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fragte ihn Émile.

      »Es heißt, die Todesstrafe soll infolge der Julirevolution abgeschafft werden«, antwortete Taillefer, der seine Brauen mit einer verschlagenen und zugleich einfältigen Miene hochzog.

      »Sehen Sie sie denn nicht manchmal im Traum?« fragte Raphael.

      »Es ist ja längst verjährt«, erwiderte der im Golde schwimmende Mörder.

      »Und auf sein Grab«, rief Emile hämisch, »wird der Friedhofswärter die Inschrift setzen lassen: ›Die ihr vorübergeht, weiht seinem Andenken eine Träne!‹ Oh!« fuhr er fort, »ich gäbe dem Mathematiker, der mir die Existenz der Hölle durch eine algebraische Gleichung beweisen kann, gut und gern 100 Sous.«

      Er warf ein Geldstück in die Höhe und rief: »Kopf für Gott!«

      »Sieh nicht hin!« sagte Raphael und fing die Münze auf.

      »Was weiß man schon? Der Zufall ist ein Spaßvogel.«

      »Leider!« seufzte Emile mit komisch bekümmerter Miene. »Ich sehe nicht, wohin ich zwischen der Geometrie des Ungläubigen und dem Paternoster des Papstes die Füße setzen soll. Pah! lass uns trinken! Trinken ist, glaube ich, das Orakel der göttlichen Flasche und das Schlusswort des Pantagruel.« [* Pantagruel: Titelgestalt aus dem Roman »Gargantua und Pantagruel« von François Rabelais. Diis ignotis: lat., den unbekannten Göttern]

      »Wir verdanken dem Paternoster«, antwortete Raphael, »unsere Künste, unsere Denkmäler, vielleicht sogar unsere Wissenschaften, und eine noch größere Wohltat: unsere modernen Regierungen, in welchen eine große und fruchtbare Gesellschaft vortrefflich von fünfhundert aufgeklärten Geistern repräsentiert wird, unter denen die opponierenden Kräfte einander aufheben und alle Macht der Zivilisation überlassen, der gigantischen Königin, die den König ersetzt, jenes alte Schreckgespenst, das Schicksal spielte und das die Menschen zwischen sich und den Himmel gesetzt hatten. Angesichts so vieler vollendeter Werke erscheint der Atheismus wie ein zeugungsunfähiges Gerippe. Was meinst du dazu?«

      »Ich denke an die Ströme von Blut, die der Katholizismus vergossen hat«, sagte Émile kalt. »Aus unseren Herzen und unseren Adern hat er eine zweite Sintflut über die Welt gebracht. Aber gleichviel! Jeder denkende Mensch soll unter dem Banner Christi marschieren. Er allein hat den Triumph des Geistes über die Materie geheiligt, er allein hat uns mit poetischer Kraft die Welt enthüllt, die uns von Gott trennt.«

      »Glaubst du?« antwortete Raphael mit einem seltsamen trunkenen Lächeln. »Nun denn, um uns nicht zu kompromittieren, bringen wir den berühmten Toast aus: Diis ignotis!«

      Und sie leerten ihre Becher voll Wissen, Kohlensäure, Wohlgerüche, Poesie und Ungläubigkeit.

      »Wenn Messieurs sich in den Salon begeben wollen, der Kaffee erwartet sie dort«, sagte der Haushofmeister.

