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Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit. Jürgen Wächter
Читать онлайн.Название Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit
Год выпуска 0
isbn 9783991311676
Автор произведения Jürgen Wächter
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
„Da die Masse das, was sie für Wahrheit oder Irrtum hält, keinen Zweifel setzt, andererseits ein klares Bewusstsein ihrer Kraft besitzt, so ist sie ebenso eigenmächtig wie unduldsam. Der einzelne kann Widerspruch und Auseinandersetzung anerkennen, die Masse duldet sie niemals. In den öffentlichen Versammlungen wird der leiseste Widerspruch eines Redners sofort mit Wutgeschrei und groben Schmähungen beantwortet, und wenn der Redner beharrlich ist, folgen leicht Tätlichkeiten, und der Redner wird hinausgeworfen.“168 Ein Herr aus Rheinland-Pfalz schilderte so einen wahren Horrortag. Erst ging er in eine Apotheke und wurde sofort angemahnt, eine Maske zu tragen. Auf seine Erklärung, er trage aus medizinischen Gründen keine Maske, kam sofort die rabiate Aufforderung, ein Attest vorzuzeigen. „Die stand da, wie ein Rottweiler!“ Gerade wollte eine andere Beschäftigte ihn hinter einer Plexiglasscheibe bedienen, tauchte der Apotheker auf und forderte ihn zum Verlassen der Apotheke auf, wobei er sich auf das Hausrecht berief. Der Kunde erklärte, er dürfe das nicht, da er nur ein eingeschränktes Hausrecht habe. Doch das interessierte den Ladeninhaber nicht. So ging der Kunde in ein benachbartes Lottogeschäft, wo er erneut auf die Maskenpflicht hingewiesen wurde. Sein Hinweis „Sie tragen ja auch keine Maske!“ wurde beantwortet mit „Ich stehe ja hinter einer Plexiglasscheibe!“ „Ich auch!“, antwortete der Kunde und brachte die Dame damit so in Verwirrung, dass sie den Lottoschein abrechnete. Nach so viel Theater betrat er nun eine andere Apotheke, wo das gleiche Szenario ablief. Dort erklärte er dem Apotheker: „Deswegen bin ich hier. Ich möchte eine Maske mit Beipackzettel, wo draufsteht, wie ich sie richtig anlege!“ „So etwas haben wir nicht. Nur 50er-Packungen, aber alle ohne Beipackzettel.“ Schmunzelnd verabschiedete sich der Herr, um beim Hereingehen in eine Tankstelle von hinten angebrüllt zu werden: „Maske!“. „Da stand ein zwei Meter großer Muskelmann.“ Wagemutig entgegnete er: „Hast du nicht alle Latten am Zaun, mich so zu erschrecken?“ Die Kassiererin lächelte vergnügt über diese Szene. Dann fuhr ein Streifenwagen vor und ein Polizist betrat ohne Maske den Tankstellenladen. Totenstill. Doch der Herr ging selbstbewusst auf den Zweimetermann zu und sagte: „Na, jetzt biste ganz leise, was?“ Dieser guckte ganz verdutzt und der Polizist lächelte ebenso vergnügt wie die Kassiererin.169
Ein anderer Herr erlebte Folgendes: „Langsam frage ich mich wirklich, was in unserer Gesellschaft falsch läuft. Eben im Zug von Düsseldorf nach Heilbronn. Geschrei. Zwei Männer stehen im Großraumwagen auf. ‚Ziehen Sie die Maske auf!‘ ‚Ich hab ein Attest!‘ Eine Frau Mitte 50 bleibt ruhig sitzen. ‚Ziehen Sie gefälligst die Maske auf!‘ ‚Ich habe ein Attest.‘ Ich habe mich umgedreht und den beiden deutlich gemacht, dass jemand mit Attest die Maske nicht im Zug aufsetzen muss – von der Bahn so genehmigt. ‚Zeigen Sie mir das Attest!‘ Die Frau verweigerte, sie würde das Attest nur dem Bahnmitarbeiter zeigen. Zur Schlichtung schlug ich vor, dass der Schaffner sich das Attest anschaut und dann sollte es gut sein. Schon lief der 2. Mann wie von einer Tarantel gestochen mit wütendem Schritt zum Schaffner und kam nach fünf Minuten wieder. Mit Schaffner. Der schaute sich kurz das Attest an und ging wieder. Beide Männer wieder wütend. Verlangten jetzt das Ticket von der Frau zu sehen und ob sie hier überhaupt sitzen dürfe (1. Klasse). Sie solle sich doch bloß wegsetzen. Die Frau ignorierte die Anfrage und ich habe den Herrn mal gefragt, was ihn das anging und ob wir neuerdings Stasi-Methoden anwenden. Die beiden Männer murmelten noch irgendwas und gaben dann erst mal Ruhe. Als die Frau dann ausstieg, stand sie im Gang neben dem Sitz des Mannes, der voller Panik aufsprang und sich zehn Meter entfernt hinstellte, bis die Frau ausgestiegen war. Herzlichen Dank, liebe Medien, liebe Politiker, liebe Corona-Panikmacher. Ihr habt es geschafft, dass sich Leute auf quasi offener Straße anfeinden. Dabei war es vollkommen egal, dass zwei erwachsene Männer um die 50 sich vor einer wehrlosen Frau aufplustern wie ein Gockel vor der Henne. Die Frau saß allein in ihrem Zugabteil mit genügend Abstand von allen anderen und hatte keine Maske auf, weil dies ärztlich verordnet war. