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gegangen sein.«

      »Oder Rübezahl hat ihn mitgenommen, weil er gestern abend beim Schlafengehen solchen Radau gemacht hat, daß die alte Frau Oberst heraufschicken und um Ruhe bitten mußte!« rief Nesthäkchen. »Rübezahl nimmt alle Schreihälse mit, hat Fräulein mir erzählt.«

      Puppe Gerda neigte ebenfalls der Ansicht zu, daß der Berggeist den Schlingel geholt habe. Aber sie fand das Unglück gar nicht so groß. Im Gegenteil, eigentlich fühlte sie ihr kleines Puppenherz ungeheuer erleichtert bei diesem Gedanken.

      »Er wagt es vielleicht nicht, zum Vorschein zu kommen, nach dem Mordskrakeel, den er gestern abend gemacht.« Das schien auch Doktor Braun einzuleuchten.

      Aber während man noch hin und her überlegte, steckte der Vermißte plötzlich behutsam sein lachendes, durchtriebenes Jungengesicht durch das Tannengezweig.

      Puppe Gerda hatte ihn zuerst entdeckt. Eine böse Ahnung sagte ihr stets, daß ihr Feind nahte. Sie zeigte mit der steifen Hand in das Tannengebüsch, bis Klein-Annemarie aufmerksam wurde.

      »Da ist ja das Kläuschen!« rief Nesthäkchen plötzlich.

      Klaus hielt es auf diese Anmeldung hin für geraten, auch seinen übrigen Körper dem schon sichtbaren, krausköpfigen Schädel folgen zu lassen.

      Mit einem kühnen Sprung setzte er über das Gebüsch herüber und wünschte höflich: »Guten Morgen.« Dann begann er harmlos zu pfeifen, als ob er nicht seit einer Stunde wie eine Stecknadel gesucht worden wäre. Während Mutti froh war, daß der Junge sich wieder angefunden, begann Vater sofort stirnrunzelnd das Examen:

      »Wo bist du gewesen, Klaus?«

      »Och, nur ’n bißchen so herum.« Klaus machte eine Bewegung, die das ganze Riesengebirge umfaßte.

      »Ich möchte genau wissen, wo du gesteckt hast!«

      »Da unten bei den Verkaufsbuden und am Kurplatz.« Klaus verbarg sein sich feuerrot färbendes Gesicht in der Kakaotasse. Na ja, er war doch auch dort gewesen, aber daß er von dort aus noch einen kleinen Ausflug unternommen, das verschwieg er wohlweislich.

      »Künftighin wird der Garten vor dem Frühstück nicht mehr verlassen, verstanden? Und wegen des Radaus gestern abend sprechen wir uns noch, mein Sohn.« Vater erhob sich, um sein tägliches Bad zu nehmen.

      Auf diese Ankündigung hin hielt Klaus es für geraten, den ganzen Tag über, trotz glühender Hitze, seinen dicken Lodenmantel zu tragen. Da kamen die verheißenen Prügel wenigstens nicht durch.

      Aber Doktor Braun hatte seine Drohung vergessen. So schwitzte Kläuschen umsonst.

      Es war nach Tisch. Die kleinen Meergänschen wurden um diese Zeit stets von ihrer Mutter in die Stube gesperrt, damit sie die Gäste nicht durch ihr Toben im Garten bei der Mittagsruhe störten.

      Trotz Annemaries Bitte: »Ach, liebe, gute Frau Meergans, lassen Sie mir doch bloß ein einziges, kleines Meergänschen zum Spielen raus!« wanderten die Meergänschen jeden Nachmittag in ihren »Stall«. So drückte der unnütze Klaus sich aus.

      Hans schrieb im Gartenpavillon einen Brief an seinen Freund. Klaus und Annemarie jagten oben im Walde Schmetterlinge. Nesthäkchen hatte dem Bruder vom eigenen Spargeld ein neues Schmetterlingsnetz kaufen müssen, da sie das alte auf dem Schulausflug verloren hatte.

      Annemarie benutzte Kläuschens Mütze als Schmetterlingsnetz. Sie hatte soeben ein prächtiges Pfauenauge gefangen.

      »Weißt du, Annemarie, wo ich heute morgen gewesen bin?« begann der Junge halblaut voll Dankbarkeit. Denn er hatte sich zu seiner Schmetterlingssammlung schon längst ein Pfauenauge gewünscht.

      »Bei den Verkaufsbuden, das weiß ich schon längst.«

      »Nee, aber noch ganz woanders.« Klaus machte sein verschmitztestes Gesicht.

      »Etwa in dem Bergpalast bei Rübezahl?« Scheu flüsterte es Nesthäkchen und spähte dabei ängstlich zwischen die dunklen Baumstämme.

