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nicht!“

      Mit einer schnellen Armdrehung hebelt er meinen Griff aus und kickt mir die Beine weg. Angst schießt wie ein brennender Pfeil durch meinen Körper, bevor ich krachend auf dem Rücken lande. Der Aufprall auf dem harten Gitter presst mir die Luft aus der Lunge. Ein unkontrolliertes Rasseln kommt aus meinem Hals.

      „Felix, bitte!“ Mein jämmerliches Krächzen würde einen Stein erweichen. Aber nicht meinen besten Freund. Der starrt nur mit leerem Blick auf mich herunter. Ein stummer Fremder.

      Stumm? Da ist doch was faul. Keine Pfeifzeichen. Keine Reaktion. Der Angriff. Das Brennen in meinen Ohren. Ich schnappe nach Luft. Nichts hier ist real! Weder Felix noch der Schacht. Die Testleiter verarschen uns. Sie täuschen uns vor, unsere Freunde würden uns angreifen. Hetzen uns gegeneinander. Lügen uns an, treiben perverse Psychospiele mit uns. Die verfluchten Schweine!

      Als ich dem falschen Felix in sein wächsernes Gesicht schaue, kocht die Wut in mir hoch. Zornig trete ich meinem Kontrahenten gegen das Schienbein. Der fliegt mit einem dumpfen Brüllen vom Steg. Ich rapple mich auf, mein Atem geht stoßweise.

      „Hinterherspringen“, befiehlt der Testleiter.

      Ohne zu zögern, mache ich einen Schritt ins Leere.

      3. Kapitel

      Ich lande mit den Füßen voran, kippe auf die Knie und fange mich mit den Händen ab. Meine Handballen versinken in einer weichen Matte. Ich lasse mich auf die Seite fallen und bleibe keuchend liegen.

      Mein rasender Puls beruhigt sich nur langsam. Sie wollten nie, dass wir uns gegenseitig umbringen. Wir sollten das nur glauben, um den ultimativen Gehorsam zu beweisen. Wenn WERT uns befiehlt zu springen, springen wir. Wenn sie uns befehlen, den besten Freund in einen Schacht zu stoßen, tun wir das. Darum geht es hier also. Diese Erkenntnis hinterlässt einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge.

      „Helme abnehmen“, verlangt der Testleiter.

      Ich hatte recht. Der bodenlose Schacht war ein Trugbild. Wir sind bloß eineinhalb Meter tief gefallen. Lediglich der Steg war echt.

      Stöhnend reibt sich mein Gegner das Schienbein. Der rundköpfige Junge mit den schwarzen Stoppelhaaren muss aus einem anderen Trakt kommen, denn ich kenne ihn nur flüchtig vom Sehen.

      „Tray Banner, nach links zu den Verlierern. Emony Keller, nach rechts zu den Siegern“, tönt es aus dem Lautsprecher. Feindselig starrt Tray mich an. Ich strecke meinen schmerzenden Rücken durch und folge dem Testleiter, der bereits im rechten Korridor verschwunden ist.

      Dort wartet schon Felix. „Emo, du hast es geschafft!“ Freudestrahlend rennt er auf mich zu und umarmt mich ungestüm. Er drückt mich so fest an sich, dass mir ein gepresstes „Uff“ entweicht. Als er mich auf die Wange küsst, streifen seine Lippen plötzlich meinen Mundwinkel. Das überrumpelt mich fast noch mehr. Überrascht lache ich auf, schnell lässt Felix mich los und zieht verschämt grinsend den Kopf ein. Seine Wangen laufen knallrot an. Ich lache noch mal, um die peinliche Situation zu überspielen, und strecke ihm die erhobene Handfläche entgegen. Dankbar schlägt er ein.

      Das ungeduldige Winken des Testleiters kommt uns jetzt gerade recht. Wir folgen ihm eilig. Nach ein paar Schritten hat sich Felix schon wieder gefangen. „Bei dem Test warst du klar im Vorteil, oder?“, sagt er, womit er mein Lügenfeuer meint.

      „Zuerst war ich zu langsam. Fast hättest du mich runtergeworfen – oder zumindest der Typ, dem sie dein Gesicht aufgesetzt haben. Gegen wen bist du eigentlich angetreten?“

      „Gegen dich natürlich.“ Felix schaut mich von der Seite an.

      Verwirrt runzle ich die Stirn. „Und wie hast du bestanden?“

      „Na das war doch klar. Ich pfeife, und du spurst nicht? Da war ich gleich fertig mit dir“, erwidert Felix provokant grinsend.

      Ich starre ihn ungläubig an.

      „Nur Spaß“, schiebt er nach und knufft mich in die Seite. „Mir war sofort klar, dass du das nicht sein kannst. Die Tussi auf dem Steg hat gar nicht auf mich reagiert. So ein Pokerface hast du nicht drauf. Dir sieht man sofort an, was dir durch den Kopf schießt.“

      Dass das mal nützlich sein wird, hätte ich nie gedacht.

