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Szenen aus dem Landleben. Оноре де Бальзак
Читать онлайн.Название Szenen aus dem Landleben
Год выпуска 0
isbn 9783955014797
Автор произведения Оноре де Бальзак
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»So geh und zieh dich an, Jacques,« rief die Witwe, »sie werden ihn bald holen.«
»Gehen wir. Leben Sie wohl, Mutter,« sagte Benassis.
»Ihre Dienerin, meine Herrn.«
»Wie Sie sehen,« sagte der Arzt, »hat man den Tod hier als einen vorhergesehenen Unfall hingenommen, der den Lebenslauf der Familien nicht aufhält; und Trauer wird dort gar nicht getragen werden. In den Dörfern will niemand, sei es aus Armut, sei's aus Sparsamkeit, sich eine solche Ausgabe machen. Auf dem Lande gibt's daher keine Trauer. Die Trauer, mein Herr, ist weder ein Gebrauch noch ein Gesetz; sie ist etwas viel Besseres: eine Einrichtung, die mit allen Gesetzen zusammenhängt, deren Beobachtung von ein und demselben Prinzip, nämlich der Moral, abhängt. Trotz unserer Bemühungen haben nun weder ich noch Monsieur Janvier unsern Bauern mit Erfolg begreiflich machen können, von welcher Wichtigkeit die öffentlichen Demonstrationen für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung sind. Diese braven, seit gestern emanzipierten Leute sind noch nicht fähig, die neuen Beziehungen zu verstehen, die sie mit diesen allgemeinen Vorstellungen verknüpfen sollen. Gegenwärtig sind sie nur für die Ideen zu haben, die Ordnung und physisches Wohlbefinden erzeugen; wenn später jemand mein Werk fortsetzt, werden sie zu den Prinzipien gelangen, die dazu dienen, die öffentlichen Rechte zu erhalten. Tatsächlich genügt es nicht, ein ehrenwerter Mann zu sein, man muss als ein solcher auch erscheinen. Die Gesellschaft lebt nicht allein durch moralische Ideen; um Bestand zu haben, bedarf sie in Einklang mit solchen Ideen stehender Handlungen. In den meisten ländlichen Gemeinden werden auf hundert Familien, die der Tod ihres Oberhauptes beraubt hat, nur einige wenige mit einer lebhaften Empfindsamkeit begabte Individuen diesem Toten ein langes Andenken bewahren, alle anderen aber werden ihn innerhalb eines Jahres vollkommen vergessen haben. Ist dieses Vergessen nicht eine große Wunde? Eine Religion ist das Herz eines Volkes, sie drückt seine Gefühle aus und vergrößert sie, indem sie ihnen ein Ende setzt; ohne einen sichtbar verehrten Gott aber existiert die Religion nicht, und demgemäß haben die menschlichen Gesetze keine Kraft. Wenn das Gewissen Gott allein gehört, fällt der Körper unter das soziale Gesetz. Ist's nun nicht ein beginnender Atheismus, wenn man so die Zeichen eines religiösen Schmerzes auslöscht, wenn man den Kindern, die noch nicht nachdenken, und allen Leuten, die der Beispiele bedürfen, nicht eindringlich die Notwendigkeit klarmacht, den Gesetzen, durch eine offenkundige Resignation den Ratschlüssen der Vorsehung gegenüber, die einen schlägt und tröstet, welche die Güter dieser Welt gibt und nimmt, zu gehorchen? Ich muss gestehen, dass ich, nach Tagen einer spöttischen Ungläubigkeit, hier den Wert religiöser Zeremonien, den Wert der Familienfeierlichkeiten und die Wichtigkeit der Gebräuche und Feste des häuslichen Herdes begriffen habe. Die Grundlage der menschlichen Gesellschaft wird immer die Familie sein. Dort beginnt die Aktion der Macht und des Gesetzes, dort wenigstens muss man den Gehorsam lernen. Mit allen ihren Konsequenzen betrachtet, sind der Familiengeist und die väterliche Macht zwei noch zu wenig entwickelte Prinzipien in unserem neuen Gesetzgebungssystem. Die Familie, die Gemeinde, die Provinz, unser ganzes Land ist gleichwohl da. Die Gesetze müssten also auf diesen drei großen Einteilungen basiert sein. Meiner Meinung nach können die Heirat der Eheleute, die Geburt der Kinder, der Tod der Väter mit nicht genug Gepränge umgeben sein. Was die Macht des Katholizismus ausgemacht, was ihn so tief in den Sitten hat Wurzeln fassen lassen, ist sicherlich der Glanz, mit dem er in den bedeutungsvollen Augenblicken des Lebens erscheint, um sie mit so naiv rührendem, so großem Pomp zu umgeben, wenn der Priester sich der Größe seiner Mission anpasst und sein Amt mit der Erhabenheit der christlichen Moral in Einklang zu bringen weiß. Früher sah ich die katholische Religion als eine Anhäufung von Vorurteilen und geschickt ausgebeutetem Aberglauben an, über die eine intelligente Zivilisation ein Strafgericht ergehen lassen müsse. Hier hab' ich ihre politische Notwendigkeit und ihren moralischen Nutzen erkannt; jetzt hab' ich ihre Macht eben durch den Wert des Wortes erkannt, das sie ausdrückt. Religion will: Band heißen und sicherlich stellt der Kult oder, anders gesagt, die ausgedrückte Religion die einzige Macht dar, welche