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auf. Von hier oben wirkt das massive Panzerfahrzeug wie ein Spielzeugauto.

      Unser Flieger beschleunigt und jagt entlang der Pipeline nach Norden. Die Fensterblenden schließen sich, sodass ich mir die verdorrte Welt unter uns nur noch vorstellen kann. Der Bau und die Wartung der Pipelines sind Arbeiten „erster Gefahrenordnung“. Mörderische Hitze, schädliche Sonnenstrahlung und immer häufigere Anschläge: Mein Vater war nicht der Erste und nicht der Letzte, der dabei ums Leben kam. Behutsam greife ich nach seinem Rauringsplitter an meiner Halskette. WERT hat uns zwar verboten, Privatgegenstände mitzunehmen, doch von dem Erinnerungsstück kann ich mich unmöglich trennen, sei es auch nur für eine Weile. Das kantige Metallstück ist das Einzige, was mir von meinem Vater geblieben ist. Warum gerade er? Wieso nur? Die Welt ist so ungerecht, schießt es mir durch den Kopf. Ich presse die Lippen zusammen, wie so oft in letzter Zeit.

      Das Mädchen neben mir streckt sich in ihrem Sitz. Ich habe noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt, ganz im Gegensatz zu Felix, der sie offensichtlich sofort angesprochen hat. Gerade lässt er seinen Talisman vor ihren Augen baumeln, die sie vor Erstaunen weit aufgerissen hat. Mich wundert es nicht, dass auch er sich über das Privatsachen-Verbot hinweggesetzt hat. Ich kann ihn verstehen. Wer lässt schon freiwillig sein Glück zurück?

      Vorsichtig, fast ehrfürchtig greift die Rothaarige nach dem Schmuckstück und betastet es mit ihren schlanken Fingern. Der kleine Globus fasziniert jeden, der ihn zum ersten Mal sieht. Sonnyboy Felix mit seinen schrägen Sprüchen ist ebenfalls allseits beliebt. Mit ihm gibt es immer etwas zu lachen. Dennoch verbringt er seine Zeit am liebsten mit mir, seiner alten Sandkastenfreundin. Ich bin froh darüber, denn ein Kumpel wie er ist unersetzlich. Mit Felix kann ich über alles reden, ohne dass ich je Angst haben müsste, er könnte das gegen mich verwenden. Seine Beinahe-Knutschattacke von vorhin hat mich schon verwirrt und war auch ein bisschen daneben, aber was soll’s – war bestimmt ein Versehen.

      „Hallo, ich bin Emony“, mische ich mich in sein Gespräch ein.

      „Hallo, Emony“, antwortet das Mädchen unsicher und schaut mich an. Ihr Kopf mit den dichten roten Locken und den riesigen grünen Augen scheint nicht zu ihrer schmalen Statur zu passen. Wie konnte so eine zarte Person nur diesen fiesen Aufnahmetest bestehen, frage ich mich.

      „Mila weiß alles über Klimageschichte“, informiert mich Felix und schwenkt seinen Talisman hin und her, bevor er ihn wieder wegpackt. „Und über Petrografie, du weißt schon, Felsenkunde. Sie hat die Lerndateien komplett inhaliert.“

      Verlegen lächelt Mila. „Petrografie ist mein Lieblingsfach. Die Erde hat so viele verschiedene Gesteine, und wir wohnen mittendrin. Ihr seid bestimmt auch neugierig, was hinter eurer Zimmerwand kommt, oder?“

      „Nur der Technikraum, wir wohnen in der hintersten Ecke“, antwortet Felix. „Petrografie ist mir zu hoch. Schiefer, Schluff, Schlacke … die ganzen Feinheiten merkt sich kein Mensch! Im Test war ich nur bei den Kontrollkommandos gut.“

      „Die muss man einfach nur auswendig lernen“, erwidere ich.

      „Ein Hoch auf die Rumkommandier-Kunde“, sagt Felix. Die Anweisungskürzel der WERT-Zentrale für Gasbohrungen zu pauken, ist ziemlich stumpfsinnig, da hat er recht, aber das waren geschenkte Punkte.

      „Emony war im Theorietest übrigens richtig gut“, redet Felix weiter. „Sie hat siebenundachtzig Punkte erzielt. Bei mir hat es nur für fünfundsiebzig gereicht, so dass ich mit Ach und Krach ins Programm reingerutscht bin.“ Seine Offenheit überrascht mich immer wieder.

      „Was war denn deine Punktzahl?“, fragt er Mila.

      Die duckt sich zwischen ihre Anschnallbügel.

      „Spuck es schon aus!“, drängt Felix sie.

      Mila rutscht noch tiefer in ihren Sitz.

      „Wir verraten es auch niemandem.“ Felix beugt sich verschwörerisch zu ihr und flüstert: „Das bleibt unter uns. Versprochen!“

      „Achtundneunzig Punkte“, meint Mila.