      Der Testleiter bringt uns zur Transportschleuse. Während wir ihm hinterherlaufen, überfällt mich plötzlich so etwas wie Heimweh. Was natürlich absurd ist, schließlich habe ich meine Siedlung noch nicht einmal verlassen. Aber in wenigen Minuten muss ich es tun. Ich lasse meine Finger an der rauen Betonwand des Korridors, an den fleckigen, mit abgewetzten WERT-Werbestickern beklebten Abluftrohren und den vibrierenden, heißen Generatorkästen entlanggleiten. Ich horche auf das Rauschen der Klimaanlage und blinzle in die gelbstichigen, von toten Insekten gesprenkelten Lichtschienen. Meine Mutter nimmt die trüben Plastikverkleidungen der Neonröhren alle drei Monate ab, dabei hat sie nicht die geringste Chance gegen die Selbstmordmücken.

      Beim Anblick der Röhren wird mir seltsam zumute. Wann komme ich wieder hierher zurück? Wenn ich aus dem Adoptenprogramm rausfliege, dann schon ganz bald. Aber das darf nicht passieren.

      Unter der Schleuse wartet ein kleines schwarz-weißes Flugzeug auf uns. Mit seinem glänzenden Äußeren und den schnittig-fließenden Formen wirkt der Jet zwischen dem klobigen Sichtbeton unserer Siedlung wie ein Fremdkörper. Wie ein elegantes, exotisches Tier, das gefangen und in einen Käfig eingesperrt wurde. Mein Vater hat mir einmal ein Foto von den schwarz-weißen Killerwalen gezeigt, die vor etwa hundertfünfzig Jahren ausgestorben sind. Diese Maschine sieht aus wie ein metallener Orca mit weißem Bauch und schwarzen Stummelflügeln. „Wow“, stößt Felix hervor und pfeift beeindruckt. Während wir die Gangway hinaufsteigen, streiche ich andächtig an dem mattschwarzen Geländer entlang. Das gebürstete Metall fühlt sich kühl und glatt unter meiner Handfläche an.

      In dem taghell erleuchteten Innenraum des Fliegers warten schon die anderen Kandidaten. Zusammen mit uns fliegen sie zum Regenring. Felix berührt mit der rechten Hand seine Brust dort, wo das Herz schlägt, und klopft mit der linken auf seinen Rauring. Das ist die offizielle Begrüßung in unseren Siedlungen. Felix vollführt den Gruß mit feierlicher Miene, aber nur vereinzelt kommen reservierte Gesten zurück. Manche der anderen Adoptenanwärter starren uns richtig feindselig an – Konkurrenz liegt in der Luft. In dieser angespannten Atmosphäre fällt das schüchterne Lächeln eines rothaarigen Mädchens in der zweiten Sitzreihe besonders auf. Links und rechts von ihr sind noch Plätze frei, also nehmen wir sie in die Mitte. Ich ergattere den Fensterplatz.

      In letzter Minute läuft schnaufend ein kleiner, pickliger Junge die Treppe hoch und bleibt unsicher im Gang stehen. „Hallo, ich bin Morry“, bringt er keuchend hervor. Weil keiner antwortet, schluckt er und fügt hinzu: „Morry Klein.“

      „Das sehen wir“, ruft einer von hinten.

      „Platz nehmen, anschnallen“, ertönt es aus dem Lautsprecher, und Morry sinkt in den letzten leeren Sitz.

      Die Einstiegstür des Transporters schließt sich mit einem leisen Klicken, metallische Anschnallbügel senken sich über uns und fixieren uns auf den glatten Sesseln. Ich wage es kaum, mich in den schicken Sitzen zurückzulehnen. Unsere Polstermöbel zu Hause sind rissig und verschlissen. Diese riechen nach Lederimprägnierung und glänzen, als hätte noch nie jemand drauf gesessen.

      Gedämpft hören wir das Schleifen der stählernen Schleusendecke, die sich langsam über uns öffnet. Der Antrieb des Transporters startet mit einem vibrierenden Summen. Als der Flieger senkrecht in den Himmel schießt, kribbelt es in meinem Magen.

      „Wow, ultra-frisch!“, entfährt es Felix beim Start der Maschine. Niemand antwortet, und er behält weitere Kommentare für sich.

      Nachdem wir die Flughöhe erreicht haben, geht das Brausen des Motors in ein sanftes Schnurren über. Ich schaue aus dem kugelrunden Fenster und sehe meine Heimat zum ersten Mal von oben. Dunkle, zerklüftete Hügelketten ragen wie langgezogene Inseln aus den rötlich-weichen Sanddünen. Immer wieder erkenne ich schwarz-graue Erhebungen mit bunten Flecken, die rundum von Förderbändern umgeben sind – gigantische Müllkippen

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