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn hier jemand handgreiflich geworden wäre. Aber wahrscheinlich hatte man Angst vor der Ansteckung, wenn man sie anfasst … und traurig – es waren genug Menschen im Zug und niemand hat auch nur einen Mucks gemacht. Armes Deutschland.“170
Bedenkt man, dass die Mehrzahl der Menschen der Depressiven und Zwanghaften Persönlichkeit angehört, ist es verständlich, dass deren beider Kernaspekte sich besonders in der Masse ergänzen und verstärken. Auf den zwangshaften Aspekt wies Le Bon hin: „Nicht das Freiheitsbedürfnis, sondern der Diensteifer herrscht stets in der Massenseele. Ihr Drang, zu gehorchen, ist so groß, dass sie sich jedem, der sich zu ihrem Herrn erklärt, instinktiv unterordnen.“171 Und Siegmund Freud ergänzte den depressiven Aspekt: „Es ist unverkennbar etwas wie ein Zwang dabei wirksam, es den anderen gleichzutun, im Einklang mit den vielen zu bleiben.“172
Seit dem Zeitalter der Aufklärung herrschte die Idee, dass durch ein gutes Bildungssystem nun ein Zeitalter der Vernunft und der Rationalität eingesetzt habe. Die Einführung der Schulpflicht, der Ausbau der Universitäten unter Wilhelm von Humboldt, die Rückdrängung der Kirchen aus dem Staat und die Verbreitung des wissenschaftlichen und technischen Verständnisses schienen der richtige Weg zu sein. Immerhin entstanden so ein starkes Bürgertum, ein enormer wissenschaftlicher Fortschritt und grandiose technische Erfindungen; dies erzeugte Wirtschaftswachstum und zunehmenden Wohlstand für breite Bevölkerungskreise. Was lag näher als zu vermuten, dass dieser neue Bildungsstand nicht nur im Einzelnen, sondern auch in der Gesellschaft insgesamt angekommen war. Doch 1935 schrieb der Soziologe Willi Schlamm enttäuscht: „In Wahrheit ist eine Epoche vorbei, in der es den Anschein hatte, als ließen sich Massen der Gesellschaft von der Vernunft und von der Einsicht in ihre Lebenslage zum Aufstieg aus eigener Kraft lenken. In Wahrheit ist es mit der gesellschaftsformenden Funktion der Masse vorbei. Sie erweist sich als total formbar, knetbar, bewusstlos und fähig zur Anpassung an jegliche Macht, an jegliche Niedertracht. Sie hat keinen geschichtlichen Auftrag. Im 20. Jahrhundert, im Jahrhundert der Tanks und des Radios, ist dieser Auftrag unzustellbar, ist die Masse aus dem gesellschaftlichen Formungsprozess ausgeschaltet worden.“173 Zur gleichen Zeit, also vor dem Hintergrund des sich ausbreitenden Irrsinns der nationalsozialistischen Ideologie, formulierte der Psychoanalytiker Wilhelm Reich in seinem Werk „Massenpsychologie des Faschismus“: „Die Menschenmassen sind infolge jahrtausendealter sozialer und erzieherischer Verunstaltung biologisch versteift und freiheitsunfähig geworden; sie sind nicht imstande, das friedliche Zusammenleben einzurichten … Die Diktatoren haben durch die Bank ihre Macht auf der gesellschaftlichen Verantwortungslosigkeit der Menschenmassen aufgebaut.“174
All dies bestätigt Le Bon. Mag der Einzelne noch so gebildet und gelehrt sein, ist sein Inneres noch auf der Stufe der Angst im Sinne der Riemannschen Grundformen, so ist die Gefahr groß, dass er einer Meinung der Massen verfällt und auf deren Niveau hinabsinkt. Die Stufe der Ich-Stärke ist in der Masse noch nicht erreicht worden. Da fragt man sich, was muss eigentlich noch geschehen, bis die Masse endlich einmal aus ihrer Ich-Schwäche aufwacht? Offensichtlich waren die Erfahrungen aus der DDR- und NS-Diktatur und ihrer beider Scheitern noch nicht lehrreich genug. Nun findet mit Corona schon wieder so eine Massenpsychose statt. Auch das wird vergehen. Aber lernen die Menschen wieder nichts daraus? Oder gäbe es Methoden, dass nicht nur einzelne Menschen ihre eigene Reife finden, sondern auch größere Massen nicht mehr verführbar werden? Wir gehen darauf in Kapitel 10 näher ein.
146 FREUD 2020: 9.