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noch nichts gesehen als einmal Ludwig Tiecks Porträt auf dem Umschlage eines Schreibbuches. – Nichtsdestoweniger dichtete ich den »Matathias«. Und endlich kam der große Tag. Während draußen vor der Kirche die Buden zum Michaelis-Jahrmarkte aufgeschlagen wurden, war oben in unserem Rathaussaale die Redefeierlichkeit schon in vollem Schwunge. Die an den Fenstern entlang postierte Liebhaberkapelle hatte schon einige Pausen mit entsprechenden Walzern und Ekossaisen ausgefüllt; nun aber begann ein feierlicher Marsch, und mir klopfte das Herz; denn ich hatte ihn bestellt als Ouvertüre zum Matathias. Dort stand auch mein würdiger Freund, der Doktor, derzeit Primaner und Mitglied des »Dilettantenvereins«, und noch hübscher, als er redete, blies er die Klarinette; heute aber leistete er das Außerordentliche. Da plötzlich, noch ein heroischer Akkord, und oben auf dem Katheder stand ich in dem lautlosen Saale, die erwartungsvolle Menge unter mir. Wie durch einen Schleier sah ich noch die Dilettanten ihre Klarinettenschnäbel mit den Taschentüchern putzen; ein Blick nach oben zeigte mir am Rande der Deckenöffnung das leuchtende Gesicht des Amtschirurgus, der wie ein umgekehrter sixtinischer Engelskopf zur Erde statt zum Himmel blickte; dann:

      »O Söhne Judas, rächt der Väter Schmach!«

      – – Zum Unglück für den Leser ist das Gedicht verloren gegangen, und mein Gedächtnis vermag dem Schaden nicht mehr abzuhelfen; doch kann ich versichern; daß es ohne Anstoß zu Ende gebracht wurde. Und das war keine Kleinigkeit; denn unter den Zuhörerinnen hatte ich ein Paar wohlbekannte vergißmeinnichtblaue Augen entdeckt, die mit dem Ausdruck zarter Fürsorge auf mich gerichtet waren. Ich kannte solche Klippen nur zu wohl; war es mir doch in meiner vorjährigen Rede »Über den Untergang der Staaten« begegnet, daß ich in denselben Augen eine ganze Weile, alle Feierlichkeit vergessend, hängen blieb, wodurch denn eine allen übrigen Zuhörern unbegreifliche Kunstpause entstanden war. Diesmal aber, und das von Rechts wegen, half mir der Gott Israels. Denn dort hinten, unter dem Urteile Salomonis, erschien mein Freund, der jüdische Handelsherr aus unserer Nachbarstadt, und nickte mir zu und lächelte mich an; und der Geist meiner heutigen Sendung erfüllte mich wieder, ich sah nicht mehr in die vergißmeinnichtblauen Augen, sondern auf die goldenen Uhrberloques, die an dem behäbigen Leibe des jüdischen Mannes funkelten; und für ihn eigentlich habe ich diese Rede gehalten.

      »Dein Stern ging unter, Judas Stern

       Erglänzt in neuer Pracht und brennt

       An deiner Gruft die würd’ge Todesfackel.«

      Das waren meine letzten Worte für den Matathias. Als ich das Katheder verlassen und mich nach dem alttestamentarischen Bilde durchgedrängt hatte, nahm der Urenkel desselben schweigend und mit sanftem Druck meinen Arm in den seinen, und wir stiegen miteinander die schmale Wendeltreppe hinab bis unten in den Ratskeller und tranken dort in altem Madeira auf das Gedächtnis des unsterblichen Matathias und auf die Gesundheit seines jungen sterblichen Dichters. Dann, da die Redefeierlichkeit für den Vormittag beendet war, gingen wir auf den Markt hinaus und setzten uns im Lindenschatten vor einem Hause auf den Beischlag. Uns gegenüber im Sonnenschein wurde eine Bude nach der anderen aufgeschlagen; aber der sonst so eifrige Handelsmann, obgleich er noch nicht einmal sein herkömmliches Tuchgeschäft mit meinem Vater gemacht hatte, wandte kein Auge auf dieses werktägige Treiben. Von meiner Rede ausgehend hatte er mich, wie er es liebte, in allerlei religiösmoralisches Gespräch verwickelt: »Was soll’s!« rief er mit den scharfen Akzenten seines Volkes, »ich sage bloß: Tue Recht und scheue niemand!« – Bald darauf schien er indessen durch den jetzt vom nahen Kirchturm tönenden Schlag der Viertelsglocke an die Kostbarkeit der Zeit erinnert zu werden; denn, als wolle er alle grauen Theorien von sich schütteln, stand er plötzlich auf und klopfte mich zärtlich auf die Schulter. »Komm nun!« sagte er schmunzelnd; »woll’n wir gehen und woll’n noch betrügen ein bißchen den Alten!« Aber das war nur dein Scherz, mein alter Freund; ich kann nicht anders, als es dir in dein Grab nachsagen, worin du nun seit lange auf dem kleinen Judenkirchhof der Nachbarstadt ruhst, daß du meinem Vater gewiß gutes niederländisches Tuch zu den christlichsten Preisen verkauft hast.- Wer weiß, ob nicht die Freundlichkeit, die du dem Knaben einst erwiesest, den Keim jener Zuneigung gelegt hat, die ich deinem Volke stets bewahrte, und die mir auch der schmutzigste Schacherjude nicht hat stören können. Habe ich doch aus jener Sympathie heraus noch vor wenigen Jahren die nachstehenden Verse gedichtet, welche freilich von meinem Freunde Alexander, da ich sie ihm noch warm aus dem Herzen vortrug, mit der kurzen Kritik: »Auch eine Auffassung!« ganz und für immer abgefertigt sind:

      Crucifixus

      Am Kreuz hing sein gequält Gebeine,

       Mit Blut besudelt und geschmäht;

       Dann hat die stets jungfräulich reine

       Natur das Schreckensbild verweht.

      Doch, die sich seine Jünger nannten,

       Die formten es in Erz und Stein,

       Und stellten’s in des Tempels Düster

       Und in die lichte Flur hinein.

      So, jedem reinen Aug ein Schauder,

       Ragt es herein in unsre Zeit;

       Verewigend den alten Frevel,

       Ein Bild der Unversöhnlichkeit.

      Aber ich kann so nicht weiterschreiben. Durch das offene Fenster weht der Primelduft aus dem Garten, und draußen unter dem sprießenden Syringenbaum steht plötzlich meine Muse, die ich so lange nicht mehr sah. Sie legt den schönen, ewig jugendlichen Kopf zurück und sieht mich an; schimmernd liegt die Frühlingssonne auf ihrem goldig blonden Haar. Soll ich noch einmal deine träumerischen Wege wandeln? – Aber, wenn du mich zur Höhe führst, und nun dein Fuß von der festen Erde auf die rosigen Wolken hinaustritt? – Zwar meine Seele hat noch ihre Flügel; aber manche der rauschenden Schwungfedern sind schon gebrochen, und mächtiger als sonst fühl ich die Erde mich zu sich niederziehen. – Doch, wer könnte diesen Augen widerstehen? So gehen wir denn! Streich mit deiner Götterhand das graue Haar von meinen Schläfen und dann sage mir: wie war es doch?

      – – Ich war wieder in der kleinen Küstenstadt, in der ich einst die Tage meiner Jugend lebte. Weit dahinter lag jene Zeit, unabsehbar weit; denn es gibt Gräber, über die hinweg der Blick in die Vergangenheit unmöglich wird. Dennoch hatte es mich dahin zurückgezogen; in allen Jahren, die ich in der Fremde lebte, war immer wieder das Brausen des heimatlichen Meeres an mein inneres Ohr gedrungen, und oft war ich von Sehnsucht ergriffen worden, wie nach dem Wiegenliede, womit einst die Mutter das Tosen der Welt von ihrem Kinde ferngehalten hatte. – Nun hörte ich es wieder, das Wiegenlied des Meeres; am Tage wanderte ich hinaus an seine Küste und ließ die Wellen zu meinen Füßen rauschen, des Nachts klang es hinüber in die schlafende Stadt, nur unterbrochen von dem tönenden Flug der Wandervögel, die in großen Zügen unsichtbar unter den Sternen dahinrauschten. Wie oft stand ich jetzt im Dunkel meines Gartens, blickte hinauf zu der lichten Sternenhöhe und ließ mein Ohr von diesen Akkorden des Schöpfungsliedes erfüllen!

      Ich entsinne mich eines Spätherbstnachmittages; so ungestört war ich seit meiner Heimkehr nicht durch die Stadt gewandert; denn der erste Novembersturm hatte die Gassen leer gefegt. Ich sah mir die Häuser an und gedachte ihrer einstigen Bewohner. Hier auf der Bank unter den Linden, von deren Zweigen jetzt die letzten Blätter wehten, saß einst der lustige Herbergsvater, der uns Schülern stets das griechische »Heureka« zum Gruß entgenrief. – Heureka – Gefunden! – Ob man wohl das Wort auf seinen Sarg geschrieben hat?

      Und drüben jenes Giebelfenster mit den zertrümmerten Scheiben; – die Donner des Frühlingsungewitters sind längst verhallt, die ich in lauer düfteschwerer Nacht dort über meinem Haupte rollen hörte; aber wo ist sie geblieben, die ich so fest in meinen Armen hielt? – Ich habe das blasse Gesichtchen nie vergessen können, wie es beim Schein der Blitze aus dem Dunkel auftauchte und wieder darin verschwand. – Hu! Wie kommen und gehen die Menschen! Immer ein neuer Schub, und wieder: Fertig! – Rastlos kehrt und kehrt der unsichtbare Besen und kann kein Ende finden. Woher kommt all das immer wieder, und wohin geht der grause Kehricht? – Ach, auch die zertretenen Rosen liegen dazwischen.

      Ich will zum Kirchhofe gehen; es stillt die Unruhe, in den Blättern dieses grünen Stammbuches zu lesen. Auf dem Wege dahin sieht hie und da ein übriggebliebener

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