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die sich vor vielen Jahren am Genfer See zwischen Friederike und einem französischen Kapitän angesponnen, und auf die eines der eben gelesenen Billette hinwies, hatte er seinerzeit entstehen gesehen, freilich ohne ihrer Bedeutung inne zu werden oder ohne sich berechtigt zu fühlen, die Selbstbestimmung einer mehr als Dreißigjährigen anzutasten; und daß zwischen Friederike und Böhlinger schon in längst entschwundener Kinderzeit eine ernste Neigung sich ankündigte, war ihm ebensowenig verborgen geblieben, wenn ihm auch deren weitere Entwicklung notwendig entgehen mußte. Und so war es wohl möglich, daß die sonderbaren Blicke, die Friederike in den letzten Jahren manchmal auf ihm hatte ruhen lassen, nicht, wie er früher gefürchtet, Klage und Vorwurf, sondern daß sie vielmehr eine Bitte um Verzeihung bedeuteten, weil sie, all ihr Fühlen und 169 Erleben vor ihm verschließend, als eine Fremde neben ihm einhergegangen war. Aber auch er hatte von mancherlei, was er in all der Zeit erlebt und durchfühlt, und was sich in solchen ungelesen zu verbrennenden Briefen wahrscheinlich nicht minder bedenklich ausgenommen hätte als Friederikens Herzensabenteuer, ihr gerade nur das Harmloseste erzählt, und so glaubte er sich nicht berechtigt, ihr eine geschwisterlich keusche Verschwiegenheit nachzutragen, die er selbst so sorgfältig zu hüten gewußt hatte.

      Katharina stand hinter seinem Sessel und legte die Hände um seine Stirn. »Du?« fragte er wie erwachend. »Ich war schon zweimal herinnen,« sagte sie, »aber du warst so vertieft, ich wollte dich nicht stören.« Er sah auf die Uhr. Es war halb neun. Vier Stunden lang war er in jenes abgelaufene Schicksal eingesponnen gewesen. »Ich habe alte Briefe meiner armen Schwester durchgesehen,« sagte er, Katharina auf seinen Schoß niederziehend. »Sie war ein merkwürdiges Wesen.« Einen Augenblick dachte er daran, Katharinen einiges aus dem Inhalt der 170 Briefe mitzuteilen, aber er fühlte gleich, daß er das Andenken der Toten nur verletzen würde, wenn er sich einfallen ließe, ihre Geschicke vor einem Geschöpf auszubreiten, dem notwendig das tiefere Verständnis dafür fehlen und das sich am Ende einfallen ließe, hier gewisse Ähnlichkeiten herauszuspüren, die in höherem Sinne keineswegs vorhanden waren. So deutete er denn durch eine Handbewegung, mit der er die Briefe zugleich zur Seite schob, an, daß sie das Vergangene sollten ruhen lassen; und im Ton eines Menschen, der aus dunklen Träumen zu einer lichten Gegenwart emportaucht, fragte er Katharina, wie sie sich indes die Zeit vertrieben. Sie hätte in ihrem Roman weitergelesen, berichtete sie, das Silber und das Glas auf dem Toilettetisch wieder einmal sorgfältig geputzt, an dem weiten chinesischen Hauskleid einige Knöpfe versetzt; schließlich aber mußte sie auch eingestehen, daß sie ein halbes Stündchen im Treppenhaus mit der Buchdruckersgattin geschwatzt, die doch eine recht brave, tüchtige Frau sei, wenn der gestrenge Herr Doktor sie auch nicht wohl leiden möge. Ihm war 171 es freilich weder recht, daß sie an der Unterhaltung mit einer so untergeordneten Person Gefallen fand, noch daß sie mit dem chinesischen Schlafrock angetan im Treppenhaus gestanden war; aber nun dauerte es ja nicht mehr lange, in wenigen Tagen war er weit fort, in einer würdigeren, reineren Umgebung; würde Katharina niemals und auch die Heimatstadt nur auf Stunden und Tage wiedersehen, da ja das Sanatorium hoffentlich das ganze Jahr hindurch seine Anwesenheit und Tätigkeit erfordern dürfte. So liefen seine Gedanken weiter, während er Katharina noch immer auf dem Schoße hielt und mechanisch mit der einen Hand ihre Wangen und ihren Hals streichelte. Plötzlich aber merkte er, daß sie ihn aufmerksam und traurig betrachtete. »Was hast du?« fragte er. Sie schüttelte nur den Kopf und versuchte zu lächeln. Und er sah mit Rührung und Staunen, wie ein paar kleine Tränen aus ihren Augen rollten. »Du weinst,« sagte er leise und war in diesem Augenblick Sabinens sicherer als je zuvor. – »Was du nicht denkst,« erwiderte Katharina, sprang auf, 172 machte ein lustiges Gesicht, öffnete die Türe zum Speisezimmer und wies auf den freundlich gedeckten Tisch. »Und erlauben der Herr Doktor auch, daß ich im Schlafrock bleibe?«

