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neuem erinnerte er sich des Bürgermeisters von Verrières als des Vertreters aller Reichen und aller derer, die sich etwas anmaßten auf Erden. Aber zugleich fühlte Julian, daß sein Haß, so mächtig er ihn durchloderte, nichts mit der Person eines Einzelnen zu tun hatte. Wenn er nie wieder in das Haus des Herrn von Rênal hätte zurückkehren müssen, so hätte er ihn in acht Tagen vergessen, ihn samt seinem Schlosse, seinen Hunden, seinen Kindern und seiner ganzen Familie.

      »Ich habe ihn, ich weiß selber nicht warum, zu einem Opfer gezwungen«, sagte er sich. »Sechsundfünfzig Taler mehr im Jahre… und dies ein paar Minuten, nachdem ich der größten Gefahr entronnen! Also zwei Siege an einem Tage! Der zweite ist allerdings nicht mein Verdienst. Ich muß doch noch erspüren, wie das zugegangen ist. Morgen werde ich das erkunden!«

      Hochaufgerichtet stand Julian auf seinem Felsen und schaute in den Himmel, den die Augustsonne durchflammte. Zu Füßen der Felswand zirpten die Grillen. Wenn sie zeitweise verstummten, war Totenstille ringsumher. In der Tiefe dehnte sich das Land zwölf Meilen in die Ferne. Ein Weih flog aus den Felsenhängen zu seinen Häupten auf und zog seine weiten Kreise in der endlosen Stille. Julians Blick folgte dem Raubvogel unwillkürlich. Der ruhige erhabene Flug ergriff ihn. Er beneidete das Tier um seine Kraft. Er beneidete es um seine Einsamkeit.

      »Napoleons Schicksal war so!« dachte er bei sich. »Wird dereinst auch das meine so sein?«

      11. Kapitel

      Julian mußte sich unbedingt in Verrières zeigen. Als er aus dem Pfarrhause kam, fügte es ein glücklicher Zufall, daß er Herrn Valenod begegnete. Unverzüglich berichtete er ihm die Gehaltserhöhung.

      Wieder in Vergy, begab er sich erst nach Anbruch der Dunkelheit hinunter in den Garten. Seine Seele war erschöpft von den vielen Seelenerregungen, die er den Tag über durchgemacht hatte.

      »Was soll ich ihnen nur sagen?« fragte er sich unruhig, als er der Damen gedachte. Er ahnte nicht, daß er sich in einem Zustande befand, in dem er just für Kleinigkeiten Sinn hatte, also für das, was im Leben der Frauen gewöhnlich die Hauptsache ist. Oftmals war er Frau Derville und sogar ihrer Freundin unverständlich, und er seinerseits begriff häufig nur halb, was ihm die beiden sagten. Das war die folge der Kraftfülle und, wenn man das so nennen darf, der Großartigkeit des leidenschaftlichen Innenlebens, das die Seele dieses ehrsüchtigen jungen Mannes verwirrte. In diesem Sonderling war fast Tag für Tag Sturm.

      An diesem Abend kam Julian in einer Stimmung in den Garten, die ihn befähigte, sich in der Gedankenwelt der beiden hübschen Frauen zurechtzufinden. Sie hatten ihn mit Ungeduld erwartet. Er nahm seinen gewöhnlichen Platz ein, neben Frau von Rênal. Bald ward es völlig dunkel. Julian wollte die helle Hand ergreifen, die er schon lange neben sich auf der Stuhllehne schimmern sah. Nach einigem Zaudern entwich sie ihm, offenbar zum Zeichen der Ungnade. Julian ließ sich dies gesagt sein, plauderte aber munter weiter, zumal er Herrn von Rênal kommen hörte. Noch lagen ihm die groben Worte vom Vormittag in den Ohren.

      »Wäre es nicht die gegebene Verhöhnung dieses Individuums«, sagte er zu sich, »dieses Erbpächters der irdischen Glücksgüter und Vertreters des Mammons, wenn ich ausgerechnet in seiner Gegenwart von der Hand seiner Frau Besitz ergriffe? Ja, das werde ich tun, ich, dem er seine Verachtung genugsam bezeigt hat!«

      Fortan war die Ruhe, die Julians Wesen ohnehin ziemlich fremd war, ganz und gar hin. Das bange Verlangen, Frau von Rênal solle ihm ihre Hand überlassen, ließ ihn an nichts andres mehr denken.

      Der Bürgermeister sprach in aufgeregtem Tone von Politik. Ein oder zwei Fabrikbesitzer von Verrières seien nahe daran, reicher zu werden denn er. Sie hätten die Absicht, ihn bei den nächsten Wahlen an die Wand zu drücken. Frau Derville hörte ihm zu. Julian, den diese Rederei ärgerte, rückte seinen Stuhl dicht an den der Frau von Rênal. Die Dunkelheit verbarg jedwede Bewegung. Er wagte seine Hand ihrem schönen Arm anzuschmiegen. Sie ging kurzärmelig. Julian ward wirr zumut. Der Verstand verließ ihn. Er bückte sich und berührte den bloßen Arm mit seiner Wange. Schließlich drückte er seine Lippen darauf.

