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Das ist alles, was man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind bloße Schecks, die man auf eine Bank ausstellt, bei der man kein Konto hat.«

      »Harry«, rief Dorian Gray, der sich näherte und neben ihn setzte. »Warum kann ich diese Tragödie nicht so stark empfinden, wie ich müßte? Ich kann nicht glauben, daß ich herzlos bin. Glaubst du das von mir?«

      »Du hast in den letzten vierzehn Tagen zuviel törichte Streiche begangen, als daß du einen Anspruch auf diesen Ehrentitel haben könntest, Dorian«, erwiderte Lord Harry mit seinem stillen, melancholischen Lächeln.

      Der Jüngling runzelte die Stirn. »Diese Erklärung besagt mir eigentlich nichts, Harry, aber ich bin dennoch froh, daß du mich nicht für herzlos hältst. Ich bin es gewiß nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin. Und doch muß ich zugeben, daß dies Ereignis mich nicht so angreift, wie es sollte. Es kommt mir wie der wunderbare Szenenschluß eines wunderbaren Dramas vor. Es hat die schreckliche Schönheit einer griechischen Tragödie, einer Tragödie, in der ich eine große Rolle gespielt habe, aber in der ich selbst nicht verwundet worden bin.«

      »Es ist eine interessante Frage,« sagte Lord Harry, dem es ein ausgesuchtes Vergnügen bereitete, mit dem unbewußten Egoismus des jungen Mannes zu spielen – »eine außerordentlich interessante Frage. Ich meine, die wahre Erklärung ist wohl die. Es kommt oft vor, daß sich die Wirklichkeits-Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen Form abspielen, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt, ihren absoluten Mangel an Zusammenhang, durch ihre lächerliche Sinnlosigkeit und ihre außerordentliche Stillosigkeit verletzen. Sie betrüben uns genau so, wie es die Gemeinheit tut. Sie geben uns ein Gefühl einer jähen, brutalen Gewalt, und wir lehnen uns dagegen auf. Manchmal aber kreuzt eine Tragödie unser Leben, die künstlerische Schönheitselemente in sich birgt. Wenn diese Schönheitselemente wirklich vorhanden sind, dann ergreift die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische Wirkung. Wir entdecken auf einmal, daß wir nicht mehr die Darsteller, sondern die Zuschauer des Stückes sind. Oder richtiger, wir sind beides. Wir beobachten uns selbst und werden von dem Wundersamen des Schicksals erschüttert. Was ist in vorliegendem Falle wirklich geschehen? Jemand hat sich aus Liebe zu dir umgebracht. Ich wollte, mir wäre je so ein Erlebnis passiert. Ich wäre den Rest meines Lebens in die Liebe verliebt gewesen. Die Menschen, die mich angebetet haben – es waren ihrer nicht sehr viele, aber doch immerhin einige –, waren immer darauf versessen, weiterzuleben, noch lange, nachdem ich aufgehört hatte, mich um sie zu kümmern, oder sie, sich um mich zu kümmern. Sie sind dann dick und langweilig geworden, und wenn ich ihnen jetzt begegne, schwelgen sie sofort in Erinnerungen. Dies furchtbare zähe Gedächtnis der Frauen! Was für 'ne schreckliche Sache das ist! Und was für einen völligen geistigen Stillstand offenbart es! Man sollte die Farbe des Lebens in sich aufsaugen, aber sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind immer gewöhnlich.«

      »Ich muß Mohnblumen in meinen Garten säen«, seufzte Dorian.

