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Kreis einer adligen Gesellschaft kehrt er zu Lotte, die inzwischen geheiratet hat, zurück. Er liest ihr in Abwesenheit ihres Gatten seine Ossian-Übersetzung (vgl. Anm. 5) vor, und als sich darüber erneut ihre Seelenverwandtschaft offenbart, vergisst er sich und tritt der Geliebten zu nahe. Lotte entflieht, und Werther beschließt sein Ende. Er bittet Lottes Gatten unter dem Vorwand einer Reise um zwei Pistolen und erschießt sich.

      Das Außerordentliche an dieser Geschichte ist Werthers Gefühlstitanismus. Im Glück rührt die Natur Werther zu Tränen. Sein berühmter Brief vom 10. Mai schließt mit den Worten: »[…] ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.« Der unglückliche Werther sieht in derselben Natur »nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheur«. Dieser Subjektivismus und der als »Krankheit zum Tode« entschuldigte Selbstmord lösten lange Erörterungen aus, in denen der Sturm der Begeisterung für die Leidenschaft siegte. Werther wurde ein ungeheurer europäischer Bucherfolg mit zahllosen ernsten und parodistischen Nachahmungen. Napoleon las den Roman siebenmal. Man handelte mit Chodowieckis Illustrationen zu dem Buch, mit Werther-Nippes und Eau-de-Werther-Parfüm; man kleidete sich wie Werther, und wo sich die Werther-Mode zum schlimmsten Werther-Fieber steigerte, soll es stilechte Selbstmorde gegeben haben.

      Auch Anton Reiser, der vom Weltschmerz erfüllte Held eines psychologischen Romans von KARL PHILIPP MORITZ (1756–1793), trug den Werther in der Tasche; und Werthers Schwermut »führte [auch] ihn mit schnellen Schritten an den Fluss, wo er die unerträgliche Bürde dieses elenden Daseins abwerfen wollte«. Doch die lehrhafte Tendenz, mit der der Erzähler alles Autobiographische dieser inneren Geschichte des Menschen ins Beispielhafte wendet, belässt es bei diesem mahnenden Wink. Mit feinen psychologischen und soziologischen Beobachtungen zeigt Moritz im Anton Reiser (1785–90), welchen quälenden Umständen der genialische Mensch aus der unteren Gesellschaftsschicht bei seinem Streben nach Selbstverwirklichung ausgesetzt war. Ein höchst aufschlussreiches Buch für den Leser, der die geschichtliche Wirklichkeit der Geniezeit sucht.

      Der wenig ansehnliche Anton Reiser identifizierte sich mit Werther bis auf das, was »die eigentlichen Leiden Werthers anbetraf […] denn ein Mensch der liebte und geliebt ward, schien ihm ein fremdes ganz von ihm verschiedenes Wesen zu sein«. Diese Seite des Genies verkörpert der Held des Romans Ardinghello und die glückseligen Inseln (1787) von JOHANN JAKOB WILHELM HEINSE (1746–1803). Ardinghello ist ein florentinischer Maler, adlig, schön und vielseitig begabt. Er entfaltet in völliger Übereinstimmung mit sich selbst sein Genie in kraftvoller Sinnlichkeit und ästhetischem Genuss und gründet am Ende mit seinen Geliebten und Freunden einen Inselstaat, in dem dionysische Sinnenfreude herrscht. Heinses hedonistische Gesinnung,18 die an Wielands Agathon anknüpft und zu den Künstlerromanen der Romantik überleitet, stieß auf Goethes und Schillers Kritik. Dennoch bleibt dieser Roman ein großartiges Zeugnis für das Selbstverständnis und das Selbstgefühl des Genies.

      6. Die Klassiker

      Der Klassiker, lateinisch classicus, war ursprünglich ein römischer Bürger aus der höchsten Steuerklasse, dann, als scriptor classicus, ein Schriftsteller ersten Ranges. Dieser Qualitätsbegriff bekam historische Bedeutung, als die Humanisten der Renaissance die Kunst der griechisch-römischen Antike grundsätzlich zum Vorbild erhoben und ›klassisch‹ nannten. Ähnlich bezeichnet nun das Wort jeweils den Zeitraum, in dem einzelne Nationalliteraturen zur höchsten Blüte gelangen. In der deutschen Literatur kommt es nach der heute weniger bekannten mittelhochdeutschen Klassik um 1200 (vgl. Kap. 1c) noch einmal um 1800 zu einer jüngeren und darum noch stärker nachwirkenden Klassik. Diese hauptsächlich von Goethe und Schiller getragene Weimarer Klassik verdient ihren Namen nicht nur als eine zweite Gipfelleistung der deutschen Literatur, sondern auch weil sie an das Humanitätsideal und die antikisierende Kunstauffassung der Renaissance anknüpft und dadurch wie diese mit der Klassik der Antike in Verbindung steht.

