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von anderen Einheiten gesichert, von Bundespolizei und Spezialkräften, auch Scharfschützen sind dabei. Etwa hundert Menschen haben sich in gebührendem Abstand vor dem Posten versammelt.

      »Eigentlich ganz nett, bei diesem Wetter draußen zu sein. Besser als Büro.«

      Conny Schrader hat ihre blonden Haare hochgebunden, an ihrem Gürtel wippt ihr Helm.

      »Mir ist es viel zu heiß in diesen Klamotten.«

      Wiebke Maurer steht neben ihrer Kollegin und ist froh, an diese Straßenecke abkommandiert worden zu sein. Das Risiko, in eine gewalttätige Konfrontation verwickelt zu werden, erscheint ihr gering. Nur wenige Hundert Meter weiter kann es ganz anders zugehen.

      So ganz ihr Typ ist Conny Schrader nicht, zu forsch, zu karrieregeil, zu sehr sich lieb Kind machend bei Werner Jensen. Der hat Glück, der muss hier nicht auf der Straße stehen. Aber gut, dass Conny auch hier eingesetzt ist, sonst würde sie niemanden kennen.

      »Vielleicht ruft Werner gleich an: Irgendjemand ist ermordet worden, und wir müssen ab ins Präsidium.«

      Conny Schrader lacht, doch Wiebke Maurer glaubt nicht an eine Rettung aus dem unliebsamen Einsatz. Vor allem sollte dafür kein Mensch sterben müssen.

      Ein hochgewachsener Kollege kommt vom Versorgungsfahrzeug zurück und verteilt Wasserflaschen.

      »Trinkt, Mädels«, wirft er mit lässigem Schwung aus dem Handgelenk den beiden Frauen je eine Flasche zu.

      »Du hast gut reden«, lacht Wiebke Maurer und blickt zu ihm auf. »Wir Frauen haben es da etwas schwerer als ihr Männer.«

      »Harald«, gibt sich das große Exemplar Mann einen Namen. »Im Sommer muss man viel trinken, sonst kollabiert der Kreislauf.«

      »Aber viel trinken heißt, oft aufs Klo zu müssen.«

      »Das Problem kennen wir bei der Bereitschaftspolizei. Bei einem Einsatz in Gorleben haben wir klappbare Papptoiletten mitbekommen.«

      »Wie praktisch!«

      Wiebke Maurer ist skeptisch, doch Conny Schrader scheint sich für das Thema zu interessieren. Oder für den Kollegen.

      »Aber die weichen doch durch, oder?«

      »Nee, die sind nur für das große Geschäft. Deswegen heißen die auch Shit Boxes. Die Lösung zum Pinkeln ist eine andere.«

      »Und wie geht die?«

      Der Kollege lacht.

      »Ihr werdet nicht oft auf Demos eingesetzt, oder?«

      Die Frauen schütteln im Gleichklang den Kopf.

      »Na ja, wir Männer bekommen Johny Wee. Alles, was darein läuft, wird sofort zu einem Gel umgewandelt. Und Frauen werden mit Whiz Freedom ausgestattet, einem Urinbeutel. Dazu gibt es einen Trichter, damit nichts danebengeht.«

      Nach etlichen Jahren Polizeidienst erfährt Wiebke Maurer etwas, von dem sie nie vorher gehört hat. Wie gut, dass sie sich für die Kriminalpolizei entschieden hat. Der Kollege neben ihr stupst sie an und reißt sie aus ihren Gedanken. Er zeigt auf Conny Schrader, deren Körper in sich zusammensinkt.

      »Siehst du, deine Kollegin hat nicht genug getrunken.«

      Wiebke Maurer schaut in die angegebene Richtung und sieht, wie ihre Kollegin zu Boden geht und in gekrümmter Haltung auf dem warmen Asphalt zum Liegen kommt.

      Ein rotes Rinnsal breitet sich von Conny Schraders schlankem Körper ausgehend auf dem Straßenpflaster aus.

      Hastig dreht Nele sich eine Zigarette aus ihrem schwarzen Tabak und einem aus Hanffasern bestehenden Papierblättchen. Sie ist genervt. Die Stadtbahn hat ihren Verkehr von Altona Richtung Hauptbahnhof auf der oberirdischen Strecke durch das Viertel eingestellt. Nur durch den Tunnel fahren noch Züge. Soll sie deswegen bis zu den Landungsbrücken laufen oder besser den Umweg mit der U-Bahn machen?

