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Nicht nur in den Grundlinien, sondern ebenso in anderen Vorlesungen über Rechtsphilosophie widerspricht Hegel der Auffassung, Verfassungen könnten gemacht werden (Hegel, Grundlinien, § 274, 440). Im Kontrast zum revolutionären Enthusiasmus der Franzosen und der entsprechend voluntaristischen Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes plädiert Hegel für das geduldige Abwartenkönnen in der Gewissheit, dass die politische Realität ihrem rechtsphilosophischen Begriff nicht auf Dauer widersprechen kann: Eine Verfassung überhaupt, wenigstens im Occident wo subjektive Freiheit ist, bleibt nicht stehen, verändert sich immer […]. Das Bewusstsein läuft zwar der Wirklichkeit voraus, aber diese kann nicht bestehen, ist nur leere Existenz wenn sie als Äusseres nicht mit dem Geiste identisch ist (Grundlinien, § 272, 660).

      Dies wirft nun ein ganz anderes Licht auf die Bemerkung zu Sieyes. Hegels insgesamt kritisches Urteil über die französische Staatsrechtsphilosophie lässt an dem, was zunächst als Würdigung der Verdienste Sieyes’ erschien, einen ironischen Hintersinn erkennen. Wer konstatiert, Sieyes hätte den Ruf tiefer Einsichten in die Organisation freier Verfassungen, der sagt damit noch nicht, ob er diesen Ruf für berechtigt hält. Wenn es zudem heißt, Sieyes habe seinen Entwurf der Konsularverfassung aus dem Portefeuille ziehen können, dann wird zumindest nahegelegt, Sieyes könnte eine ‚Verfassungskünstler‘ sein, dem die nötige Umsicht abgeht (Reformbill, 127).

      Eine (allerdings mehrdeutige) Erklärung für die ungleichartige Entwicklungsrichtung der deutschen und der französischen Verfassungstheorie und -praxis seit 1789 gibt der späte Hegel selbst: [In der deutschen Philosophie] ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen […]. In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt. Was in Deutschland von Wirklichkeit hervorgetreten, erscheint als eine Gewaltsamkeit äußerer Umstände und Reaktion dagegen. […] Die Franzosen sagen: Il a la tête prè du bonnet; sie haben den Sinn der Wirklichkeit, des Handelns, Fertigwerdens, – die Vorstellung geht unmittelbar ins Handeln über. So haben sich die Menschen praktisch an die Wirklichkeit gewendet. So sehr die Freiheit in sich konkret ist, so wurde sie doch als unentwickelt in ihrer Abstraktion an die Wirklichkeit gewendet; und Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören. Der Fanatismus der Freiheit, dem Volke an die Hand gegeben, wurde fürchterlich. In Deutschland hat dasselbe Prinzip das Interesse des Bewusstseins für sich genommen; aber es ist theoretischerweise ausgebildet worden. Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei lässt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner (Geschichte der Philosophie, Bd. III, 314 u. 331 f.).

      Natürlich will Hegel nicht bestreiten, dass Verfassungen faktisch gemacht werden können: Tatsächlich haben sich das französische Volk bzw. seine von ihm autorisierten oder selbsternannten Stellvertreter seit 1789 rund alle zwei Jahre eine neue Verfassung gegeben, während das preußische Staatsrecht noch lange Zeit seiner Kodifizierung harren musste. Wenn Hegel darauf besteht, Verfassungen könnten nicht gemacht werden, dann zielt er auf den ‚abgehobenen‘ und in diesem Sinn künstlichen Charakter von Vernunftverfassungen, die, im philosophischen Begriffslaboratorium konstruiert, der ‚rückständigen‘ Wirklichkeit abstrakte Ideale entgegenstellen. Das jedoch müsse bezogen auf die de facto geltenden Sitten zerstörerisch wirken, ohne dass aber höherstufige Sitten bereits an deren Stelle getreten wären.

      Dagegen setzt Hegel, der sich in diesem Punkt durch die französischen Terror-Jahre 1793/94 bestätigt sehen kann, das Konzept einer ‚organischen‘ Verfassungsentwicklung. Diese würden dem jeweiligen Stand des Volksgeistes nicht gewaltsam übergestülpt, sondern sie entspräche ihm. Verfassungen sollten demnach keine rechtlichen Abstraktionen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit applizieren, sondern umgekehrt die innere Vernünftigkeit der gewachsenen gesellschaftlichen Sitten aufgreifen und sie, indem sie die in ihnen wirksamen Rechtsprinzipien zum Ausdruck brächten, wiederum stabilisieren. Insofern der Volksgeist nichts anderes darstelle als das aktuelle normative Selbstverständnis eines Volkes, gingen Versuche, volksgeistwidrige Vernunftverfassungen zu oktroieren in der Regel mit dem Risiko einher, den Bürgerkrieg und die schließliche Restauration des vernunftwidrigen alten Staatsrechts zu begünstigen.

