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mochte. Der Anblick so vieler Pfänder, die von versunkenen Nationen und dahingegangenen Leben der Menschen zeugten, betäubte vollends die Sinne des jungen Mannes; der Wunsch, der ihn in den Laden getrieben hatte, war erhört worden: er verließ die Wirklichkeit, stieg allmählich zu einer Traumwelt empor, gelangte in den Zauberpalast der Ekstase, wo ihm das Universum bruchstückhaft und in Feuer getaucht erschien, so wie einst vor den Augen des heiligen Johannes auf Patmos die Zukunft flammend vorüberzog.

      Unzählige Gestalten, schmerzbewegte, liebliche und schreckliche, finstere und leuchtende, ferne und nahe, erhoben sich in Scharen, in Myriaden, in Generationen. Vor einer von schwarzen Bändern umwickelten Mumie wuchs starr und geheimnisumwoben Ägypten aus dem Sand; dann die Pharaonen, die um ihrer Grabmäler willen ganze Völker in den Tod trieben; dann Moses, die Hebräer und die Wüste, eine feierliche, uralte Welt. Eine Marmorstatue, auf einem Säulentorso sitzend, frisch, anmutig und von strahlender Weiße, ließ die wollüstigen Mythen Griechenlands und Ioniens vor ihm erstehen. Und wen hätte es nicht gleich ihm entzückt, auf dem feinen roten Ton einer etruskischen Vase ein junges braunhäutiges Mädchen vor dem Gott Priapus tanzen zu sehen, den es mit heiterer Miene grüßte? Gegenüber liebkoste zärtlich eine römische Königin ihre Chimära. [*Chimära: in der Mythologie feuerspeiendes Ungeheuer mit Löwenkopf, Ziegenleib und Schlangenschweif] Dort lebten all die Launen des kaiserlichen Roms wieder auf, das Bad, das Lager, die Toilette einer träumerisch trägen Julia, die ihren Tibull erwartet. Mit der Macht arabischer Talismane weckte der Kopf Ciceros die Erinnerung an das freie Rom in ihm und ließ die Seiten des Titus Livius [* Titus Livius (59 v. Chr.-17 n. Chr.): römischer Geschichtsschreiber] vor ihm abrollen. Der junge Mann las ›Senatus Populusque romanus‹; ›Senatus Populusque romanus‹: lat., der Senat und das römische Volk wie nebelhafte Traumgestalten zogen der Konsul, die Liktoren, die purpurgesäumten Togen, die Kämpfe des Forums, das erzürnte Volk langsam an ihm vorbei. Schließlich übertönte das christliche Rom diese Bilder. Ein Gemälde öffnete die himmlischen Gefilde, er erblickte die Jungfrau Maria inmitten von Engeln auf einer goldenen Wolke, den Glanz der Sonne überstrahlend, wie sie, die wiedererstandene Eva, gütig lächelnd die Klagen der Unglücklichen anhört. Wie er ein Mosaikbild berührte, das aus der verschiedenfarbigen Lava des Vesuv und des Ätna zusammengesetzt war, flog seine Seele in das warme, heißblütige Italien. Er wohnte den Orgien der Borgia [* Borgia: mächtiges Adelsgeschlecht im Italien des 15./16. Jahrhunderts] bei, durchstreifte die Abruzzen, warb um die Liebe italienischer Frauen, entbrannte in Leidenschaft für ihr weißes Antlitz mit den schwarzen Mandelaugen. Er schauderte, nächtliche Erfüllung wurde von der kalten Klinge des Ehemanns jäh unterbrochen, als er einen mittelalterlichen Dolch gewahrte, dessen Griff fein ziseliert war und auf dem Rostflecke an Blut gemahnten. Indien und seine Religionen wurden lebendig in einem chinesischen Götzen, angetan mit Gold und Seide, einem spitzen Hut, mit geschwungenen Rauten, rundum mit Glöckchen behängt. Daneben strömte eine Binsenmatte, hübsch wie die Bajadere, die sich einstmals darauf zusammengerollt haben mochte, noch den herben Duft des Sandel aus. Ein chinesisches Ungeheuer mit verdrehten Augen, verzerrtem Mund, verrenkten Gliedern bot der Seele neuen Reiz in der Findigkeit eines Volkes, das, des einförmig Schönen überdrüssig, unerschöpfliche Freuden in der Fruchtbarkeit des Hässlichen findet. Ein Salznapf aus den Werkstätten des Benvenuto Cellini [*Benvenuto Cellini (1500-1571): italienischer Goldschmied und Bildhauer der Spätrenaissance; seine Autobiographie wurde von Goethe ins Deutsche übertragen] versetzte ihn mitten in die Renaissance, in die Zeit, da Kunst und Handwerk blühten, da Fürsten sich an Folterungen ergötzten und Konzile in den Armen von Kurtisanen liegend den einfachen Priestern Keuschheit vorschrieben. Auf einer Kamee sah er die Siege Alexanders; die Massaker Pizarros auf einer Luntenschlossmuskete; auf einem Helm die wilden, hitzigen, grausamen Religionskriege. Dann tauchten aus einer prächtig damaszierten, blankgeputzten mailändischen Rüstung, unter deren Visier noch die Augen eines Paladins zu funkeln schienen, die heitern Bilder der Ritterzeit empor.

