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so weltvertrauend deklamierte? Mir ahnte damals noch nicht, daß die Redlichkeit nur so weit geübt werden dürfe, als sie nicht verboten ist. Jetzt weiß ich es und begreife nur nicht, warum man die Kinder Dinge lernen läßt, die ihnen später so gefährlich werden können.

      Äußerst schmucklos waren jene alten Räume; höchstens, daß hie und da eine aus Strafgeldern zusammengesparte Landkarte an der Wand hing. Wir kannten weder die Schöne griechischer Götterbilder, noch andererseits jenes cäsarische Wesen, in dem Bilde des jemaligen Herrschers der aufstrebenden Jugend ein drohendes Symbol der Gewalt entgegenzuhalten. Aber jenseits der schmalen Straße in dem Hofe der damaligen Propstei stand derzeit ein mächtiger Kastanienbaum, dessen Zweige zu den Fenstern der Tertia und der danebenliegenden Sekunda hinüberreichten. Wie oft, wenn es draußen Frühling war, flogen meine Gedanken über den Nepos, oder später über den Ovid hinweg und schwärmten drüben mit den Bienen um die weißen rotgesprenkelten Blütenkerzen, die aus den jungen lichtgrünen Blättern emporgestiegen waren. Aber weiter, – weiter! Hier noch den kurzen Baumgang hinab, und schon sehe ich die Totenkränze an den Kreuzen wehen und die weißen Bänder flattern. Die Ulmen an der Seite des Kirchhofes ächzen und schlagen ihre nackten Zweige aneinander, wie der Sturm ihnen die letzten Blätter abreißt und sie weithin über die Gräber wirft. Wie wüst dort im Nordwest das Meer am Horizonte aufsteigt! Ich lese die Inschriften der Leichensteine: »Du warst, wirst sein, wirst nie vergehen, nie Todesraub«.

      Überall dies unheimliche Wehren gegen die Vernichtung; nur hier der alte aufrechte Stein trägt einen anderen Spruch:

      Het Liden hier geleden,

       Het Striden hier gestreden,

       Ick was het Leven möd;

       Ick zegg Adies min Vrienden,

       Gy zelt mi niet mer vinden;

      Es ist sehr einsam hier; – doch nein, da stehe ich ja an deinem Grabe, alter ehrlicher Georg, candidatus der Gottesgelahrtheit. Wie lange ist es her, daß wir unter den blühenden Apfelbäumen deines elterlichen Gartens auf dem widerspenstigen Esel Schule reiten wollten! Mir ist, als sei das nur ein Kapitel aus einer sonnigen Idylle, die ich in schöner Jugendzeit gelesen. Etwas später war es – wir waren schon Studenten – da wir am lauen Frühlingsabend über den Hamburger Wall schlenderten. Als in der Dämmerung die Frösche aus dem Graben ihre Stimme erhuben, legtest du die Hand auf meinen Arm und sagtest andächtig: »Horch nur, wie lieblich doch die Nachtigallen girren!« Freilich, du warst ein Sohn unserer Küste, und selten und nur zu flüchtigem Besuche kehrt Philomele bei uns ein; denn sie weiß es wohl, daß ihre Liebesklage von dem Brausen der großen Naturorgel verschlungen wird, die Boreas hier so meisterlich zu spielen weiß. Aber, daß dir auch der Frosch, der Sänger unserer Marschen, plötzlich fremd geworden war, das mußte mich billig wundernehmen, und ich komme nachträglich auf den Verdacht, daß du die seltsamen Worte nur gesprochen hast, damit ich jenen Abend nicht vergäße, an dem sonst nichts war, als Frieden in der Natur und in unseren jungen Herzen. – Das Pfeifen ganz anderer Vögel war es, die dir bei Idstedt dein letztes Schlummerlied gesungen haben, und mit Andacht lese ich auf deinem Grabe den Spruch aus dem Evangelium Johannis, den, wie ich anderswo berichtet habe, auch der alte Landschullehrer auf seines Knaben Grabstein hauen ließ: »Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde.« Für seine Freunde; möge das dein Los gewesen sein!

      Und hier stolpere ich über den Hügel unseres Amtschirurgus; der Nordwest, der jetzt den Sand von seinem Grabe bläst, beunruhigt ihn nicht mehr. Ich war ihm noch begegnet nach meiner Heimkehr; aber schon damals hatte er seine großen Räume verlassen und begnügte sich mit einem Winkel in dem städtischen Krankenhause. Seine Seltsamkeiten hatten abgeblüht, und er war nur noch ein müder abgebrauchter Mensch, gleich allen übrigen, die dort der Ewigkeit entgegenträumen. Hier auf der Bank am Kirchhofs steige saß er und wärmte seine Glieder in der Frühlingssonne. Als ich ihn begrüßte, stand er auf, und ich sah, wie das Alter seine hohe Gestalt gebeugt hatte. »Und was ist aus Ihren trefflichen Ratzen geworden?« So fragte ich, nachdem die üblichen Reden eines ersten Wiedersehens zwischen uns gewechselt waren. Ich hatte eine unverharschte Wunde berührt; aus seinen kleinen Augen blickte er wehmütig auf mich herab, indem er mit seinem Stock im Sande scharrte: »Sie wissen ja; die große Brauerei nebenan; – vergiftet! alle vergiftet!« Und er schlich von dannen mit einem Seufzer über die schöne alte Zeit; denn wie Freund Mörike sagt:

      Doch besser dünkt ja allen, was vergangen ist.