      Die Autofahrer sind genauso genervt wie Nele als Bahnfahrerin. Seit Tagen hat die Polizei unangekündigt Verkehrsadern gesperrt, um das Schleusen gepanzerter Limousinen der Staatenlenker und ihrer Begleitpersonen vom Flughafen durch die Stadt zu den Hotels zu üben. Heute ist es ernst, eine Delegation nach der anderen landet auf dem Flughafen in Fuhlsbüttel. Das Chaos auf den Straßen und im Nahverkehr nimmt stündlich zu.

      Nele will nicht zwanzig Minuten spazieren gehen müssen, sie will pünktlich am Hauptbahnhof sein. Sie hat einen Termin im KIDS. Das Hilfezentrum für Jugendliche am Hauptbahnhof musste vor Wochen aus dem Bieberhaus ausziehen. Seitdem versucht die Einrichtung, in von der Stadt als Notbehelf zur Verfügung gestellten Containern ihre Arbeit notdürftig weiterzuführen.

      Neles beste Freundin Birte ist mit Jan liiert, der im Hilfezentrum arbeitet und der bereit ist, sich von ihr interviewen zu lassen.

      Mit zwanzig Minuten Verspätung kommt Nele auf dem Bahnhofsvorplatz an. Mobile Polizeieinheiten ziehen aufmerksam über den Platz, die Eingänge zum Bahnhof werden scharf kontrolliert.

      Das Gedränge ist schlimmer als an normalen Nachmittagen, an denen bereits das Gewühl an einen Stadioneingang der Bundesliga am Wochenende erinnert.

      Nele empfindet die Menschenmassen als bedrückend und einengend.

      Sie schlägt sich durch zu den Containern des KIDS. Halbwüchsige stehen und lagern um diese herum, rauchen, reden, lachen, träumen. Ein Sozialarbeiter lehnt in der Tür des Bürocontainers.

      »Moin, ich bin mit Jan verabredet.«

      »Der wollte vor einer halben Stunde hier aufschlagen. Aber ist er nicht. Er ist wohl aufgehalten worden. Du hast ja am Bahnhof gesehen, was los ist.«

      Nele ärgert sich. Statt mitten im Geschehen zu sein, sich an Blockadeaktionen oder kreativem Protest zu beteiligen, muss sie an einem solchen Tag nicht nur Jan interviewen, sondern sogar noch auf ihn warten.

      Aber es nützt nichts, die Stadtrundschau muss auch nach dem Gipfel mit interessanten Themen aufwarten. Sie stellt sich in die Sonne – vielleicht bekommt ihr blasses Gesicht ein bisschen sommerliche Bräune.

      »Moin, Nele.«

      Nach zwanzig Minuten Sonnenbad taucht Jan auf der Bildfläche auf und umarmt Nele vorsichtig. Seine dunklen Dreadlocks kitzeln ihr Gesicht.

      »Tut mir leid wegen der Verspätung.«

      »Jetzt hast du es ja geschafft.«

      Nele gibt nicht zu, dass sie ärgerlich ist. Sie folgt Jan in den Bürocontainer und stellt seine Gastfreundschaft auf die Probe.

      »Sag mal, hast du einen Tee für mich?«

      »Klar doch. Ein paar Beutel habe ich immer herumliegen. Den Jugendlichen brauche ich damit nicht zu kommen, die lieben Kaffee, schwarz wie die Nacht. Earl Grey, okay?«

      Nele stimmt zu und Jan nimmt einen altertümlichen Wasserkocher in Betrieb. In einer Ecke des Containers steht ein Laptop auf einem behelfsmäßigen Schreibtisch. Sein Lüfter gibt seufzende Geräusche von sich. Jan zeigt auf die beiden Stühle, die neben dem Schreibtisch drapiert sind.

      »Such dir einen aus.«

      »Gute Idee. Interviews im Stehen finde ich blöd.«

      Jan grinst gewinnend und Nele versteht ein wenig mehr, warum ihre Freundin Birte sich in ihn verliebt hat. Vielleicht hält sie ja länger mit ihm aus als mit ihren letzten Liebhabern. Bei diesem Gedanken grinst auch Nele.

      »Lass uns anfangen. Es ist schon spät und mir läuft die Zeit davon.«

      Nele lässt Jan erzählen. Sie weiß viel über die Menschen, die die Großstadt ausgespuckt hat, die am Rande der Gesellschaft leben, die irgendwie überleben, unter Bedingungen, die sie sich kaum vorstellen kann. Doch worüber Jan berichtet, ist ihr unbekannt: von 14-jährigen und noch jüngeren Kindern, die auf der Straße leben, von Jungen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, von Mädchen, die eine

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