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er es wagen sollte, die schimmernde Hülle zu lüften, die das Geheimnis seines Lebens barg. »Ich will Sie nicht länger aufhalten. Schönsten Dank, daß Sie so freundlich waren, herüberzukommen.«

      »Kein Anlaß, kein Anlaß, Herr Gray! Es ist mir immer ein Vergnügen, für Sie etwas tun zu dürfen.«

      Und Herr Hubbard stapfte die Treppe hinab, sein Gehilfe hinterher, der noch einmal nach Dorian zurückblickte, mit einem Ausdruck scheuer Bewunderung in dem unschönen Alltagsgesicht. Er hatte nie einen Menschen gesehen, der so wunderhübsch war.

      Als das Geräusch ihrer Fußtritte verklungen war, schloß Dorian die Tür zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Jetzt fühlte er sich gleichsam gerettet! Nie würde jemand das Schrecknis sehen. Kein Auge als seines würde mehr seine Schande erblicken.

      Als er wieder in die Bibliothek kam, sah er, daß es gerade fünf Uhr war und daß der Tee schon bereit stand. Auf einem kleinen Tisch aus dunklem, wohlriechendem Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war, einem Geschenk der Frau seines Vormundes, Lady Radley, einer hübschen Kranken von Beruf und Gewohnheit, die den vergangenen Winter in Kairo zugebracht hatte, lag ein Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch in gelbem, leicht abgenutztem und an den Ecken nicht mehr ganz sauberem Umschlag. Ein Exemplar der dritten Tagesausgabe der St.-James-Gazette lag auf dem Teebrett. Offenbar war Viktor zurückgekehrt. Er fragte sich, ob er wohl die Leute in der Vorhalle getroffen hätte, als sie das Haus verließen, und ob er sie ausgeforscht hätte, was sie getan hätten. Er würde sicher das Bild vermissen – hatte es ohne Zweifel schon vermißt, als er den Teetisch zurecht machte. Der Schirm war noch nicht an seinen Platz zurückgestellt worden, und der leere Raum an der Wand war auffallend. Vielleicht würde er ihn eines Nachts ertappen, wie er hinaufschlich und die Tür des Bodenzimmers zu sprengen versuchte. Es war schrecklich, einen Spion im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten gehört, die ihr ganzes Leben hindurch von den Erpressungen eines Bedienten ausgesaugt wurden, der mal irgendeinen Brief gelesen oder ein Gespräch mitangehört oder eine Karte mit einer Adresse gefunden oder unter einem Kissen eine verwelkte Blume oder einen Fetzen zerknitterter Spitze entdeckt hatte.

      Er seufzte, goß sich etwas Tee ein und öffnete Lord Henrys Billett. Es stand nur darin, daß er ihm die Abendzeitung schicke und ein Buch, das ihn vielleicht interessieren werde, und daß er ihn um Viertel neun im Klub zu treffen hoffe. Er öffnete langsam die St.-James und durchflog sie. Ein Strich mit Rotstift auf der fünften Seite fiel ihm auf. Er machte auf die folgende Notiz aufmerksam:

      » Leichenschau einer Schauspielerin. Eine gerichtliche Untersuchung wurde heute morgen von Herrn Danby, dem Bezirks-Leichenbeschauer in der Bell Tavern, Hoxton Road, über den Leichnam von Sibyl Vane, einer jungen Schauspielerin, die seit kurzem am Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten. Es wurde auf Tod durch einen Unglücksfall erkannt. Reges Mitgefühl erweckte die Mutter der Verblichenen, die während ihrer Aussage und der des Dr. Birrel, der die Obduktion der Leiche vorgenommen hatte, ihrem Schmerz erschütternden Ausdruck gab.«

      Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt, lief im Zimmer auf und ab und warf die Papierfetzen weg. Wie häßlich das alles war! Und was für eine schreckliche Wirklichkeit die Häßlichkeit allem gab! Er ärgerte sich ein wenig über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt hatte. Und sicher war es albern von ihm, ihn mit Rotschrift anzustreichen. Viktor konnte ihn gelesen haben. Der Mann verstand dafür mehr als genug Englisch.

      Vielleicht hatte er ihn schon gelesen und angefangen, Verdacht zu schöpfen. Und wenn schon, was lag daran? Was hatte Dorian Gray mit Sibyl Vanes Tod zu tun? Es war kein Grund zur Furcht. Dorian Gray hatte sie nicht getötet.

      Sein Auge fiel auf das gelbe Buch, das ihm Lord Henry geschickt hatte. Er war gespannt, was es sein mochte. Er trat an den kleinen perlfarbenen, achteckigen Hocker, der ihm immer wie das Werk seltsamer ägyptischer Bienen vorgekommen war, die ihre Waben in Silber trieben, nahm den Band zur Hand, warf sich in einen Lehnsessel und begann zu blättern. Nach einigen Augenblicken kam er nicht mehr davon los. Es war das merkwürdigste Buch, das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als zögen in erlesenen Prachtgewändern und zum Klange von Flöten die Sünden der Welt in stummem Reigentanze an ihm vorbei. Dinge, die er bestimmt geträumt hatte, wurden plötzlich zur Wirklichkeit. Dinge, von denen er vag geträumt hatte, wurden ihm mählich enthüllt.