      »Quatsch«, sagte Klaus verächtlich, denn in der Sexta glaubte man nicht mehr an Märchenwesen. »Aber ich werde es dir lieber doch nicht erzählen, sonst verklatschst du mich am Ende!«

      »Pfui, Kläuschen, ich bin doch keine Petze!« Klein-Annemarie reckte ihre winzige Person ehrfurchtgebietend. »Sag’ es mir doch, ja, Kläuschen?«

      »Na, meinetwegen. Aber gib mir die rechte Hand und dein Ehrenwort, daß du es nicht ausplauderst.«

      Nesthäkchen streckte dem Bruder das kleine Patschhändchen hin. »Rechte Ehrenhand!« sagte sie dabei mit ebenso wichtigem als neugierigem Gesichtchen.

      »Also, ich habe einen neuen Freund hier in Johannisbad,« begann Klaus geheimnisvoll, »das ist der Milchmann.« Er machte eine Pause, welche die Erwartung des Schwesterchens noch steigern sollte.

      Aber Annemarie schien enttäuscht.

      »Na – und – – –?« fragte sie gleichgültig. Sie hatte insgeheim doch immer noch geglaubt, daß Rübezahl seine Hand im Spiele gehabt hätte.

      »Der fährt jeden Tag mit seinem weißen Milchwagen durch ganz Johannisbad und bimmelt dazu mit einer großen Klingel. Und heute – nu kommt’s, Annemie – da hat er mich mitfahren lassen auf seinem Bock, und ich durfte für ihn bimmeln. Au, war das fein!«

      »Au – fein!« rief auch Klein-Annemarie lebhaft, und ihre Blauaugen blitzten dabei nicht weniger als die Braunaugen von Klaus.

      »Und morgen nimmt er mich wieder mit, und da darf ich die Milch austragen in die Häuser wie ein richtiger Milchjunge. Meinen blauen Leinenanzug ziehe ich mir dazu an, der sieht so ähnlich aus wie sein blauer Kittel. Ist das nicht wundervoll?«

      Ja, es war wundervoll. Annemarie fand gar keine Worte, um ihrer Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Brennend gern wäre sie auch dabei gewesen und hätte mit der großen Klingel gebimmelt.

      »Kläuschen,« sagte sie und schlang ihre kleinen Ärmchen in plötzlicher Zärtlichkeit um den Hals des Bruders, »nimm mich doch mit, Kläuschen!«

      Aber Kläuschen schüttelte den braunen Krauskopf.

      »Nee, dann kommt’s raus!«

      »Ach wo, ich bin jeden Morgen vor Fräulein und Mutti unten. Bis zum Frühstück sind wir längst wieder da. Und wenn du die Milch austrägst, könnte ich so schön inzwischen bimmeln; bitte, bitte, liebes, süßes Kläuschen!«

      Der Junge schien schwankend zu werden.

      »Ich schenke dir auch meine Streichholzschachtel mit Marienkäferchen!«

      Einem solchen Angebot konnte Klaus nicht widerstehen. Die Streichholzschachtel mit den durcheinanderkribbelnden roten Käfern wanderte aus der Tasche des geblümten Bauernkleidchens in seine Hosentasche.

      »Also morgen früh um halb sieben – und nichts verraten, sonst verwichse ich dich doll«, so wurde das Geheimnis noch von Klaus besiegelt.

      Keins von den beiden ungehorsamen Kindern dachte an Vaters heute erst ergangenes Verbot, den Garten nicht vor dem ersten Frühstück zu verlassen. Oder vielmehr, sie wollten nicht an dasselbe denken. Die Fahrt auf dem Milchwagen war zu verlockend.

      Nur Puppe Gerda, die alles mitangehört hatte, dachte an das, was Vater gesagt hatte. Sie war sehr ärgerlich auf Klaus, daß der auch jetzt noch ihre Annemarie zu seinen Streichen verleitete. Bittend sah sie ihr kleines Mütterchen an, doch von dem ungezogenen Vorhaben abzulassen.

      Aber Annemarie achtete nicht auf ihre Gerda. Auch die kleinen, endlich wieder herausgelassenen Meergänschen lockten sie heute nicht zum Spiel. Ihre Gedanken weilten den ganzen Nachmittag bei dem Milchwagen und der großen Klingel, die sie morgen selbst in Bewegung setzen wollte.

      Als Puppe Gerda sich beim Gutenachtkuß besonders zärtlich an Klein-Annemarie schmiegte, um sie durch ihre Liebkosungen anderen Sinnes zu machen, da verstand Nesthäkchen wohl, was ihre Puppe von ihr wollte. Aber sie deckte sie schnell bis über die kleine Porzellannase mit ihrer Bettdecke

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