      Aber wo bist denn du, Ludwig? Ich lebe noch, und schon finde ich dein Grab nicht mehr. Wir waren gute Kameraden; hab ich doch einst, da wir auf dem Lübecker Gymnasium unserer Schulbildung die letzte Politur geben ließen, meine goldene Uhr zum Pfandverleiher getragen, damit du in der Rolle des Dottore Bartolo die Maskerade im Schauspielhause besuchen konntest! Mit dem Bambusrohr und der Pillenschachtel stapftest du wacker im Saale umher; und als der spanische Grande dich wegen der Donna Ines konsultierte, die zart und schmächtig an seinem Arme hing, da versichertest du mit großer Innigkeit, daß die Dame nur an den Würmern leide; was dir seltsamerweise mehr Entrüstung als Dank von dem Gemahl der hohen Patientin eintrug. – Auch eine Maskerade war es, die wir beide wenige Jahre später in unserer grauen Küstenstadt veranstalteten. Dein Name stand neben dem meinigen auf dem Einladungsbogen; aber als der Abend des Festes herangekommen war und die Masken sich durcheinanderdrängten, die du mit mir berufen, da hattest du dich so tief vermummt, daß dich niemand zwischen ihnen zu finden vermochte; und auch später bist du niemals wieder zum Vorschein gekommen. – –

      Aber es wird schon dämmerig; mir ist, als höre ich zwischen dem Brüllen des Sturmes das gewichtige Wort des alten Jobst Sackmann, das bei jeder Wiederkehr immer dröhnender ins Gehör fällt: »Wo is he bleven? – Wo is he bleven? – Mortuus est!«

      Ich will nach Hause gehen. Die eiserne Kirchhofstür fällt klirrend hinter mir ins Schloß; die lange Straße, die nach meiner Wohnung führt, ist noch so öde wie zuvor. Aber dort sehe ich eine weibliche Gestalt mit dem Winde kämpfen; und wie wir uns einander nähern, bemerke ich mit Verwunderung, daß sie einen maigrünen Sonnenschirm in der Hand hält. Unter einem lila Seidenhütchen mit Blumen hängen lange braune Locken auf die Schultern herab. Und jetzt erkenne ich sie! In meiner Erinnerung taucht ein Erkerfenster auf mit Reseda-und Geranienstöcken, hinter denen ein junges Mädchen an einer Stickerei zu sitzen pflegte. Wie tief zogen wir Primaner unsere Mützen, um einen Aufschlag dieser Augen, ein Erröten dieses frischen Antlitzes zu erhaschen! – Auch jetzt ziehe ich den Hut. Ein ältliches maskenartiges Gesicht verzieht sich zu einem verbindlichen Lächeln, und mit altjüngferlichem Knicks geht die Gestalt an mir vorüber.

      O meine Muse, war das der Weg, den du mich führen wolltest? Die sommerlichen Heiden, deren heilige Einsamkeit ich sonst an deiner Hand durchstreifte, bis durch den braunen Abendduft die Sterne schienen, sind sie denn alle, alle abgeblüht?

      Es ist ein melancholisches Lied, das Lied von der Heimkehr.

      Eine Halligfahrt

       Inhaltsverzeichnis

      Einst waren große Eichenwälder an unserer Küste, und so dicht standen in ihnen die Bäume, daß ein Eichhörnchen meilenweit von Ast zu Ast springen konnte, ohne den Boden zu berühren. Es wird erzählt, daß bei Hochzeiten, welche durch den Wald zogen, die Braut ihre Krone habe vom Haupte nehmen müssen; so tief hing das Gezweig herab. In den Tagen des Hochsommers war unablässige Schattenkühle unter diesen Waldesdomen, die damals noch der Eber und der Luchs durchstreiften, indessen oben, nur von den Augen der revierenden Falken gesehen, ein Meer von Sonnenschein auf ihren Wipfeln flutete.

      Aber diese Wälder sind längst gefallen; nur mitunter gräbt man aus schwarzen Moorgründen oder aus dem Schlamm der Watten noch eine versteinte Wurzel, die uns Nachlebende ahnen läßt, wie mächtig einst im Kampfe mit den Nordweststürmen jene Laubkronen müssen gerauscht haben. Wenn wir jetzt auf unseren Deichen stehen, so blicken wir in die baumlose Ebene wie in eine Ewigkeit; und mit Recht sagte jene Halligbewohnerin, die von ihrem kleinen Eiland zum erstenmal hieher kam: »Mein Gott, was is de Welt doch grot; un et gifft ok noch en Holland!«

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