      Zu den unmittelbaren geistigen Grundlagen der Weimarer Klassik gehören vor allem das aufgeklärte rationale Bewusstsein von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen, aber auch die Erfahrungen pietistischer Seeleninnerlichkeit und irrationaler Gemütstiefe des Sturm und Drang.

      Als Wegbereiter der Klassik hatte Klopstock der deutschen Dichtersprache Würde verliehen, Lessing begriffliche Klarheit; Wieland hatte Anmut, Herder Kraft des Ausdruckes beigesteuert. Diese unterschiedlichen Vorzüge zusammengenommen und einem strengen Formwillen unterworfen ergeben nun das Ideal des »großen Stils«. Darin zielt die Bemühung der Klassiker auf ästhetische Harmonie und Vollendung und immer darüber hinaus zugleich auf die Bildung des Menschen.3

      a) Goethe (1749–1832)

      JOHANN WOLFGANG GOETHE, dessen erste Schaffensperiode in die Zeit des Sturm und Drang gefallen war, ging 1775 als Freund des achtzehnjährigen Herzogs Karl August nach Weimar, wo er – eben noch Stürmer und Dränger – nun durch seinen eigenen vorbildhaften Selbsterziehungsprozess den jungen Regenten dieses sächsischen Kleinstaates zu Verantwortungsbewusstsein und Pflichterfüllung führte und darüber für sich selbst Achtung und Freundschaft der Frau Charlotte von Stein gewann. – Neben dienstlichen Arbeiten und Reisen für die Kriegs- und Wegebaukommission entstand im Frühjahr 1779 das Schauspiel Iphigenie auf Tauris. Bei der Uraufführung auf einer Liebhaberbühne spielte Goethe selbst den Orest.

      Das mehrfach überarbeitete Stück, das wie Egmont und Tasso erst später (1787) die endgültige Versfassung bekam, behandelt einen Ausschnitt aus dem Tantaliden-Mythos4:

      Iphigenie, durch die Hand der Göttin Artemis vom Opferaltar nach Tauris entführt, dient dort unter dem Barbaren-König Thoas als Artemis-Priesterin. Sie bewegt Thoas dazu, von den landesüblichen Menschenopfern abzulassen. Doch als sie des Königs Werben um ihre Hand zurückweist, droht er, die Opferung anlandender Fremdlinge erneut einzuführen. Gerade da erscheinen Iphigenies Bruder Orest und dessen Freund Pylades. Orest, der, seinen Vater Agamemnon an Klytämnestra rächend, sich des Muttermordes schuldig gemacht hat und von den Furien verfolgt wird, ist wahnverstört. Apoll beschied ihm durch Orakelspruch: »Bringst du die Schwester, die an Tauris’ Ufer / Im Heiligtume wider Willen bleibt, / Nach Griechenland, so löset sich der Fluch.« Nun muss sich Iphigenie entscheiden, ob sie Thoas, der ihr vertraut, hintergehen, das Artemis-Bild rauben und mit Orest und Pylades entfliehen will, oder ob sie Thoas die Wahrheit sagen und sich, Bruder und Freund der Entscheidung des Barbaren anheimgeben will. Iphigenie entscheidet sich für Vertrauen und Aufrichtigkeit. Sie bittet die Götter: »Rettet mich / Und rettet euer Bild in meiner Seele!« Das ungeheure Wagnis dieser rückhaltlosen Tugendentscheidung überzeugt Thoas von der Idee der Humanität. Schweren Herzens lässt er Orest mit seiner Schwester ziehen. Und da Apoll, bei Goethe anders als bei Euripides (486–406), nicht das Götterbild seiner Schwester Artemis, sondern Orests Schwester meinte, ist mit Iphigeniens Heimkehr zugleich Orests Auftrag erfüllt und endlich der alte Fluch vom Geschlecht der Tantaliden genommen. – »Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit«, schrieb Goethe als Widmung in ein Exemplar des Textes. Es versteht sich, dass dieses Schauspiel, das Goethe selbst »ganz verteufelt human« nannte, neben Lessings Nathan als Muster des Humanitätsdramas gilt.

      In den ebenfalls vor der Italienreise (1786–88) entworfenen, aber erst später vollendeten Dramen Egmont (1787) und Tasso (1790) zeigt Goethe zwei Sturm-und-Drang-Naturen, von denen die eine gerechtfertigt, die andere in ihre Grenzen gewiesen wird.

      Lamoral Graf von Egmont (1522–1568) war der geschichtliche Statthalter von Artois und Flandern, den Herzog Alba als Führer des niederländischen Aufstandes gegen die Spanier enthaupten ließ. Bei Goethe findet man ihn nicht als Sechsundvierzigjährigen, der wie Schillers Marquis Posa um eine politische Entscheidung ringt, sondern als Jüngling, der seinem »Dämon« folgt5 und sich selbst verwirklicht, indem er trotz mannigfacher Warnungen dem tyrannischen Machthaber selbstbewusst und ohne schützende

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