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sich auch nicht sicher, warum sein Vater genau hier seinen letzten Ruheplatz finden wollte. Es war fast ein Jahr her, seitdem Bryce und seine Mutter auf dem Kiesplatz zweieinhalb Kilometer von seinem jetzigen Sitzplatz aus geparkt hatten, um die Asche dann hier dem Wind zu übergeben. Sicher, der Sonnenuntergang war hübsch, aber der Nationalpark bot viele nette Ausblicke.

      „Ich bin zurückgekommen, Dad“, sagte Bryce. „Ich klettere immer mal wieder, aber nicht so extrem wie du es getan hast.“

      Bryce lächelte und dachte an das Foto, das man ihm kurz nach der Beerdigung seines Vaters gegeben hatte. Sein Vater hatte sich am Everest versucht, aber sich bereits nach eineinhalb Tagen den Knöchel verstaucht. Er hatte in Alaska Gletscher bezwungen und eine Vielzahl unbenannter Felsformationen in den Wüsten Amerikas bestiegen. Der Mann war für Bryce wie eine Legende und genauso wollte er ihn auch in Erinnerung behalten.

      Er betrachtete den Sonnenuntergang und war sich sicher, dass er seinem Vater gefallen hätte. Auch wenn dieser Sonnenuntergang, verglichen mit all denen, die er in seinen Kletterjahren von verschiedenen Aussichtspunkten aus gesehen hatte, vermutlich nichts Besonderes war.

      Bryce seufzte und bemerkte, dass die Tränen, die normalerweise kamen, ausblieben. Langsam begann sich das Leben ohne seinen Dad zu normalisieren. Natürlich trauerte er noch, aber er lebte weiter. Er stand auf und drehte sich zu seinem Rucksack und seiner Kletterausrüstung um. Ruckartig blieb er stehen und betrachtete alarmiert den Mann, der direkt hinter ihm stand.

      „Tut mir leid“, sagte der Mann, der nicht mal einen Meter von ihm entfernt war.

      Wie zum Teufel habe ich ihn nicht gehört? Bryce war verwirrt. Er muss sich sehr leise und bewusst bewegt haben. Hat er vorgehabt, sich an mich heranzuschleichen? Mich zu beklauen? Meine Ausrüstung zu stehlen?

      „Kein Problem“, sagte Bryce und entschied sich dazu, den Mann zu ignorieren. Er war etwa Anfang dreißig, ein dünner Bartflaum bedeckte sein Kinn und er trug eine Beanie-Mütze auf dem Kopf.

      „Netter Sonnenuntergang, hm?“, fragte der Mann.

      Bryce hob seine Tasche auf, schnallte sie sich auf den Rücken und begann, sich zu bewegen. „Ja, auf jeden Fall“, antwortete er.

      Er ging auf den Mann zu, mit der Absicht, ihn zu passieren, ohne weiter auf ihn einzugehen. Doch der Mann blockierte seinen Weg mit dem Arm. Als Bryce versuchte, darum herumzugehen, packte der Mann ihn am Arm und stieß ihn nach hinten.

      Als er zurück stolperte, war Bryce sich der Leere, die nur eineinhalb Meter hinter ihm wartete, sehr wohl bewusst. Hundertzwanzig Meter Tiefe.

      Bryce hatte in seinem Leben erst einmal einen Schlag abgesondert und das war in der zweiten Klasse gewesen, als ein Idiot ihm auf dem Spielplatz einen albernen Deine-Mutter-Witz erzählt hatte. Doch Bryce ballte seine Faust und war bereit, zu kämpfen, wenn er es musste.

      „Was ist dein Problem?“, fragte Bryce.

      „Schwerkraft“, sagte der Mann.

      Dann bewegte er sich. Es war kein Schlag, sondern vielmehr eine Wurfbewegung. Bryce hob sein Handgelenk hoch, um den Wurf zu blockieren, als er realisierte, was der Mann in der Hand gehalten hatte. Er sah das goldene Glitzern des Sonnenuntergangs, der sich auf der metallenen Oberfläche spiegelte.

      Ein Hammer.

      Er traf seine Stirn hart genug, um ein Geräusch zu machen, dass für Bryce klang, als stamme es aus einem Cartoon. Doch der Schmerz, der folgte, war weder lustig noch komisch. Er blinzelte benommen, machte einen Schritt nach hinten, während jeder Muskel in seinem Körper versuchte, ihn daran zu erinnern, dass es hinter ihm hundertzwanzig Meter in die Tiefe ging.

