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      In den 52 Theaterkritiken, die Lessing während seiner Arbeit am Hamburger Nationaltheater schrieb und unter dem Titel Hamburgische Dramaturgie12 (1767–69) veröffentlichte, wird die Kritik an Gottsched und den französischen Klassizisten fortgeführt; sie mündet in eine grundsätzliche Erörterung der Dramenkunst.

      Lessing weist nach, dass Corneille die Poetik des Aristoteles erst nach Beendigung seines Dramenwerkes gelesen und den alten Theoretiker, auf den sich die Franzosen als Autorität beriefen, zur eigenen Rechtfertigung falsch ausgelegt hat. – Aristoteles definierte:

      Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von bestimmter Größe in gewählter Rede, derart, daß jede Form der Rede in gesonderten Teilen erscheint und daß gehandelt und nicht berichtet wird und daß mit Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von eben diesen Affekten bewerkstelligt wird.13

      Die Furcht, erläutert Lessing, meint hier nicht, wie Corneille es wollte, den Schrecken vor dem dramatischen Helden, nicht ein Gruselmoment (terreur), das wahlweise und unabhängig vom Mitleid eingesetzt werden kann, sondern gemeint ist die Furcht für den Helden aus einer unlösbar mit dem Mitleiden verbundenen Sorge des Zuschauers um sein eigenes Schicksal:

      […] es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.

      So gründlich wie Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie die herrschende Meinung über die aristotelischen Dramenregeln überprüfte, so gründlich untersuchte er in der Schrift mit dem Titel Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) die Nachahmungstheorie, die aus der Poetik des Horaz erwachsen war (vgl. Kap. 4, Anm. 6).

      JOHANN JOACHIM WINCKELMANN (1717–1768), dessen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) die Griechenbegeisterung der deutschen Klassik prägten, hatte, mit einem Seitenhieb auf Vergil, darauf hingewiesen, dass der Laokoon14 des spätgriechischen Bildhauers nur seufze, während der Laokoon in der Aeneis laut schreie und so die »edle Einfalt und stille Größe« vermissen lasse, die das Hauptkennzeichen griechischer Meisterwerke der bildenden Kunst seien. Lessing, der dagegen anführt, dass auch in Homers Epen die Götter und Helden schreien, nimmt Winckelmanns Bemerkung zum Anlass, nach dem Grund für die unterschiedliche Darstellung zu fragen. Seine Antwort lautet: nicht der künstlerische Rang bedingt den Unterschied, sondern die unterschiedliche Natur der Künste; denn Lessing schlussfolgert:

      Die Anschauungsform der Malerei ist der Raum. Hauptgegenstand der Malerei sind Körper. Das Gestaltungsmittel ist das Nebeneinander von Form und Farbe. – Die Anschauungsform der Poesie dagegen ist die Zeit. Hauptgegenstand der Poesie sind Handlungen. Das Gestaltungsmittel ist das Nacheinander der gesprochenen oder geschriebenen Sprache.

      Will nun der Maler Handlungen darstellen, so kann er dies »nur andeutungsweise durch Körper«, indem er einen prägnanten Augenblick, »eine sichtbare stehende Handlung«, festhält. – Will der Dichter Körper darstellen, so kann er dies »nur andeutungsweise durch Handlungen«; Beispiel: »Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muss sich der König vor unsern Augen seine völlige Kleidung Stück vor Stück umtun; […]. Wir sehen die Kleider, indem der Dichter die Handlung des Bekleidens malet.«

      So falsch in der Dichtung die Nachahmung der Natur durch handlungslose Beschreibung ist (Lessing denkt an die Gedichte von Brockes, Haller und Ewald von Kleist, vgl. Kap. 4b), so falsch wäre es in der bildenden Kunst, eine fortschreitende Handlung darzustellen. Der Schrei eines Laokoon ist in der Dichtung am Platz, weil er dort vorübergeht; in einem Bildwerk zur Dauer erstarrt, wäre dieser »transitorische Moment« viel schwerer erträglich und würde bei längerer Betrachtung unwahr wirken. – Mit seiner einleuchtenden Abgrenzung der Künste hat Lessing die auf Horaz gründenden Nachahmungstheorien seiner Zeit widerlegt und der Sturm-und-Drang-Ästhetik15 den Weg geebnet. (Vgl. in diesem Zusammenhang den inzwischen von der Neurologie festgestellten Funktionsunterschied zwischen den Hemisphären des menschlichen Gehirns.)

      Was Lessing als Literaturtheoretiker forderte, hatte er selbst als Dichter bereits zum Teil erfüllt. Entsprechend der Einsicht, dass sich der bürgerliche Zuschauer, um Erschütterung seines Herzens durch Furcht und Mitleid zu erfahren, mit dem dramatischen Helden identifizieren muss, hat Lessing mit der Ständeklausel (vgl. ) gebrochen und 1752 mit Miss Sara Sampson ein bürgerliches Trauerspiel geschrieben.

      Dieses nach Cardenio und Celinde (Gryphius, vgl. Kap. 3b) erste bürgerliche Trauerspiel verzichtet auf den höfischen Heldentypus des französierenden Theaters. Der Name im Titel verrät die Hinwendung zu englischen Vorbildern. Anstelle eines weltbewegenden mythologischen Heroismus sucht das Stück in Anlehnung an Richardsons Roman Clarissa (1748, deutsch 1788) und Lillos Drama The London Merchant (1731, deutsch 1752) den Konflikt der empfindsamen Seele. Die in Prosa verfasste Tragödie weckt das Mitleid der Zuschauer durch den »moralisch rührenden Konflikt zwischen Tugendgehorsam und Herzenszärtlichkeit« (Benno von Wiese) und durch der Heldin innere Schönheit im Unglück:

      Miss Sara, die von ihrem Geliebten Mellefont entführt worden ist, leidet wegen ihres verlassenen Vaters Gewissensbisse. Mellefonts frühere Geliebte Marwood setzt den Vater auf Saras Spur. Dieser kündigt mit seiner Ankunft den Liebenden zugleich seine Verzeihung an. Die eifersüchtige Marwood, die mit so viel Güte nicht gerechnet hat, vergiftet Sara. Doch von ihres Vaters Güte bewegt, vergibt die sterbende Sara ihrer Mörderin. Über den Tod der edlen Geliebten verzweifelt und voll Reue, dass er sie nicht geehelicht hat, richtet sich Mellefont selbst, nachdem er wie Sara seine und der Marwood Tochter Arabella der Obhut des Alten empfohlen hat.

      Nicht weniger bahnbrechend als das erste bürgerliche Trauerspiel war Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück (1767).

      Lessings frühe Lustspiele, Der junge Gelehrte, Der Misogyn, Die alte Jungfer und Der Weiberfeind, folgen der überlieferten Form der Typenkomödie. Da wurden einseitig charakterisierte Helden, meist vor der Vernunft ihrer Diener, als Narren verlacht. Das hatte sich überlebt. Lessing mochte nicht mehr wie einst Molière auf die komische Vernichtung ausgehen. Er trat jetzt auch in der Komödie für den wirklichkeitsnäheren »gemischten Charakter« ein. In der Hamburgischen Dramaturgie formuliert er das neue Ziel:

      Die Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, über die sie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen sich diese lächerlichen Unarten finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit, das Lächerliche zu bemerken.

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