      Zwar bezieht Hegel eine äußerst kritische Position zu demokratischen Legitimationskonzeptionen, indem er die Machbarkeit von Verfassungen insgesamt bestreitet; auch ist sein Sieyes-Bild sicher nicht ganz frei von Verzerrungen. Doch von einer groben Fälschung kann keine Rede sein.

      Bei Carl Schmitt (1888–1985) verhält es sich anders: Wer auch nur ein wenig Einblick in die Gedankenwelt des Abbé Sieyes genommen hat, den muss die Unbekümmertheit erstaunen, mit der er seine eigene Theorie der verfassunggebenden Gewalt als konsequente Sieyes-Auslegung präsentiert. Schließlich propagiert Schmitt de facto das dezisionistische und autoritative Gegenmodell zur liberal-demokratischen Gesellschaftsvertragtheorie. Schon die Diktaturschrift von 1921 kontaminiert die Begriffe der verfassunggebenden Volkssouveränität und der souveränen Diktatur und immer ist dabei der Name Sieyes präsent. Schmitts Verwendung des Begriffs der verfassunggebenden Volkssouveränität will eine antiliberale und dabei doch wahrhaft demokratische Diktaturtheorie entwickeln, die immer schon als Alternative zur staatsfeindlichen Gesellschaftsvertragslehre à la Locke bereitgestanden hätte.

      In Hinblick auf Sieyes ergibt sich aus diesem Erkenntnisinteresse vor allem das folgende Deutungsziel: Jedwede verfahrensmäßige Regelung der Ausübung des pouvoir constituant, sei es plebiszitärer, sei es repräsentativer Art, käme für Schmitt einer verkehrten Erscheinung des Wesens der verfassunggebenden Ursprungsgewalt gleich. Diese betätigt sich – so Schmitts Interpretationstendenz – entweder formlos, d. h. unorganisiert, oder sie büßt ihre originäre konstituierende Autorität und Legitimität ein; eine sich durch bestimmte selbstgewählte Willensbildungs- und Entscheidungs verfahren, z. B. repräsentativer Art, betätigende Gewalt ist nämlich in Schmitts politisch-romantischer Sicht keine echte ‚Ursprungsgewalt‘ mehr, sondern ihre ‚liberale Perversion‘.

      Dabei blendet Schmitt systematisch die Frage aus, ob ein Kollektivsubjekt, das sich wesentlich formlos betätigt, überhaupt in der Lage sein kann, die Beratung und Beschlussfassung über Verfassungsentwürfe (plebiszitär oder repräsentativ) zu organisieren, so dass eine Verfassung im Sinne eines positiven Systems von Verfassungsgesetzen zustande käme. Wenn sich der idealtypische pouvoir constituant formlos äußert, ihm demnach die Fähigkeit zur verfahrensmäßigen Selbstorganisation abgesprochen wird, dann liegt es nahe, die verfassunggebende Gewalt des Volkes als wesentlich vordiskursives, wenn nicht irrationales Phänomen zu stilisieren (Verfassungslehre, 79 f.).

      Für Schmitt ist es von zentralem Interesse, den Sieyesschen pouvoir constituant als unorganisiert und auch organisationsunfähig darzustellen. Denn wenn sich die verfassunggebende Gewalt des Volkes notwendig formlos artikuliert, kann sie, weil ihr Votum zwangsläufig abstrakt bzw. diffus ausfiele, zwar eine Verfassung überhaupt akklamieren. Was sie aber nicht kann, ist, ein hinreichend differenziertes und kohärentes System von positiven Verfassungsgesetzen konzipieren, beraten oder beschließen. Diese rigorose Entprozeduralisierung des Sieyesschen pouvoir constituant ist eine notwendige Voraussetzung für Schmitts Konstruktion einer ‚volkssouveränitären Diktaturtheorie‘. Nur auf diese Weise konnte es gelingen, statt des Volkes oder eines Verfassungsgerichtes den Weimarer Reichspräsidenten als den von der Verfassung vorgesehenen Hüter der Verfassung zu präsentieren, der doch an die Verfassung im positiven Sinn gerade nicht gebunden sein soll.

      Carl Schmitts Dezisionismus führt einerseits an den Anfang des neuzeitlichen Kontraktualismus zurück: Wie bei Hobbes wird die Legitimität politischer Herrschaft vollständig von der Effizienz der Herrschaftsorganisation im Sinne erfolgreicher sozialer Ordnungsstiftung abhängig gemacht. Die Einrichtung einer politischen Zentralgewalt erweist sich daher immer erst nachträglich als gerechtfertigt, und sie kann, im Falle eines neu entstehenden Bürgerkrieges auch wieder schwinden.

      Doch Carl Schmitt aktualisiert nicht nur Hobbessche Gedanken, sondern überbietet sie: Schmitt unternimmt eine über das Effizienzprinzip, aber auch das Konkludenzprinzip hinausgehende Legitimitätskonstruktion.

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