      „Achtundneunzig Punkte??“, schreit Felix durch das Flugzeug und starrt sie an, als wäre sie das achte Weltwunder. Der halbe Flieger dreht sich zu uns um, und Mila verschwindet fast komplett hinter den Anschnallbügeln.

      „Das ist der helle Wahnsinn“, fügt Felix etwas leiser hinzu. „Damit hast du die Adoptenstelle fast schon in der Tasche!“ Felix grinst über das ganze sommersprossige Gesicht. „Dich brauchen wir für unser Team. Bist du dabei?“ Er legt den Kopf schief und streckt ihr die Hand entgegen. Schüchtern lächelnd schlägt sie ein.

      Plötzlich bemerke ich, wie sich etwas unter Milas Kleidung bewegt. Unter ihrem viel zu großen Hemd lebt irgendetwas. Neugierig schiele ich rüber.

      „Irri, du brauchst doch keine Angst haben“, meint Mila leise und zupft vorsichtig an ihrem Reißverschluss. Ein schuppiges gelbes Bein mit Klammerzehen kommt zum Vorschein.

      „Ein Chamäleon! Du hast ein Chamäleon mitgebracht“, platze ich heraus. Schnell halte ich mir den Mund zu. Hoffentlich hat mich niemand gehört, denn das ist höchstwahrscheinlich auch verboten.

      Mila zuckt entschuldigend mit den Schultern. „Ich konnte meine Irri doch nicht zu Hause lassen. Sie braucht alle vier Stunden Wasser aus der Pipette, das würde mein Vater bestimmt oft vergessen.“ Mir braucht sie das nicht zu erklären. Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie es Emil bei meiner Mutter wohl geht. Gibt sie ihm oft genug zu trinken, und sprüht sie seine Pflanzen oft genug mit Wasser ein? Eins steht jedenfalls fest: Sein Terrarium ist sicher blitzblank.

      Irri lugt verschüchtert aus den Falten von Milas Brusttasche, lässt die Augäpfel ruckelnd kreisen und stellt ihren gelbgrünen Kopfschild auf.

      „Ein Weibchen. Ein besonders schönes“, meine ich und erhalte für mein Lob ein dankbares Kopfnicken von Mila. Sie formt mit ihren Händen ein warmes Nest für das Chamäleon. Während sie dem Tier leise zuredet, lasse ich mich von ihrer weichen Stimme einhüllen und rolle mich auf meinem Sitz zusammen wie ein Chamäleon.

      4. Kapitel

      Als die Transportmaschine nach vier Stunden brummend in den Sinkflug geht, öffnen sich die Fensterblenden. „Ooooh“, raunt es vielstimmig durch das Flugzeug. Die Aussicht kommt mir unwirklich vor, wie ein Foto aus einem Bildband, bei dem Kontrast und Farben verstärkt wurden. Die Werbefilme für die Adoptenausbildung haben nicht übertrieben.

      Wir nähern uns einer Bergkette mit felsigen Gipfeln und üppigem Bewuchs weiter unten. Die Farben sind so satt und grell, dass es beinahe in den Augen schmerzt – Gelbgrün, Blaugrün, Schwarzgrün, Grün in allen Schattierungen. Polaris, die Hauptstadt des Regenrings, liegt am Fuß einer Bucht, umgeben von bewaldeten Hängen. Die Vegetation erstreckt sich über die Vorgärten bis zum Dach der bläulich schimmernden Türme und sprießt sogar zwischen den spiegelnden Glasflächen heraus.

      Felix stößt einen Pfeifton aus. „Magnetautobahnen! Reee-gen-frisch!“ Er reckt den Hals und stemmt sich gegen die Haltebügel, um von seinem Innensitz einen besseren Blick nach draußen zu erhaschen. „Seht ihr die Selbstfahrspur? Die Powerschlitten müssen Energie für drei Pipeline-Shuttles haben!“ Wild fuchtelt er mit seiner Hand vor Milas Gesicht herum. „Schaut mal da, auf dem Dach! Das blaue Becken! Das muss ein Swimmingpool sein! Der fasst mindestens vierhundert Kubikmeter Wasser.“

      In meinem Hirn rattert es. Vierhundert Kubikmeter, vierhunderttausend Liter. Das entspricht achtzigtausend Tagesrationen für meine Mutter und mich. Beim aktuellen Preis von zwanzig Liqui pro Zuteilung ist die Poolfüllung eins Komma sechs Millionen Liqui wert. Das sind tausendsechshundert Monatslöhne für eine Desinfektorin wie meine Mutter. Bei diesem Gedanken wird mir ganz schwindelig. Felix dagegen scheint das alles gar nicht zu belasten, stattdessen kommentiert er munter weiter, was er alles sieht. Von Mila höre ich kein Wort.

      Wir haben Polaris überflogen und nehmen Kurs auf eine Anhöhe hinter der Stadt. Der Boden rast so schnell auf uns zu, dass ich Druck auf den Ohren spüre. Wir sinken und tauchen in die grüne Landschaft ein, bis das Transportflugzeug abrupt abbremst. Einen Moment lang rebelliert mein Magen, dann landen

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