      Doch seine Muskeln waren langsam und der unverblümte Angriff auf seine Stirn schickte einen blindmachenden Schmerz durch seinen Kopf und ein betäubendes Gefühl Richtung Rücken.

      Bryce fiel in sich zusammen und auf die Knie. In dem Moment trat der Mann Bryce genau gegen die Brust.

      Bryce spürte den Aufprall kaum. Sein Kopf stand in Flammen. Doch der Tritt beförderte ihn weiter nach hinten. Er kam hart genug auf dem Boden auf, prallte ab und flog dann noch ein Stück weiter.

      Sofort spürte er, wie die Schwerkraft an ihm riss. Doch er konnte noch immer nicht begreifen, was genau geschehen war.

      Sein Herz raste und sein schmerzender Kopf schaltete in den Panikmodus über. Er versuchte zu atmen, als seine Muskeln übernahmen und seine Arme wild um sich schlugen, um sich an irgendetwas festhalten zu können.

      Doch da war nichts. Nur Luft und der Wind, der in seinen Ohren zischte. Sekunden später dann die kurze Schmerzexplosion, als er auf die harte Erde traf. Mit seinem letzten Atemzug sah er die rote Felswand, die er gerade bestiegen hatte und seinen letzten Sonnenuntergang.

      KAPITEL VIER

      Was sich zuerst paradiesisch angefühlt hatte, wurde immer mehr zu einer Art Gefängnis. Während sie ihren Sohn mehr liebte, als sie es je in Worte fassen könnte, fiel Mackenzie langsam die Decke auf den Kopf. Gelegentlich durch die Nachbarschaft zu spazieren reichte ihr einfach nicht mehr. Als der Arzt ihr die Erlaubnis gab, leichte Sport-Übungen zu absolvieren und sie damit begann, ihren Schritt bei ihren Spaziergängen zu beschleunigen, dachte sie sofort daran, joggen zu gehen oder auch leichte Gewichte zu heben. Sie war, zum ersten Mal in über fünf Jahren, nicht in Form. Die Bauchmuskeln, auf die sie einmal so stolz gewesen war, waren unter Narbengewebe und einem ungewohnten Fettpolster verschwunden.

      In einem Moment der Schwäche, als sie eines Abends die Dusche verließ, begann sie unkontrolliert zu schluchzen. Als pflichtbewusster und liebender Ehemann kam Ellington natürlich sofort angerannt und fand sie im Badezimmer, wo sie gegen das Waschbecken gelehnt stand.

      „Mac, was ist los? Bist du okay?“

      „Nein. Ich heule. Ich bin nicht okay. Ich heule wegen albernem Scheiß.“

      „Zum Beispiel?“

      „Zum Beispiel wegen dem Körper, den ich gerade im Spiegel gesehen habe.“

      „Oh, Mac … hey, erinnerst du dich daran, mir vor einigen Wochen vorgelesen zu haben, dass du bald damit anfangen würdest, wegen willkürlichen Dingen zu weinen? Ich denke, dieser Moment gehört dazu.“

      „Die Kaiserschnittnarbe wird für den Rest meines Lebens zu sehen sein. Und das Gewicht … es wird nicht leicht, das wieder loszuwerden.“

      „Und warum stört dich das?“, fragte er. Er war nicht streng oder hart, verhätschelte sie aber auch nicht. Ihr wurde wieder einmal klar, wie gut er sie kannte.

      „Es sollte mich nicht stören. Und ehrlich gesagt denke ich, dass meine Heulerei einen anderen Grund hat. Der Anblick meines Köpers war lediglich ein Auslöser.“

      „Mit deiner Körper ist alles in Ordnung.“

      „Das musst du sagen.“

      „Nein, das tue ich nicht.“

      „Wie kannst du diesen Anblick wollen?“

      Er lächelte sie an. „Oh, das ist kein Problem. Hör zu … Ich weiß, dass der Arzt dir ein leichtes Sportprogramm erlaubt hat. Und wenn du mich einfach die ganze Arbeit machen lässt …“

      Er blickte anspielend durch die Badezimmertür ins Schlafzimmer hinüber.

      „Was ist mit Kevin?“

      „Mittagsschlaf“, antwortete er. „Er wird aber vermutlich in ein oder zwei Minuten aufwachen. Aber da unser letztes Mal schon über drei Monate her ist, glaube ich nicht, dass ich allzu lange brauchen werde.“

      „Idiot.“

      Er antwortete mit einem Kuss. Nicht nur, um ihr das Wort abzuschneiden, sondern auch, um ihre Komplexe in Luft aufzulösen. Er küsste sie langsam und innig und sie konnte die drei Monate

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