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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher
Год выпуска 0
isbn 9788026824862
Автор произведения Стендаль
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Frau von Rênal hob die Matratze auf und steckte ihre Hand in das Stroh. Sie tat dies so hastig, daß sie sich die Finger aufriß. Aber obwohl sie sonst gegen kleine Schmerzen sehr empfindlich war, spürte sie die Verletzung gar nicht, denn fast im selben Augenblick fühlte sie das glatte Papier der Schachtel. Sie zog sie hervor und eilte von dannen.
Jetzt, ledig der Furcht, von ihrem Manne überrascht zu werden, gewann das Grauen vor dem Inhalt der Schachtel dermaßen die Oberhand, daß es ihr schwarz vor den Augen ward.
»So liebt Julian eine andre, und ich habe hier das Bild seiner Geliebten!«
In der Vorhalle sank sie auf einen Stuhl, ein Opfer aller Qualen der Eifersucht. Das einzige, was ihr noch Halt gab, war ihre grenzenlose Unkenntnis von Leben und Leidenschaft. Sie staunte vor sich selbst, und dies Erstaunen milderte ihren Schmerz.
Julian kam, riß ihr die Schachtel aus der Hand, und ohne ein Wort des Dankes, ohne überhaupt etwas zu sagen, lief er in sein Zimmer, wo er Feuer im Kamin machte und das Bild sofort verbrannte. Er war blaß und erschöpft. Die überstandene Gefahr dünkte ihm riesengroß.
»Napoleons Bild«, sagte er vor sich hin, indem er ein bedenkliches Gesicht zog, gefunden im heimlichen Besitze jemandes, der vor der Welt versichert, den Usurpator zu hassen! Gefunden von Herrn von Rênal, dem Erzroyalisten, meinem Feinde! Und als Krone aller meiner Dummheit stehen hinten auf der weißen Pappe des Bildes Kritzeleien von meiner Hand, die untrüglichsten Offenbarungen meiner Napoleonsschwärmerei! Mit den genauen Daten dieser Liebesergüsse! Das letztemal vorgestern!«
Als die Schachtel in Flammen aufging, fuhr er fort: »Im nächsten Augenblick wäre mein guter Ruf zum Teufel gegangen! Mein guter Ruf, mein einzig Hab und Gut! Ihm danke ich das Dasein … großer Gott… dieses armselige Dasein!«
Eine Stunde später hatte ihn die Müdigkeit und das Mitleid mit sich selbst milder gestimmt. Als er Frau von Rênal begegnete, ergriff er ihre Hand und küßte sie, aufrichtig wie noch nie. Sie ward vor Glück rot, aber fast im nämlichen Augenblick wehrte sie Julian in aufwallender Eifersucht von sich ab. Von neuem in seinem Stolz verletzt, gebärdete er sich diesmal wie ein Narr. Er sah in Frau von Rênal nichts denn die reiche Dame. Er ließ ihre Hand los und rannte weg. Grübelnd lief er im Garten auf und ab, ein bitteres Lächeln um seine Lippen. Schließlich kam er zu folgender Erkenntnis: »Hier gehe ich nun spazieren, als sei ich ganz Herr meiner Zeit. Ich kümmere mich nicht um die Kinder. Ich setze mich abermals dem aus, daß mich Herr von Rênal demütigt, mit Recht demütigt!«
Er eilte in das Kinderzimmer. Die Zärtlichkeiten des Jüngsten, seines Lieblings, besänftigten ein wenig sein wehes Leid.
»Der mißachtet mich noch nicht!« dachte Julian. Alsbald aber machte er sich aus dem Nachlassen seines Schmerzes den Vorwurf, doch ein Schwächling zu sein.
10. Kapitel
Herr von Rênal kam mit den Dienstboten, die die Matratzen wieder an Ort und Stelle brachten, nach und nach durch alle Räume des Schlosses. So auch abermals in das Kinderzimmer.
Sein unerwartetes Erscheinen brachte Julians Zorn zum Ausbruch. Bleicher und finsterer denn sonst trat er ihm entgegen. Herr von Rênal blieb stehen und sah seinen Leuten zu.
»Herr Bürgermeister«, begann Julian, »glauben Sie, jeder beliebige Hauslehrer brächte die Kinder so gut vorwärts wie ich?« Und ohne Herrn von Rênal zu Worte kommen zu lassen, fuhr er fort: »Wenn Sie darauf mit nein antworten müssen, wieso dürfen Sie mir dann vorwerfen, ich vernachlässigte die Kinder?«
Herr von Rênal war zunächst starr vor Schreck. Dann aber zog er sofort aus dem auffälligen Tone, den sich der Bauernjunge herausnahm, den Schluß, daß er ein vorteilhaftes Angebot in der Tasche haben müsse und das Haus verlassen wolle. Währenddem redete sich Julian immer mehr in die Wut. Seine letzten Worte waren: »Ich komme auch ohne Sie in der Welt weiter, Herr Bürgermeister!«
Herr von Rênal erwiderte, ein wenig stotternd: »Es tut mir wirklich leid, daß Sie so aufgeregt sind.«
Die Dienstboten waren, keine zehn Schritte weit, immer noch mit den Betten beschäftigt.