      »Das ist nicht notwendig«, erwiderte sein Gefährte. »Das Leben selbst hat immer Mohnblumen vorrätig. Natürlich, dann und wann halten die Dinge länger an. Einmal habe ich eine ganze Saison lang nichts als Veilchen getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen Roman, der nicht sterben wollte. Schließlich indessen ist er gestorben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ihn getötet hat. Ich vermute, es kam durch ihren Vorschlag, mir die ganze Welt aufzuopfern. Das ist immer ein schrecklicher Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecknissen der Ewigkeit. Schön – würdest du es nun glauben? – Vorige Woche, bei Lady Hampshire, saß ich bei Tisch neben der fraglichen Dame, und sie konnte wiederum nicht anders, als die ganze Sache durchzunehmen, die Vergangenheit aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen. Ich hatte den ganzen Roman unter einem Asphodelosbeet begraben. Sie scharrte ihn wieder aus und versicherte mir, daß ich ihr Leben zerstört habe. Ich fühle mich verpflichtet festzustellen, daß sie trotzdem mit staunenswertem Appetite aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse empfand. Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie! Der einzige Reiz der Vergangenheit liegt eben darin, daß sie vergangen ist. Aber Frauen wissen nie, wann der Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen sechsten Akt, und sowie das ganze Interesse an dem Stück erlahmt ist, schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen ihren Willen ließe, erlebte jede Komödie einen tragischen Schluß, und jede Tragödie gipfelte in einer Farce. Sie sind oft entzückende Kunstprodukte, aber sie haben keinen Sinn für die Kunst. Du bist glücklicher als ich. Ich versichere dir, Dorian, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt habe, hätte für mich getan, was Sibyl Vane für dich vollbrachte. Gewöhnliche Frauen trösten sich immer. Einige von ihnen tun es, indem sie sich in empfindsame Farben verlieben. Traue niemals einer Frau, die Malven trägt, wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig, die rosa Bänder liebt. Das bedeutet immer, daß sie eine Geschichte haben. Andere finden starken Trost darin, plötzlich die Vorzüge ihrer Männer zu entdecken. Sie reiben einem ihr eheliches Glück unter die Nase, als wäre das die fesselndste Sünde. Einige wieder tröstet die Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize einer Liebelei an sich, hat mir einmal eine Frau versichert und ich kann es wohl verstehen. Übrigens macht unsereinen nichts so eitel, als wenn einem gesagt wird, man wäre ein Sünder. Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten. Ja; die Tröstungen haben wirklich kein Ende, die die Frauen im modernen Leben finden. Die wichtigste habe ich noch gar nicht erwähnt.«

      »Welche ist das, Harry?« fragte der junge Mann zerstreut.

      »Oh, der alltäglichste Trost. Einer anderen Frau ihren Anbeter nehmen, wenn man den eigenen verloren hat. In der guten Gesellschaft findet eine Frau auf solche Weise immer ihr Fahrwasser wieder. Aber wirklich, Dorian, wie anders muß Sibyl Vane gewesen sein als alle die sonstigen Frauen, denen man begegnet. Für mich liegt in ihrem Tod etwas ganz Wunderschönes. Es freut mich, daß ich in einem Jahrhundert lebe, wo solche Wunder noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die Wirklichkeit der Dinge, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik, Leidenschaft und Liebe.«

      »Ich war furchtbar grausam gegen sie. Du vergißt das.«

      »Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, die ganz alltägliche Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes. Sie haben wundervoll primitive Instinkte. Wir haben sie emanzipiert, aber sie bleiben Sklavinnen, die den Blick auf ihre Herren gerichtet halten, trotz allem. Sie lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß du glänzend aufgetreten bist. Ich habe dich nie wirklich und durchaus erzürnt gesehen, aber ich kann mir vorstellen, wie entzückend du ausgesehen haben mußt. Und außerdem sagtest du vorgestern etwas zu mir, was mir damals nur ein phantastischer Einfall schien, aber jetzt sehe ich, daß es völlig wahr gewesen ist, und ich halte es für den Schlüssel zu dem ganzen Ereignis.«

      »Was war das, Harry?«

      »Du hast zu mir gesagt, Sibyl Vane verkörpere dir alle Frauengestalten der Romantik – sie sei an einem Abend Desdemona und am anderen Ophelia; wenn sie als Julia sterbe, erwache sie als Imogen wieder zum Leben.«

      »Sie wird nie wieder zum Leben erwachen«, ächzte der Jüngling und barg sein Gesicht in den Händen.

      »Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie hat ihre letzte Rolle gespielt. Aber du mußt an diesen einsamen Tod in dem ärmlichen Garderobenzimmer denken wie an ein seltsam schauriges Fragment aus einer Tragödie von der Zeit König Jakobs her, wie an eine wunderbare Szene bei Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das Mädchen hat nie wirklich gelebt, also ist sie auch nie wirklich gestorben. Für dich war sie ja niemals mehr als ein Traum, ein Schattengeist, der durch Shakespeares Dramen huschte und sie durch ihr Dasein noch reizvoller machte, der Ton einer Flöte, durch die Shakespeares Musik noch reicher und freudiger ertönte. Im Augenblick, wo sie das wirkliche Leben berührte, zerstörte sie es, und es zerstörte sie, und so schied sie dahin. Trauere um Ophelia, wenn es dir behagt. Streu Asche auf dein Haupt, weil Kordelia erwürgt wurde. Schrei zum Himmel, weil die Tochter des Brabantio starb. Aber verschwende deine Tränen nicht um Sibyl Vane. Sie war weniger wirklich, als jene sind.«

      Es entstand ein Schweigen. Der Abend dämmerte im Zimmer. Geräuschlos auf silbernen Füßen schlichen die Schatten aus dem Garten herein. Die Farben verschwanden müde aus allen Dingen.

      Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. »Du hast mich mir selber klargemacht«, flüsterte er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Alles,

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