hier wurde nach russischem Muster diskutiert, daß sich die Balken bogen. Nur an sehr heißen Sommerabenden blieb der bescheidene Klubraum leer. An einem schwülen Juliabend hatte in Gumpendorf eine Diskussion über Monogamie und Erbrecht stattfinden sollen. Es erschien bloß ein Schweizer Genosse, der Referent, und eine Genossin, aus Böhmen, die im Anfang der dreißiger Jahre stand. Der Schweizer, der auf die feurige Tschechin schon lange ein Auge geworfen, aber nicht den Mut hatte, ihr das zu gestehen, brachte kein Wort hervor. Er war wissenschaftlicher Theoretiker durch und durch. Nach langem geladenen Schweigen platzte der sachliche Mensch heraus: »Genossin, wollen Sie zu mir in geschlechtliche Beziehungen treten?« Erst nach Jahren haben wir über die Geschichte so lange gelacht, wie sie es verdiente. Die Sozialisten waren damals in zwei Lager geteilt, in die Radikalen und in die Gemäßigten. Ich wäre nicht siebzehn, achtzehn Jahre gewesen, wenn ich nicht mit Leib und Seele zu den Radikalen gehört hätte. Freilich waren die Themen, die wir uns stellten, etwas verzwickt, und man schlängelte sich nicht leicht mit seinen Schlagworten durch. So wurde viele Wochen über die Frage beraten und geredet: »Soll der Arbeiter durch Bildung zur Freiheit, oder soll er durch Freiheit zur Bildung gelangen?« Wir Jünglinge bürgerlicher Herkunft neigten dazu, daß der Arbeiter erst Freiheit und dann Bildung (die im vorigen Jahrhundert so überschätzte Bildung) erwerben solle. Aber die Arbeiter im Bildungsverein waren meistens entgegengesetzter Ansicht. Nein, nein, man müsse zuerst gebildet sein, und erst der gebildete Arbeiter gäbe einen verwendbaren Kämpfer ab. Wenn ich heute daran denke, wieviele Ideen und Ideale damals auf die Köpfe der von Tagesarbeit erschöpften Arbeiter losdonnerten, so bin ich erstaunt, daß sie diesen Anprall von vielzuviel Geisteskräften ohne innere Beschädigung überstanden haben. In unserer radikalen Gruppe, die den Übergang zu den anarchistisch Geführten bildete, hat noch eine besondere Diskussion jahrelang gewütet. Die Frage war: Individualismus oder Kommunismus. Ein schottischer Dichter, der nach Deutschland verschlagen war, John Henry Mackay, hatte Stirner entdeckt und in den Gärungstopf der Zeit den »Einzigen und sein Eigentum« geworfen. Aus diesem Hexenkessel von Bestrebungen und Tendenzen holte sich jeder heraus, was zu seiner Veranlagung am besten paßte. Die Anarchisten, die in ganz kleinen Gruppen arbeiten wollten, hielten sich für Individualisten, obwohl gerade sie die hingebungsvollsten Schwärmer gewesen sind. Wohingegen die nüchternen Köpfe, die einen großen, den ersten Konsumverein ins Leben zu setzen trachteten, sich als Kommunisten erklärten. Zuweilen wurde dieser Kampf der Theorien mit besonderer Erbitterung ausgefochten, und ich erinnere mich genau einer verhältnismäßig großen Versammlung in einem Vorort, in Fünfhaus, bei der die Individualisten die Kommunisten am Ende mit Bierkrügeln von ihren falschen Ideen abzubringen trachteten, die Kommunisten bearbeiteten die Individualisten mit Stuhlbeinen und Sesselkanten. Selten ist ein Kampf der Theorien mit so viel blutigen Löchern bezahlt worden wie an diesem Abend.

      Ich genoß das Glück, frei über meinen Tag zu verfügen, ich las in der Universitätsbibliothek, was ich wollte. Meine Versuche, Marx zu lesen, sind freilich nur halb gelungen. Ich las die polemischen Schriften, besonders den Achtzehnten Brumaire, der ja einer der hinreißendsten politischen Pamphlete ist, mit Genuß, aber schon der erste Band des Kapitals – und ich bin über den ersten nie hinausgekommen – machte mir Schwierigkeiten. Mag sein, daß ich von Jugend an mich an unvergleichlichen Sprachkünstlern verwöhnt hatte. Wer das Schopenhauersche Deutsch, die klarste, biegsamste und dann wieder wie aus Eichenholz geschnittene Sprache, Seite für Seite genossen hat, der hatte an dem Marxschen Deutsch schwer zu kauen. Überhaupt lasen alle meine Freunde rings um mich Marx und seinen »Übersetzer« Kautsky, so daß ich eines Tages, als mir Vorwürfe über meine mangelnde Marx-Disziplin gemacht wurden, mit einigem Recht erwidern konnte: »Müssen wir denn alle den gleichen Weg gehen? Wenn ihr alle Marxisten seid, dann brauche doch ich es nicht auch noch zu werden.«

