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»Zu bedanken brauchen Sie sich nicht. Wofür eigentlich?«, fügte er hinzu.

      »Weil du mir von euch erzählt hast, Nick.«

      Er hob die Schultern. »Na ja, ich dachte, es interessiert Sie, weil Sie jetzt bei uns sind. Außerdem möchte ich gern, dass es Ihnen in Sophienlust wirklich gefällt.«

      »Ich werde mir Mühe geben, Nick«, versprach Isolde von Rettwitz.

      »Ich glaube, das ist gar nicht nötig. Es kommt von selbst«, behauptete Nick. »Kommen Sie nachher zum Essen in den Speisesaal oder möchten Sie lieber allein essen am ersten Abend? Mutti hat mir aufgetragen, Sie zu fragen.«

      »Wenn du neben mir sitzen willst, komme ich mit. Ich möchte mich nicht ausschließen.«

      »Prima, Frau von Rettwitz. Ich hole Sie nachher ab. Jetzt will ich nicht länger stören. Und nicht wahr, Sie sind schon gar nicht mehr so schrecklich traurig – wenn’s auch schlimm ist mit Ihrer kleinen Tochter?« Unsicher sah er sie an.

      Isolde konnte ihm nur stumm zunicken. Als er hinausgegangen war, warf sie sich über ihr Bett und schluchzte wild auf. Zum ersten Mal schwemmte eine Flut von heißen Tränen den Panzer fort, der sich um ihre Seele gelegt hatte.

      *

      Achim von Rettwitz war etwa eine halbe Stunde zu Hause, als das Telefon läutete. Er ging an den Apparat und meldete sich.

      »Hallo, wie geht’s?« Eine fröhliche Stimme erklang, die Stimme einer Frau.

      »Wer spricht denn da? Ich fürchte, Sie sind falsch verbunden.« Er hatte tatsächlich keine Ahnung, wer die Anruferin war.

      »Aber Achim – jetzt musst du mal raten.«

      Ein verhaltenes Lachen brachte ihn auf die richtige Spur. »Lieselott?«, vergewisserte er sich.

      »Na also. Ich wollte mich nur erkundigen, ob Isolde richtig im Kinderheim gelandet ist. Warum ihr ausgerechnet ein Kinderheim ausgesucht habt, wird mir zwar ewig ein Rätsel bleiben, aber das ist eure Sache.«

      Lieselott Engel war mit Isolde in die gleiche Schulklasse gegangen. Obwohl Isolde mit der unverheiratet gebliebenen sogenannten Freundin nicht allzu viel verband, war die Verbindung zwischen ihnen doch niemals abgerissen. Lieselott kam zu Besuch. Lieselott schloss Brüderschaft mit Achim. Lieselott hielt es für selbstverständlich, dass sie Renatas Patin wurde – kurz: Lieselott sorgte von sich aus dafür, dass sie mit dazugehörte, obwohl man das eigentlich gar nicht wollte.

      Lieselott hatte fast täglich bei Isolde oder Achim angerufen. So war ihr auch Isoldes geplante Abreise nicht verborgen geblieben.

      »Wir hatten eine glatte Fahrt. Ich glaube, es wird Isolde in Sophienlust gefallen«, antwortete Achim etwas kühl und abweisend.

      »Umso besser. Aber was wird jetzt aus dir, du armer Mann?«

      »Ich gehe nicht so schnell verloren, Lieselott. Es ist alles gut organisiert, und ein paar kleine Unbequemlichkeiten kann man schon mal in Kauf nehmen.«

      »Isolde hat mir ans Herz gelegt, mich ein bisschen um dich zu kümmern. Morgen Abend komme ich vorbei und bringe etwas zu essen mit«, ließ sich Lieselott mit der ihr eigenen Entschlossenheit vernehmen.

      »Morgen Abend bin ich leider verhindert, Lieselott. Wir haben eine Ausschusssitzung, die bestimmt ziemlich lange dauern wird. Mach dir bitte meinetwegen keine Umstände.«

      »Das tue ich gern, Achim. Übermorgen also. Abgemacht?«

      Es blieb ihm gar keine Wahl, denn wenn Lieselott zu etwas entschlossen war, dann setzte sie ihren Kopf auch durch.

      »Schlaf schön, Achim. Hoffentlich fürchtest du dich nicht allein im Haus.« Und wieder dieses Lachen, das er so gut kannte.

      »Ich bin keine ängstliche Natur, Lieselott. Gute Nacht und vielen Dank für deinen Anruf.«

      Achim lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen. Lieselott war in jeder Hinsicht das Gegenteil von Isolde. Sie hatte lichtblondes Haar und tiefblaue Augen. Sie sah tatsächlich ein bisschen wie ein Engel aus, wenn auch ihr resolutes Auftreten durchaus nichts Überirdisches an sich hatte. Lieselott stand mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit und neigte durchaus nicht zu Trauer und Trübsal. Ihre Nähe war herzerfrischend und aufmunternd, wenn sie ihm auch hin und wieder ein kleines bisschen auf die Nerven ging.