      Da fiel ihm ein, daß er ihr wieder etwas vom Boden heruntergebracht hatte; er suchte nach dem Bernsteinkettchen, das auf dem Schreibtisch zwischen die Briefe geglitten war, und als er es gefunden, legte er es ihr um den Hals. »Schon wieder?« sagte sie. – »Nun ist es aber auch das letzte,« erwiderte er, doch gleich bedauerte er die Bemerkung, die schwerer klang, als sie gemeint war. Er wollte sich verbessern. »Ich meine nämlich« – Sie erhob leicht die Hand, als wollte sie ihm Schweigen gebieten. Sie setzten sich zu Tische. Plötzlich nach einigen Bissen fragte sie: »Wirst du manchmal an mich denken dort unten?« Es war das erstemal, daß sie auf die bevorstehende Trennung anspielte, so daß Gräsler etwas betroffen war, was sie ihm wohl anmerkte, denn sie setzte rasch hinzu: »Sag’ nur ja oder nein.« – »Ja,« erwiderte er, mühsam lächelnd. Sie nickte, wie vollkommen befriedigt, schenkte für sie beide 173 Wein ein, und nun plauderte sie weiter in ihrer Art, harmlos, lustig, als gäbe es kein Abschiednehmen – oder doch, als läge ihr wenig daran, wenn es einmal dazu kommen mochte. Später wickelte sie sich fest in den chinesischen Schlafrock, dann wieder ließ sie ihn, der ihr viel zu weit war, frei um ihre Glieder wallen, zog ihn über den Kopf, ließ ihn sinken, dann tanzte sie im Zimmer auf und ab, in der einen Hand das geraffte Hauskleid mit den goldgestickten Drachen, in der andern das Weinglas, lachte hell mit verschwimmenden süßen Augen; endlich nahm Gräsler sie in die Arme und trug sie mehr, als er sie führte, in Friederikens halbdunkles Gemach, wo er sie mit einer Lust umfing, auf deren geheimem Grund er den dumpfen Groll gegen die Dahingeschiedene, die Schwester, die Lügnerin zittern und verglühen fühlte.

      14.

       Inhaltsverzeichnis

      Am nächsten Morgen, noch während Katharina schlief, erhob sich Gräsler von ihrer Seite, um 174 seine kleine Patientin, die sich längst vortrefflich befand, aber das Bett noch nicht verlassen durfte, ein letztes Mal zu besuchen. Doch daß von seiner so nahe bevorstehenden Abreise nicht etwa auf dem Umweg über die Buchdruckersgattin die Kunde zu Katharina dringe, versicherte er die freundliche Mutter seiner Kranken, daß er wohl noch eine Woche in der Stadt zu bleiben gedenke. Frau Sommer lächelte: »Wie gut begreif’ ich, daß Ihnen der Abschied von Ihrer kleinen Freundin schwer wird! Was für ein reizendes Geschöpf! Und wie sie gar in dem chinesischen Schlafrock aussieht, den Sie ihr geschenkt haben.« – Der Doktor runzelte die Stirn, dann beschäftigte er sich mit der kleinen Fanny, die ihre blonde Puppe mit Kinderernst frisierte. Vor einigen Tagen hatte er begonnen, dem Kinde von den wilden Tieren zu erzählen, die einst, für einen Zirkus bestimmt, auf dem gleichen Schiff mit ihm von Australien nach Europa gereist waren; und seither ließ ihn die Kleine nie fort, ohne daß er die Geschichte wiederholen und ihr eine genaue Schilderung der Löwen, Tiger, Panther, Leoparden 175 geben mußte, deren Fütterung in den unteren Schiffsräumen er zuweilen beigewohnt hatte. Heute faßte er sich kürzer als sonst, denn vor der für morgen früh geplanten Abfahrt hatte er noch allerlei Vorbereitungen zu treffen. Er stand plötzlich auf zur großen Unzufriedenheit der Kleinen, wurde aber noch in der Tür von Frau Sommer mit einem Dutzend Fragen hinsichtlich der weiteren Pflege des Kindes angehalten, die er schon hundertmal beantwortet hatte. Seine Ungeduld entging ihr nicht, aber sie versuchte, ihm das Scheiden schwer zu machen, indem sie gewohntermaßen sich nah, fast bis zur Berührung, an ihn herandrängte und ihn mit dankbar zärtlichen Augen anblickte. Endlich gelang es ihm, sich loszureißen, und rasch eilte er die Treppe hinunter. Katharina hatte von ihm nur so viel erfahren, daß er heute allerlei in der Stadt besorgen und endlich einmal sich auch wieder im Spital zeigen wolle, so daß sie nicht ungeduldig werden und er zu seinen Reisevorbereitungen genügend Zeit haben mochte. Er fuhr ins Krankenhaus, verabschiedete sich vom Chefarzt, machte einige 176 Einkäufe in der Stadt, gab Auftrag wegen Fortschaffung und Verladung seines Gepäcks und sprach endlich bei Böhlinger vor, mit dem er noch allerlei Geschäftliches zu bereden hatte. Jener schien seine Unruhe kaum zu bemerken und gab ihm, mit einigen klugen Ratschlägen, die besten Wünsche für einen günstigen Abschluß des Anstaltskaufes auf die Reise mit. Er enthielt sich, mit Absicht offenbar, jeder naheliegenden Anspielung, und Gräsler fiel es erst auf der Treppe ein, daß er soeben mit einem Liebhaber seiner verstorbenen Schwester gesprochen hatte. Nun aber trieb es ihn nach Hause zum letzten gemeinsamen Mittagessen mit Katharina. Diese letzten Stunden wollte er ungestört mit ihr verbringen, ohne sich das Geringste merken zu lassen, und morgen früh, während sie noch schlief, mit Hinterlassung eines Briefes, der auch eine kleine Geldsumme enthalten sollte, von ihr stummen Abschied nehmen.

      Als

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