      Frau von Rênal erbebte. Ihr Ehemann saß nur vier Schritte davon. Rasch umfaßte sie Julians Hand und stieß sie im selben Moment sanft zurück. Währenddem Herr von Rênal fortfuhr, auf die Pfennigfuchser und die hochgekommenen Jakobiner zu schimpfen, bedeckte Julian die ihm nun überlassene Hand mit heißen Küssen. Wenigstens dünkten sie ihr heiß.

      Noch am Morgen dieses ereignisvollen Tages hatte die arme Frau den greifbaren Beweis in den Händen gehalten, daß der, den sie liebte, ohne es sich einzugestehn, eine andere im Herzen trug. Solange er fort gewesen war, hatte sie sich sterbensunglücklich gefühlt. Sie hatte sich gesagt: »Wie? Sollte ich Julian lieben? Ich verliebt? Ich, eine verheiratete Frau, ich bin verliebt! Niemals habe ich für meinen Mann dieses Hangen und Bangen verspürt, das meine Gedanken immer wieder zu Julian führt. Er ist doch nur ein Kind, voller Respekt zu mir. Und ich bin toll. Es wird vorübergehn. Übrigens: was gehen meinen Mann die Gefühle an, die ich für den jungen Menschen wohl hege? Meinen Mann würden Gespräche, wie ich sie mit Julian führe, über imaginäre Dinge, zu Tode langweilen. Seine Gedanken gelten immer nur seinen Geschäften. Somit nehme ich ihm nichts von dem, was ich Julian gebe.«

      Nicht die geringste Heuchelei trübte die Lauterkeit ihrer naiven Seele, die durch die erste erlebte große Leidenschaft verführt wurde. Ahnungslos ward sie deren Opfer, und doch nicht, ohne daß ein dunkles Gefühl sie gewarnt hätte. Als Julian im Garten erschien, hatte es in ihr gekämpft. Sie hörte seine Stimme, und fast im selben Augenblick saß er ihr schon zur Seite. Ihre Seele jubelte auf in der Wonne eines Glückes, das sie seit vierzehn Tagen mehr als ein Wunder denn als Verführung empfand. Das alles kam so unerwartet. Immerhin fragte sie sich nach einigen Augenblicken: »Seltsam! Julians Anwesenheit genügt also, um das Leid, das er mir angetan, wieder gutzumachen?« Erschrocken hatte sie ihm die Hand entzogen.

      Die leidenschaftlichen Küsse, wie sie noch nie welche empfangen, ließen sie jäh vergessen, daß er vielleicht eine andre liebe. Er kam ihr schon nicht mehr schuldig vor. Der bittre Schmerz, mit dem ihr Argwohn sie gequält hatte, gab einer Glückseligkeit Raum, die sie nicht einmal aus Träumereien kannte. Liebesrausch umfing sie und tolle Ausgelassenheit.

      Jedermann fand den Abend wundervoll, nur der Bürgermeister nicht, der sich die reichgewordenen Fabrikanten nicht aus dem Sinn zu schlagen vermochte. Julian hatte seinen düsteren Ehrgeiz vergessen und seine himmelstürmenden Pläne. Zum erstenmal in seinem Leben erlag er der Allmacht der Schönheit. Verloren in weicher wonniglicher Träumerei, wie sie sonst seinem Wesen fremd war, dünkte ihn die Frauenhand, die er sanft umfaßt hielt, das allerhöchste. Und wie im Halbschlummer hörte er das Rauschen der Lindenblätter im leisen Nachtwind und das ferne Hundegebell in der Mühle am Doubs.

      Aber alles das war für ihn ein Erlebnis der Sinne, nicht der Seele. Als er dann sein Zimmer betrat, empfand er die höchste Lust darin, sein Lieblingsbuch vorzunehmen. In der Phantasie eines Zwanzigjährigen vertreibt die Illusion von der Welt und der in ihr möglichen Erfolge alles andre.

      Gleichwohl legte Julian das Buch bald wieder aus der Hand. Napoleons Siege hatten ihn darauf gebracht, seinen eigenen Sieg von einem neuen Standpunkte aus zu betrachten.

      »Gewiß!« rief er aus. »Ich habe eine Schlacht gewonnen, aber ich muß sie auch ausnutzen. Ich muß diesem hochmütigen Junker den Stolz brechen, solange er sich noch auf dem Rückzuge befindet. Das ist erst wahrhaft napoleonisch! Ich werde Herrn Rênal um drei Tage Urlaub angehen und meinen alten Freund Fouqué einmal besuchen. Schlägt er mir den Urlaub ab, dann sag ich ihm Valet. Aber er gibt nach.«

      Frau von Rênal vermochte kein Auge zu schließen. Ihr war zumute, als hätte sie bis zu diesem Tage überhaupt nicht gelebt. Ihre Einbildungskraft beschäftigte sich fortwährend mit der seligen Erinnerung an die heißen Küsse, die ihr Julian auf die Hand gedrückt hatte.

      Plötzlich kam ihr das Schreckenswort Ehebruch in den Sinn. Und die allerabscheulichsten Dinge, mit denen man die Sinnenliebe schändet, tauchten vor ihr auf.

      Die Schatten dieser Gedanken verdunkelten das lichte himmlische Traumbild, das sie sich von Julian und dem Glück, ihn zu lieben, gemacht hatte. Sie schaute in eine grausige Zukunft, und sie sah sich selbst in der tiefsten Schmach.

      Der

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