»Das macht die Sache nicht wieder gut!« erwiderte Julian aufgebracht. »Erinnern Sie sich der niederträchtigen Worte, die Sie gegen mich gerichtet haben, und obendrein vor den Damen!«
Herr von Rênal glaubte zu wissen, worauf Julian hinauswollte. Die ganze Geschichte war ihm höchst peinlich.
Schließlich verlor Julian jedwede Selbstbeherrschung. Er schrie geradezu.
»Ich weiß, wohin ich gehe, wenn ich dies Haus verlasse, Herr Bürgermeister!«
Herr von Rênal sah seinen Hauslehrer im Geist bereits bei Valenod.
»Hören Sie mal, Herr Sorel!« sagte er nunmehr, beinahe stöhnend und mit einem Gesicht, als stünde er vor einer sehr schmerzhaften ärztlichen Operation. »Ich füge mich Ihrem Wunsche. Übermorgen ist der Erste. Fortan erhöhe ich Ihr Gehalt auf fünfzig Franken.«
Julian hätte am liebsten laut aufgelacht, aber er verzog keine Miene. All sein Zorn war verlodert.
»Diesen Trottel habe ich noch gar nicht genug verachtet«, sagte er sich. »Zweifellos ist das die höchste Satisfaktion, die einem eine so inferiore Seele zu geben vermag.«
Die Kinder, die bei diesem Auftritt Mund und Ohren aufgesperrt hatten, rannten in den Garten, um ihrer Mutter zu vermelden, daß Herr Julian sehr böse geworden sei, aber nun bekäme er monatlich fünfzig Franken. Julian ging ihnen nach, wie er dies gewohnt war. Herr von Rênal, der keines Blicks gewürdigt ward, schaute ihm ärgerlich nach.
»Der Valenod kostet mich also einhundertachtundsechzig Franken!« schimpfte er bei sich. »Warte nur, ich werde dir bei deinen Findelkindern ein bißchen mehr auf die Finger sehen!«
Ein paar Minuten später stand Julian abermals vor Herrn von Rênal.
»Herr Bürgermeister, ich möchte in einer Gewissenssache zum Herrn Pfarrer«, sagte er, »und ich bitte gehorsamst, mich gütigst auf einige Stunden beurlauben zu wollen.«
»Aber gern, mein lieber Julian«, entgegnete Herr von Rênal mit heuchlerischer Leutseligkeit. »Den ganzen Tag, wenn Sie wollen, auch morgen noch, Verehrtester! Nehmen Sie den Gärtnergaul und reiten Sie nach Verrières!«
»Aha!« dachte er bei sich. »Jetzt will er ins Städtchen, Valenod Bescheid geben. Verpflichtet hat er sich mir nicht. Aber so einem Heißsporn muß man Zeit lassen, wieder vernünftig zu werden.«
Julian machte sich unverzüglich auf den Weg nach Verrières, und zwar zu Fuß, auf dem Höhenpfad durch den Wald. Er hatte es durchaus nicht eilig, zu Chélan zu kommen. Vor dem guten Pfarrer die Komödie der Heuchelei weiterzuspielen, dazu spürte er die geringste Lust. Vielmehr hatte er das Bedürfnis, mit sich selbst ins klare zu kommen und das Chaos in seiner Seele zu belauschen.
»Ich habe eine Schlacht gewonnen!« frohlockte er, als er in der Einsamkeit des Hochwaldes dahinschritt, fern den Blicken der Menschen. »Ich habe eine Schlacht gewonnen!«
Dieser Siegesruf durchsonnte ihm all sein Lebensleid. Etwas wie Frieden zog in seine Brust ein.
»Jetzt habe ich also fünfzig Franken Monatsgehalt. Mich dünkt, Herr von Rênal hat eine Heidenangst vor mir. Warum denn eigentlich?«
Der Gedanke, einem so glücklichen und mächtigen Manne, auf den er vor kaum einer Stunde wütend gewesen, doch Furcht eingejagt zu haben, stimmte ihn vollends heiter. Einen Augenblick lang ergriff ihn sogar die wunderbare Schönheit des Waldes, durch den er wanderte. Hohe nackte Felsenblöcke, vor Urzeiten vom Kamme der Berge hierher gerollt, reckten sich unter den riesigen Rotbuchen, fast gleich hoch wie diese. Aus dem Gestein drang köstliche Kühle, während ein paar Schritte weiter die unerträglichste Sonnenglut brannte.
Im Schatten der hohen Felsen rastete Julian eine Weile. Dann stieg er weiter, einen schmalen, kaum erkennbaren Saumpfad empor, den nur die Ziegenhirten benutzten. So gelangte er auf einen Vorsprung.
Kein Mensch weit und breit. Ungestört stand Julian da droben. Lachend. So frei wie hier