      Es war ein Roman ohne rechte Handlung, der sich um einen einzigen Charakter drehte, eigentlich eine bloße psychologische Studie über einen gewissen jungen Pariser, der sein Leben mit dem Versuche hinbrachte, im neunzehnten Jahrhundert alle Leidenschaften und Wandlungen der Denkungsart in Wirklichkeit umzusetzen, die jedem Jahrhundert, außer seinem eigenen, angehört hatten, und so die verschiedenartigen psychischen Zustände, die irgend einmal die Weltseele durchgemacht hatte, in sich selbst gewissermaßen zu vereinigen, indem er jene Entsagungen, die die Menschen in ihrer Torheit Tugend genannt haben, ihrer bloßen Künstlichkeit wegen ebenso heftig liebte wie jene Empörungen gegen die Natur, die weise Menschen noch immer Sünden nennen. Der Stil, in dem das Buch geschrieben war, bestand in jener sonderbaren, reich geschmückten Diktion, die lebendig und dunkel zugleich ist, von Argotausdrücken und archaistischen Wendungen, von technischen Ausdrücken und sorgsam gefeilten Umschreibungen strotzt, wie sie die Arbeiten einiger der feinsten Künstler aus der französischen Symbolistenschule kennzeichnet. Es waren Metaphern darin, so abenteuerlich an Form wie Orchideen und auch so fein angehaucht wie deren Farbentöne. Das Leben der Sinne war mit einer Terminologie mystischer Philosophie beschrieben. Man wußte manchmal kaum, ob man von den vergeistigten Entzückungen eines mittelalterlichen Heiligen las oder die krankhaften Beichtbekenntnisse eines modernen Sünders. Es war ein Buch voll Gift. Ein dicker Weihrauchnebel schien über den Seiten zu schweben und das Gehirn zu betäuben. Schon der melodische Fall der Sätze, die gesuchte Monotonie ihrer Musik mit der Fülle von komplizierten Refrains und Taktgefügen, die sich in der raffiniertesten Weise wiederholten, erzeugten im Geist des Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel weiterlas, eine Art Träumerei, ja eine förmliche Krankheit des Träumens, so daß er den sinkenden Tag und die hereinkriechenden Schatten nicht merkte.

      Wolkenlos, von den Strahlen keines einzigen Sternes durchstochen, glimmerte ein kupfergrüner Himmel durch die Fenster. Er las bei seinem matten Licht weiter, bis er nicht mehr lesen konnte. Nachdem ihn sein Diener mehrere Male an die späte Stunde erinnert hatte, stand er auf, ging ins Nebenzimmer, legte das Buch auf das Florentiner Tischchen, das immer neben seinem Bett stand, und begann sich zum Diner umzukleiden.

      Es war fast neun Uhr, als er im Klub ankam, wo er Lord Henry allein und sehr gelangweilt aussehend, im Frühstückszimmer sitzend, antraf.

      »Es tut mir zwar leid, Harry,« rief er, »aber es ist nur deine Schuld. Das Buch, das du mir geschickt hast, hat mich wirklich so gefesselt, daß ich gar nicht merkte, wo die Zeit geblieben ist.«

      »Ja, ich dachte mir, daß es dir gefällt«, antwortete der Freund, sich vom Stuhle erhebend.

      »Ich habe nicht gesagt, daß es mir gefällt, Harry. Ich habe gesagt, es fesselte mich. Das ist ein großer Unterschied.«

      »Ah, das hast du entdeckt?« sagte Lord Henry. Und sie gingen zusammen in den Speisesaal.

       Inhaltsverzeichnis

      Jahre hindurch konnte sich Dorian Gray von dem Einfluß dieses Buches nicht losmachen. Oder es wäre vielleicht richtiger zu sagen, er versuchte gar nicht, sich von ihm loszumachen. Er ließ sich aus Paris nicht weniger als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und ließ sie verschiedenfarbig einbinden, damit sie zu den wechselnden Launen und veränderlichen Stimmungen seiner Natur paßten, über die er bisweilen jede Herrschaft verloren zu haben schien. Der Held, der wunderbare junge Pariser, bei dem das romantische und das wissenschaftliche Temperament so merkwürdig vermischt waren, wurde für ihn eine Art vorbildlicher Idealgestalt seiner selbst. Und in der Tat schien ihm das ganze Buch die Geschichte seines Lebens zu enthalten, aufgeschrieben, bevor er selbst es gelebt hatte.

      In einer Beziehung aber war er glücklicher als der phantastische Romanheld. Er kannte nie – hatte in der Tat auch nie einen Grund dazu –

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