      Nun suchten Achims Gedanken Isolde. Ob sie schon zu Bett gegangen war? Zugleich meinte er Denise von Schoenecker wieder vor sich zu sehen – eine Persönlichkeit, der sein Herz sofort zugeflogen war. Diese Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen! War das ein gutes Vorzeichen?

      Achims Zuversicht wuchs. Zwischen den Kindern würde Isolde ihr Leid überwinden lernen und vielleicht sogar eines von ihnen für immer heimbringen.

      Achim von Rettwitz stand auf. Er reckte die Arme und löschte das Licht im Wohnzimmer. Ehe er einschlief, stellte er sorgfältig den Wecker neben sein Bett.

      Lieselott hat recht, dachte er zu seiner eigenen Verwunderung im Einschlafen. Es ist ein seltsames Gefühl, allein im Haus zu sein. Isolde fehlt mir bereits in der ersten Nacht.

      *

      »Wie viele Luftballons hast du Micki eigentlich inzwischen schon gekauft?«, fragte Carola Rennert Nick, der soeben wieder einen Ballon aus seiner Hosentasche hervorgezaubert hatte und ihn mit vollen Backen aufblies.

      »Ich hab’ sie nicht gezählt, Carola. Aber sie freut sich jedesmal so niedlich. Ich kann’s einfach nicht lassen. Außerdem möchte ich gern herauskriegen, wieso sie die blauen Luftballons mag, aber die böse Tante, die ihr den ersten geschenkt hat, nicht. Das ist doch paradox, oder?«

      »Vielleicht finden wir es nie heraus, Nick«, seufzte Carola. »Ich bin nur froh, dass die Kleine sich gut eingelebt hat. Gestern kam sie zu mir in die Wohnung und hat die Zwillinge bestaunt. Sie war ganz andächtig.«

      Carola, früher ein Sophienluster Schützling, war mit Wolfgang Rennert, dem Hauslehrer des Heims, glücklich verheiratet.

      »Hm, Frau von Rettwitz lebt sich nicht so gut ein«, seufzte Nick. »Mit Erwachsenen ist es viel schwieriger. Micki kann man deine Babys zeigen oder einen Luftballon schenken …«

      » … Frau von Rettwitz sitzt meist irgendwo in einer abgelegenen Ecke des Parks oder auch in ihrem Zimmer«, ergänzte Carola Rennert. »Ich glaube, sie weint sehr viel.«

      »Ja, das stimmt«, äußerte Nick betrübt. »Ich habe es ein paar Mal gesehen und schon mit Mutti darüber gesprochen. Sie meint, es ist gut, wenn sie weint. Aber das kann ich nicht verstehen.«

      Carola hob die Schultern. »Vielleicht muss man erst einmal richtig weinen, wenn man einen so schlimmen Schmerz hinter sich hat wie Frau von Rettwitz.«

      »Wenn ich mich mit ihr unterhalte, ist sie manchmal recht fröhlich«, setzte Nick seine Betrachtungen fort. »Gestern ist sie mit Vati und Mutti morgens ausgeritten. Ich glaube, das hat ihr Freude gemacht. Weißt du, ich möchte ihr gern mal von Micki Luftballon erzählen. Sie denkt, es gibt keinen auf der Welt, der so unglücklich ist wie sie. Aber Micki zum Beispiel hat es auch schwer. Wir können ihre Eltern nicht finden. Sie hat nicht einmal einen Namen, wenn sie auch zu klein ist, um das schon zu begreifen.«

      »Du kannst Micki und Frau von Rettwitz kaum miteinander vergleichen. Micki scheint unter der Ungewissheit über ihr Schicksal gar nicht zu leiden. Sie ist seelenvergnügt bei uns, so weit ich das überschauen kann.«

      Carola Rennert war nur gelegentlich und zur Aushilfe im Kinderheim tätig. Ihre Arbeitskraft gehörte vor allem dem eigenen kleinen Haushalt, ihrem Mann und den Zwillingen. Denise hatte dem jungen Paar eine Wohnung ausgebaut, sodass es sein eigenes Reich besaß und doch auf Sophienlust war. Blieb Carola mal ein wenig Zeit, so holte sie ihre Farben hervor und malte. Sie war eine begabte Künstlerin, hatte ihre Bilder schon erfolgreich auf Ausstellungen gezeigt und verkaufte sie zu recht beachtlichen Preisen.

      »Ist dir schon mal aufgefallen, dass Mutti und Frau von Rettwitz sich ähnlich sehen?«, fragte Nick nun.

      Carola

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