      In diesem Augenblick schwebten fast alle Gäste in jenen Regionen der Seligkeit, wo das Licht des Geistes erlischt und der Körper, seines Tyrannen entledigt, sich dem Freudentaumel der Freiheit überlässt. Die einen blieben auf dem Höhepunkt der Trunkenheit trübsinnig und quälten sich, einen Gedanken zu fassen, der ihnen ihre eigene Existenz verbürgte; die anderen, in die Stumpfheit einer trägen Verdauung versunken, scheuten jede Bewegung. Beharrliche Redner stammelten noch undeutliche Worte, deren Sinn ihnen selbst entging. Ein paar Refrains wurden abgeleiert wie ein Uhrwerk, das seine künstliche seelenlose Stimme austönen lassen muss. Schweigen und Lärm hatten sich absonderlich gepaart. Trotzdem erhoben sich die Gäste, als sie die helle Stimme des Dieners vernahmen, der ihnen anstelle des Hausherrn neue Genüsse ankündigte, und schleppten, stützten, trugen sich gegenseitig fort. Die ganze Schar blieb einen Augenblick lang gebannt und entzückt auf der Türschwelle stehen. Die außergewöhnlichen Genüsse des Festmahls verblassten vor dem berückenden Schauspiel, das der Gastgeber dem wollüstigsten ihrer Sinne bot. Unter den strahlenden Kerzen eines goldenen Kronleuchters, um eine mit vergoldetem Silber gedeckte Tafel sahen die abgestumpften Gäste, deren Augen sich bald lüstern entzündeten, eine Gruppe Frauen. Blendend war der Schmuck, doch blendender noch all diese Schönheiten, vor denen alle Wunder dieses Palastes dahinschwanden. Die glühenden Blicke dieser Mädchen, so wunderschön wie Feen, funkelten lebhafter als die Ströme des Lichts, in welchem die seidigen Reflexe der Stoffe, das leuchtende Weiß des Marmors und die feinen Rundungen der Bronzen schimmerten. Das Herz entflammte, die Kontraste ihres wogenden Kopfputzes und ihre Haltungen zu sehen, die in ihrem Reiz und ihrer Eigenart so verschieden waren. Es war eine Blumenhecke, in die Rubine, Saphire und Korallen gewunden waren; man sah schwarze Halsbänder auf schneeigen Hälsen, lose Schärpen, die wie ein Leuchtturmfeuer aufflatterten, stolze Turbane, schlichte, herausfordernde Tuniken. Dieses Serail bot Verführungen für alle Augen, reizte jede Phantasie. Eine Tänzerin in entzückender Haltung schien hüllenlos unter den fließenden Falten eines Kaschmirgewandes. Mal durchscheinende Gaze, mal schillernde Seide verbarg oder verriet geheimnisreiche Vollkommenheiten. Kleine schmale Füße sprachen von Liebe, frische rote Lippen waren stumm. Zarte, sittsame junge Mädchen von täuschender Unschuld mit sanften Madonnenscheiteln boten sich den Augen wie Erscheinungen, die ein Hauch hinwegwehen konnte. Aristokratische Schönheiten mit hochmütigem Blick und lässiger Haltung, aber schlank, zart gebaut und anmutig, neigten den Kopf, als hätten sie noch königliche Gunst zu vergeben. Eine Engländerin, eine keusche ätherische Gestalt, wie aus Ossians [* Ossian: sagenhafter keltischer Sänger aus dem 3. Jahrhundert, unter dessen Namen der schottische Dichter James Macpherson (1736-1796) eine seinerzeit hochberühmte Gedichtsammlung veröffentlichte] Wolken herabgestiegen, glich einem Engel der Melancholie, dem Gewissen, das das Verbrechen flieht. Die Pariserin, deren ganze Schönheit in einer unbeschreiblichen Grazie liegt, eitel auf ihre Toilette und auf ihren Geist, gewappnet mit ihrer allmächtigen Schwäche, schmiegsam und hart, eine herzlose, leidenschaftslose Sirene, die die Gluten der Leidenschaft und die Sprache des Herzens kunstvoll vorzutäuschen versteht, fehlte nicht in dieser gefährlichen Versammlung, in der auch Italienerinnen, ruhig von Anschein und aufrichtig in ihrem Glück, üppige Normanninen mit prachtvollen Formen, südländische Frauen mit schwarzen Haaren und schön geschnittenen Augen zu finden waren. Es war, als hätte Lebel [*Lebel, Dominique-Guillaume (1696-1768): Kammerdiener Ludwigs XV., der seinem König die Mädchen zuführen musste] alle Schönheiten von Versailles zusammengetrommelt, die seit dem frühen Morgen ihre Fallstricke bereithielten und nun wie eine Schar orientalischer Sklavinnen auf Befehl des Händlers herbeigekommen waren, um mit dem Tagesgrauen wieder zu verschwinden. Sie blieben wortlos, verschämt und drängten sich dicht um den Tisch, wie Bienen in einem Bienenkorb. Diese scheue Verlegenheit, Vorwurf und Koketterie zugleich, war entweder berechnete Verführung oder unwillkürliche Scham. Vielleicht riet ihnen ein Gefühl, das die Frau niemals ganz abstreift, sich in den Mantel der Tugend zu hüllen, um das verschwenderische Laster noch reizvoller, noch verlockender zu machen. Es schien zunächst, als ob die vom alten Taillefer angestiftete Verschwörung scheitern sollte. Diese zügellosen Männer wurden anfangs von der majestätischen Macht bezwungen, die der Frau eigen ist. Bewunderndes Murmeln ertönte wie sanfte Musik. Die Liebe hatte mit der Trunkenheit nicht mithalten können; anstatt einem Orkan der Leidenschaft überließen sich die Gäste, die in einem Moment der Schwäche überrascht worden waren, den Wonnen wollüstiger Verzückung. Beim Anruf der Poesie, dem Künstler immer gehorchen, studierten sie genießerisch die zarten Abstufungen, die diese erlesenen Schönheiten unterschieden. Einem Gedanken nachgehend, der vielleicht von der dem Champagner entsteigenden Kohlensäure herrührte, sann ein Philosoph schaudernd über das Unglück nach, das diese Frauen hier zusammengebracht haben mochte, die vielleicht ehemals reinster Huldigungen würdig waren. Gewiss hatte jede von ihnen ein blutiges Drama zu erzählen. Fast alle schleppten sie höllische Qualen mit sich und hatten treulose Männer, gebrochene Schwüre, mit Elend erkaufte Freuden hinter sich. Die Gäste näherten sich ihnen höflich, und Unterhaltungen, ebenso verschiedenartig wie die Charaktere, entspannen sich. Gruppen bildeten sich. Man hätte gemeint, einen Salon der guten Gesellschaft vor sich zu haben, in welchem Mädchen und Frauen den Gästen nach Tisch Kaffee, Zucker und Liköre anbieten, die übermäßigen Essern eine widerstrebende Verdauung erleichtern. Bald jedoch erscholl Gelächter, das Murmeln schwoll an, die Stimmen erhoben sich. Die für einen Augenblick gezähmte Orgie drohte hie und da wieder loszubrechen. In diesem Wechsel von Stille und Lärm lag eine entfernte Ähnlichkeit

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