      Tagsüber saß ich viel bei den römischen Schwestern. Ihr »Leid« realisierte sich allmählich, ich hatte noch keine Ahnung, in welcher Richtung. Die schönen hochgewachsenen Mädchen wurden blaß, und ihre Augen tränten leicht. Beide dichteten ein bißchen. Eine von ihnen, die ältere und größere, die ich immer mit besonderer, ich möchte sagen, scheuer Andacht beobachtete, trat in einer Dämmerstunde auf mich zu und und fragte mich mit dem Leidenston, der damals üblich war, fast hingehaucht, während der volle Blick ihrer großen Augen in mich tauchte: »Liebst du mich?« Ich war in größter Verlegenheit, an nichts hatte ich weniger gedacht. Es interessierte mich, zuzuschauen, wie die anderen romantisierten, aber ich selbst hatte eher eine leise Abneigung gegen diese Seelenübungen. Die allgemeine Mimosenhaftigkeit hatte merkwürdigerweise in mir eher einen gewissen brutalen Trotz wachgerufen. In meiner Verwirrung und, aufrichtig gesagt, um nicht unhöflich zu erscheinen, antwortete ich auf die Seelenfrage: »Ich weiß es nicht.« Ich hätte, wenn ich ganz aufrichtig gewesen wäre, hinzufügen müssen: Ich habe darüber noch nicht nachgedacht. Aber ich glaube, daß meine rechtschaffene Antwort die schöne Römerin verstimmt hat. Nie mehr ist zwischen uns von Liebe die Rede gewesen. Freilich stellte sich nach einiger Zeit heraus, daß beide Schwestern in anderen Umständen waren. Mein Einjähriger hatte auf ziemlich skrupellose Weise Seelenromantik getrieben –, und dafür hatte ich nun den Schlaf meiner Nächte hergeben müssen! Die leidselige Stimmung des Kreises war mir schon lange unerträglich geworden. Ich hatte mir ein Heftchen Epigramme angelegt, und es macht mir noch heute Spaß zu denken, daß ich junger Kerl inmitten dieser ausschweifend gefühlvollen Umgebung Epigramm auf Epigramm gespitzt habe. Gegen die allgemeine Mitleidswelle, gegen das wahllose Mitleid mit Jedermann lehnte ich mich auf. Ich schrieb in mein Epigrammheft:

      Mitleid mit allen Betrübten?

      Freund, wer hätte so viel Gefühl.

      Also sei es unser Ziel:

      Mitleid mit den Geliebten.

      Das kann ich noch heute, einige Jahrzehnte später, so ziemlich unterschreiben.

      Ich habe zu erwähnen vergessen, daß die eigentliche Grundlage meiner freien Existenz ein paar Lektionen waren, die mir Professor Willomitzer verschafft hatte. Obwohl ich aus der Realschule davongerannt war und obwohl ich ihm in einem Ermahnungsgespräch, das er zu führen sich bemüßigt fühlte, meinen scheinbar müßiggängerischen Tag erzählt hatte, hat er mir nicht nur Stunden, die ich seinen Schülern gab, gelassen, sondern mir noch eine besondere deutsche Grammatikstunde verschafft. Ich verdiente gerade so viel, um mittags das Essen in der Volksküche, abends einen bescheidenen Imbiß in der Nähe des Arbeiterbildungsvereins zu bezahlen. Aber die schlechte Ernährung, die Schlaflosigkeit, diese verfluchten Seelenromane in meiner Nähe, all das zehrte an mir. So konnte ich nicht weiterleben. In dieser Situation geschah es, daß einer der Arbeiter, die ich in den Morgenstunden im mütterlichen Geschäft kennengelernt, der Monteur Matthias Huber, nach Paris ging. Er lud mich ein, mit ihm zu kommen. Huber war ein kleiner, stiller, sanfter, etwa vierzigjähriger Mensch, der Freude am Denken hatte. Die echten Revolutionäre, die ich in meinem Leben traf, haben immer unansehnlich ausgesehen und so leise sich bewegt wie Zolas gut gesehener Souvarine. Mir fehlte das Geld zur Reise. In meiner Phantasie spielte es eine große Rolle, daß ich gehört hatte, es ginge allwöchentlich ein ungarischer Schweinezug nach Paris, der nur bis Wien von ungarischen Wärtern

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