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Die Inseln der Weisheit. Alexander Moszkowski
Читать онлайн.Название Die Inseln der Weisheit
Год выпуска 0
isbn
Автор произведения Alexander Moszkowski
Жанр Зарубежная классика
Издательство Public Domain
»Das geschieht doch mit Rücksicht auf die Erhaltung und den reinen Bestand der Familie. Was wird denn bei Euch mit den Kindern? Haben Sie selbst welche?«
»Ich glaube ja, ich nehme sogar an, eine ganze Anzahl. Ohne daß ich mich verpflichtet fühle, hierüber Buch zu führen, da ich meine Arbeitszeit für notwendigere Bilanzen brauche. Unter den Straßen-Kindern, die dort drüben Haschemann spielen und Kreisel treiben, befinden sich möglicherweise auch welche von mir.«
»Das wäre zu beklagen, denn die Kinder machen in ihrer verwahrlosten Kleidung keinen guten Eindruck.«
»Und außerdem« – damit meldete sich Doktor Melchior Wehner zum Wort, wobei Donath flüchtig dolmetschte – »außerdem bemerke ich schon auf Entfernung, daß die Kinder sich in gesundheitlicher Hinsicht nicht zum besten befinden.«
Er lockte den erstbesten Buben durch eine vorgehaltene Leckerei heran und beschäftigte sich einige Sekunden mit ihm. Dann erklärte er mit dem Ausdruck starker Mißbilligung: »Der Befund ist übel, und um so übler, als ich mir das Kerlchen rein auf›s Geratewohl herausgeholt habe. Mir ist es unbegreiflich, daß man da nicht für Absonderung und sachgemäße Behandlung sorgt. Der Knabe leidet ja an Skorbut in höchst unangenehmer Komplikation mit Krätze.«
Der Rektor, der mit den anderen hinter uns ging, leuchtete philologisch und schaltete ein: »Skorbut, wörtlich genommen: Knochenspalt, hängt wahrscheinlich auch mit scorpio zusammen, wie Carcinom mit Cancer, Krebs, während scabies, die Krätze, aus dem Griechischen skapto, nachweislich zuerst bei Juvenal vorkommt.«
Unser Medikus hörte an diesem Exkurs vorbei und gab seinem Unwillen weiteren Nachdruck: »Sie müssen doch in Ihrem Musterstaat eine amtlich organisierte Hygiene besitzen!«
»Sie ist tatsächlich vorhanden,« versetzte Yelluon, »und sie hat ermittelt, daß gewisse Krankheiten einen höchst wohltätigen Einfluß auf den Bestand des Staates ausüben. Sie beugen nämlich der Übervölkerung vor und fügen sich somit vorzüglich in das System des Plato, der zwar einerseits reichlichen Nachwuchs verlangt, andererseits aber die Verhinderung einer Überzahl. Die Hygiene, wie wir sie verstehen, erhält somit die Aufgabe, die Mortalität nicht unter eine gewisse Grenze sinken zu lassen, das heißt, den Seuchen einen merklichen Spielraum zu gewähren und beileibe nicht alle kurabeln Krankheitsfälle wirklich zu heilen.«
»Ich hätte Lust, mich mit eurem Oberhygieniker einmal zu unterhalten!« rief der Arzt in sichtlicher Empörung.
»Sie meinen den Minister der medizinischen Philosophie. Wir stehen gerade vor seiner Behausung, allein wir dürfen ihn nicht stören, da er seit Monaten unausgesetzt an einem großen Werk arbeitet, das den Titel führt: Welche sittlichen Pflichten besitzt der Mensch gegenüber den Kokken, die den Milzbrand hervorrufen, mit besonderer Berücksichtigung der Leitsätze aus de officiis von Cicero. Sie ersehen hieraus die Vielseitigkeit unserer Behörden, die nur dadurch ermöglicht wird, daß sie die Nebensächlichkeiten vernachlässigen. Wir haben übrigens noch ein weiteres Mittel in der Hand, um der Übervölkerung entgegenzuwirken, nämlich die künstliche Abtreibung, die von Plato direkt angeordnet, durch unsere Ärzte zu einem unglaublich hohen Grade technischer Vollendung gediehen ist. Interessant ist dabei, daß Plato persönlich sich noch höchst abfällig über die Hippokratischen Ärzte äußerte und ihnen in seinem Staatswerk ihre damalige lebenverlängernde Routine zum Vorwurf machte, ja geradezu zum Verbrechen stempelte. Wir haben Ursache zu der Annahme, daß Plato die Ärzte unserer Insel weit beifälliger beurteilen würde, da diese, wie gesagt, im Abortus quantitativ wie qualitativ Epochales leisten.«
»Ich hoffe doch,« bemerkte ich, »daß diese Prozedur nur dann vorgenommen wird, wenn die regelrechte Entbindung für die Mutter eine Lebensgefahr darstellt? Sicherlich haben Sie doch in Ihrem Strafgesetzbuch einen Paragraphen, der für alle anderen Fälle die Vernichtung keimenden Lebens mit harter Strafe bedroht?«