die sozialen Schichten zusammenbinden und ihnen eine dauerhafte Form geben kann. Endlich habe ich hier den Balsam eingesogen, den die Religion auf die Wunden des Lebens träufelt; ohne sie zu untersuchen, habe ich gefühlt, dass sie wunderbar mit den leidenschaftlichen Sitten der südlichen Nationen übereinstimmt. – Schlagen wir den ansteigenden Weg ein,« sagte der Arzt, sich unterbrechend, »wir müssen die Hochfläche erreichen. Von dort aus werden wir die beiden Täler überblicken und Sie sollen sich eines schönen Schauspiels erfreuen. Etwa dreitausend Fuß hoch über dem Mittelmeere werden wir Savoyen und den Delphinat, die Berge des Lyonnais und den Rhone sehen. Wir werden in einer anderen Gemeinde sein, einer Berggemeinde, wo Sie in einer von Monsieur Graviers Meiereien das Schauspiel sehen sollen, von dem ich Ihnen gesprochen habe, jenes natürliche Gepränge, das meine Gedanken über die großen Lebensereignisse verwirklicht. In dieser Gemeinde trägt man mit Andacht Trauer. Die Armen sammeln Almosen, um sich ihre schwarzen Kleider kaufen zu können. In diesem Falle schlägt ihnen niemand Hilfe ab. Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass eine Witwe unter Tränen von ihrem Verluste spricht, und zehn Jahre nach ihrem Unglück sind ihre Gefühle ebenso tief wie am Tage danach. Dort herrschen patriarchalische Sitten; des Vaters Autorität kennt keine Schranken, sein Wort ist entscheidend. Am oberen Tischende sitzend, isst er allein, seine Frau und seine Kinder bedienen ihn; die um ihn herum sind, sprechen nicht, ohne gewisse Respektformeln zu gebrauchen und unbedeckten Hauptes steht jedes vor ihm. So groß geworden besitzen die Männer den Instinkt ihrer Größe. Meiner Ansicht nach gewährleisten solche Gebräuche eine edle Erziehung. Auch sind die Leute dieser Gemeinde durchgehends gerecht, sparsam und arbeitsam. Jeder Familienvater hat die Sitte, seine Güter gleichmäßig unter seine Kinder zu verteilen, wenn das Alter ihm das Arbeiten verbietet; seine Kinder ernähren ihn dann. Im letzten Jahrhundert lebte ein neunzigjähriger Greis, nachdem er die Teilung unter seine Kinder vorgenommen hatte, drei Monate bei jedem von ihnen. Als er den Aeltesten verließ, um zum Jüngsten zu gehen, fragte einer seiner Freunde ihn: ,Nun, bist du zufrieden?' ,Meiner Treu, ja,' sagte der Greis, ,sie haben mich wie ihr Kind behandelt!' Dies Wort, mein Herr, ist einem Offizier namens Vauvenargues, einem berühmten Moralisten, der damals in Grenoble in Garnison stand, so bemerkenswert erschienen, dass er in mehreren Pariser Salons darüber sprach, wo dieses Wort von einem Schriftsteller namens Chamfort aufgegriffen wurde. Nun, es werden oft bei uns Worte geäußert, die noch auffallender sind als dieses hier, doch sie ermangeln der Geschichtschreiber, die sie zu hören würdig sind ...«
»Ich habe Herrenhuter, Begharden in Böhmen und in Ungarn gesehen,« sagte Genestas, »das sind Christen, die Ihren Bergbewohnern sehr ähnlich sind. Diese braven Leute erdulden die Kriegsleiden mit einer engelhaften Geduld.«
»Die einfachen Sitten, mein Herr,« antwortete der Arzt, »dürften in allen Ländern ziemlich ähnlich sein. Das Wahre hat nur eine Form. Das Landleben tötet wahrlich viele Ideen, aber es schwächt die Laster ab und entwickelt die Tugenden. Je weniger Menschen man auf einem Punkte zusammengepfercht sieht, desto weniger Verbrechen, strafbaren Handlungen und bösen Gefühlen begegnet man in der Tat. Die Reinheit der Luft hat großen Einfluss auf die Unschuld der Sitten.«
Die beiden Reiter, die im Schritt einen steinigen Weg hinaufritten, erreichten nun die Hochfläche, von der Benassis gesprochen hatte. Dies Gebiet zieht sich um eine sehr hohe, aber vollkommen kahle Bergspitze herum, die es beherrscht, und wo es keinerlei Vegetation gibt. Der Gipfel ist grau und auf allen Seiten zerklüftet, abschüssig und unbesteigbar. Das fruchtbare, von Felsen umschlossene Gebiet, zieht sich unterhalb dieser Spitze hin und umsäumt sie unregelmäßig in einer Breite von etwa hundert Arpents. Gegen Süden umfasst der Blick durch einen ungeheuren Einschnitt die französische Moriana, den Delphinat, die Felsen Savoyens und die fernen Berge des Lyonnais. Im Augenblick, wo Genestas diesen Aussichtspunkt, der von der Frühlingssonne hell erleuchtet wurde, betrachtete, ließen sich Klagetöne vernehmen.
»Kommen Sie,« sagte Benassis zu ihm, »der Gesang hat begonnen. Gesang nennt man diesen Teil der Trauerfeierlichkeiten.«
Der Offizier bemerkte dann auf der Westseite des Gipfels die Gebäulichkeiten einer ansehnlichen Meierei, die ein vollkommenes Viereck bildeten. Das gewölbte, ganz aus Granit bestehende Portal hatte einen Ausdruck von Größe, der durch das hohe Alter des Bauwerks, die uralten Bäume, die es umstanden, und