      Dieses Meer von Hausrat, Erfindungen, Moden, Kunstwerken und Bruchstücken bildete für ihn ein endloses Poem. Formen, Farben, Gedanken, alles lebte wieder auf, doch kein Ganzes bot sich der Seele dar. Der Dichter musste die Skizzen des großen Malers ergänzen, auf dessen ungeheurer Palette die zahllosen Erzeugnisse menschlichen Lebens in verschwenderischer Fülle achtlos zusammengeworfen waren. Nachdem der junge Mann die Welt geschaut, Länder, Zeitalter, Herrscherepochen an sich hatte vorüberziehen lassen, wandte er sich einzelnen Schicksalen zu. Er versetzte sich in neue Gestalten, wobei er sich an Einzelheiten orientierte und das Leben der Völker, als zu niederdrückend für einen einzelnen Menschen, beiseite ließ.

      Dort schlief ein Kind aus Wachs, aus dem Kabinett von Ruysch [* Kabinett von Ruysch: Fredrik Ruysch (1638-1731), niederländischer Anatom, entwickelte ein Verfahren zur Konservierung anatomischer Präparate und gründete eines der ältesten anatomischen Museen. Seine Sammlung wurde 1717 von König Stanislaus von Polen und von Peter dem Großen erworben] gerettet, und dieses liebliche Geschöpf rief die Freuden seiner eigenen Kindheit in ihm wach. Bei dem zauberhaften Anblick des Bastschurzes eines jungen Mädchens aus Tahiti malte seine glühende Phantasie ihm das einfache Leben in der Natur aus, die keusche Nacktheit echter Scham, die Wonnen des dem Menschen eigenen Müßigganges, ein ganzes Leben der Ruhe am Rande eines klaren verträumten Baches, unter einem Bananenbaum, der auch ohne Pflege sein wohlschmeckendes Manna spendet. Doch dann plötzlich wurde er Korsar und hüllte sich in die schreckliche Poesie des Lara, [* Lara: Titelheld der gleichnamigen Verserzählung von Lord Byron (1814). i›Teniers, David, gen. der Ältere (1582-1649), und dessen Sohn David, gen. der Jüngere (1610-1690): flämische Maler] die ihm aus dem perlmuttfarbenen Glanz tausenderlei Muscheln und Sternkorallen entgegenströmte, die ihm den Duft von Tang, Algen und atlantischen Stürmen zutrugen. Doch gleich vergaß er die tosenden Fluten, da ein kostbares handgeschriebenes Messbuch mit zarten Miniaturen, azurnen und goldenen Arabesken seine Bewunderung erregte. Von friedlichen Gedanken sanft gewiegt, gab er sich aufs neue dem Studium und den Wissenschaften hin, wünschte sich das fette Leben der Mönche, frei von Leid und frei von Lust, legte sich in einer Zelle schlafen und blickte von seinem Spitzbogenfenster aus über die Wiesen, Wälder und Weinberge seines Klosters hin. Vor einigen Teniers zog er den Soldatenrock an oder teilte das harte Leben des Handwerksmannes; wünschte die schmierige, rauchgeschwärzte Mütze der Flamen aufzusetzen, spielte Karten mit ihnen, soff Bier und schäkerte mit einer drallen Bäuerin. Er zitterte vor Kälte beim Anblick eines Schneefalls von Mieris [* Mieris, wahrscheinlich Frans van Mieris der Ältere (1635 – 1681): holländischer Maler], vor allem Porträts und Genrebilder und kämpfte in einer Schlacht von Salvator Rosa. [* Salvator Rosa (1615-1673): italienischer Maler, Dichter und Musiker] Er strich mit der Hand über einen Tomahawk aus Illinois und fühlte das Skalpiermesser eines Cherokee auf seinem Schädel. Eine Rubebe, [* Rubebe: auch Rebec, ursprünglich arabisches, auch mittelalterliches Geigeninstrument mit zwei oder drei Saiten] die ihn entzückte, legte er in die Hand eines Burgfräuleins, lauschte der melodischen Romanze und abends am gotischen Kamin, im Halbdunkel, das ihm ihre gewährenden Blicke entzog, gestand er ihr seine Liebe. In vollen Zügen leerte er den Kelch der Freuden und der Schmerzen, versuchte sich in allen Daseinsformen und verausgabte sein Leben und seine Gefühle so verschwenderisch in den Trugbildern dieser plastischen und doch öden Welt, dass er den Hall seiner Schritte in sich wahrnahm wie den fernen Klang aus einer anderen Welt, wie das Brausen von Paris auf den Türmen von Notre-Dame.

      Als er die Treppe zu den Räumen im ersten Stockwerk hinaufstieg, sah er Votivschilde, Rüstungen, geschnitzte Tabernakel, Holzfiguren, die auf den Stufen standen oder an die Wände gehängt waren. Verfolgt von den seltsamsten Formen, umgaukelt von wunderbaren Schöpfungen aus dem Grenzbereich von Tod und Leben, schritt er im Zauberbann eines Traums dahin. Zuletzt schien ihm seine eigene Existenz fraglich; er war wie diese Kuriositäten weder ganz tot noch ganz lebendig. Als er die neuen Lager betrat, fing es an zu dunkeln; doch Licht schien für die dort angehäuften gold- und silberfunkelnden Schätze überflüssig. Die kostspieligsten Liebhaberstücke von Verschwendern, die in Dachstuben geendet hatten, nachdem Millionen durch ihre Finger geglitten waren, befanden sich in diesem ungeheuren Bazar menschlicher Torheiten. Ein Schreibzeug, einst mit 100000 Francs bezahlt und für 100 Sous aufgekauft, lag neben einem Geheimschloss, dessen Preis dazumal genügt hätte, einen König loszukaufen. Hier zeigte sich der menschliche Geist im ganzen Gepränge seiner Jämmerlichkeit, im vollen Glanz seiner gigantischen Beschränktheit.

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