»Dieser Paragraph lautet bei uns anders. Er verbietet nicht, sondern er befiehlt den künstlichen Abortus, und er bestraft strengstens diejenigen, die ihn unterlassen; wenn nämlich nach Lage der Dinge Platos Wille in Kraft zu treten hat. Denn genau so klar wie er anordnet, daß kein Vater und keine Mutter ihre leiblichen Kinder unterscheiden noch von diesen unterschieden werden können, genau so klar setzt er für Vater- und Mutterschaft die Altersgrenze fest, jenseits deren abgetrieben werden muß.«
»Und bei aller Verehrung für Plato erkläre ich das für eine Barbarei! Es widerspricht den elementaren Sittenforderungen und den heiligsten Empfindungen, die wir für das Leben der jungen Generation zu hegen haben.«
»Dann müßten Sie auch Lykurg verdammen, der vielleicht noch radikaler als Plato auftrat und auf dessen Rechnung doch die Ertüchtigung der Spartaner zu setzen ist. Außerdem überlegen Sie einmal, wieviel Menschenopfer an Kinderleben wir bringen, und wieviel ihr Europäer ohne Plato-Staat, mit eurem humanen Bewußtsein. Vergleichen Sie numerisch die Liste unserer Keimtötung mit der euren, die sich unter dem Motto einer Hungerblockade vollzog. Hier sind es wenige Tausende, dort Millionen. Hier wird mit raschem Eingriff operiert, dort geschah das raffiniert langsame Morden. Hier besteht ein Zweck, der letzten Endes auf das Beste der Überlebenden hinauswill, dort waltete eine vom kalten Egoismus ersonnene Methode. Oder lassen Sie lieber die Vergleiche zwischen Euren Ländern und der von Ihnen entdeckten Insel, Sie hätten dabei nichts zu gewinnen!«
Bettler umschwärmten uns, und ich hielt es für angezeigt, hier und da eine kleine Gabe auszuteilen. Wir waren dazu imstande, da wir uns auf unserer Promenade, was ich vorher zu erwähnen unterließ, in einem großen Bankhause mit ausreichender Münze versehen hatten. Es berührte uns zunächst recht sympathisch, daß der Dollar überhaupt angenommen wurde, wiewohl wir zweifellos die ersten waren, die diese Einheit hereinbrachten. Mac Lintock hatte also recht behalten: die überzeugende Kraft des Dollars kann wie die Lichtgeschwindigkeit und wie die Gravitation als eine Weltkonstante erachtet werden.
Die für alle Inseln des von uns entdeckten Archipelagos gültige Münzeinheit ist die Dragoma, die in je hundert Dragominda zerfällt. Nach ihrer Kaufkraft gemessen würde die Dragoma etwa einem Vierteldollar entsprechen. Wir mußten trotzdem bei der Umrechnung zehn Dollar für den Gegenwert je einer Dragoma bezahlen, was den Amerikaner zu lebhaft gestikulierten, wiewohl vergeblichen Protesten veranlaßte. So eine Valuta-Schneiderei hätte er doch für undenkbar gehalten, und es wäre ein Glück für die Leute, daß auf Balëuto noch keine amerikanische Gesandtschaft existiere, sonst könnten diese Währungsschieber etwas erleben!
Weitere Enttäuschungen folgten. Einer der Bettler, dem ich einige Dragominda geschenkt hatte, warf mir die Münzen vor die Füße mit der Motivierung, das sei falsches Geld. Ich nahm sie auf, ging nach der Bank zurück und stellte den Beamten zur Rede. Der erklärte, das hätte sofort moniert werden müssen, auf nachträgliche Reklamationen könnte sich die Bank nicht einlassen. Erst ein Geschäft perfekt machen und es nachher bemängeln, das sei unphilosophisch und verstoße gegen Treu und Glauben. Übrigens stellte es sich alsbald heraus, daß mindestens 75 Prozent des Geldes echt war, so daß eine ernstliche Verlegenheit für uns nicht entstehen konnte. – Ich beobachtete eine Szene, die im ersten Moment wie ein hübsches Genrebild anmuten konnte. Etliche Lazzaroni hatten auf Grund der von mir ausgeteilten Münzen an der Straßenecke ein fliegendes Hasard mit Spielkarten etabliert, eine Art von Proleten-Baccarat, das leider sofort in Streit und Handgemenge ausartete. Messer wurden gezückt, Gliedmaßen getroffen, Schreie gellten durch die Luft, und blutig färbte sich der Boden. Gegenüber stand ein behelmtes und bewaffnetes Individuum, offenbar ein Polizist, der von diesen Vorgängen nicht die leiseste Notiz nahm. Er dachte vielmehr tief nach, und es mußte wohl etwas Philosophisches sein, worüber er