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Schöne Ungeheuer. Wilfried Steiner
Читать онлайн.Название Schöne Ungeheuer
Год выпуска 0
isbn 9783701362929
Автор произведения Wilfried Steiner
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Und nun sollte sie in Linz einen Kollegen getötet haben. Einen, der in Genf beinahe Tür an Tür mit ihr gearbeitet hatte. Eine Tat ohne jegliches Motiv. Ausgeführt mit einem Brieföffner.
Wenn sie es denn war.
Ich brauchte eine Pause. Wie zum Trotz gegen meinen Chef beschloss ich, den Rest des Tages mit meiner Obsession zu verbringen und wieder in die Nebel von Tunguska abzutauchen.
Unter Dutzenden Schlagwörtern sammelte ich Berichte, wissenschaftliche Artikel, Zeitungsausschnitte und allerlei Kurioses in altmodischen Aktenordnern. Auf den Rückenschildern hatte ich verschiedene Begriffe notiert, zum Beispiel „Eiskomet“, „Antimaterie“ oder „Rettendes Raumschiff“. Unter den Buchstaben klebten Bilder, zur rascheren Unterscheidung. Den Rücken von Kuliks Ordner zierte ein Schwarz-Weiß-Foto von hingestreckten Baumstämmen, das er selbst aufgenommen hatte. Auf der Sammlung mit den meisten eingehefteten Zetteln prangte eine Figur aus den Simpsons. Sie war mehrmals in der Serie aufgetreten und trug über dem Kopf einen Karton, auf den ein Fragezeichen gemalt war.
Was ich mir von all dem erwartete? Nun, ich weiß es nicht. Nur aus Versatzstücken besteht die Geschichte des Lebens, es gibt keine Kohärenz. Hat einmal jemand gesagt, an dessen Namen ich mich nicht erinnere. Die vom Einzelnen erfassbare Welt hat keinen dramaturgischen Bogen, sie ist ein Sammelsurium aus beiläufig erzählten Anekdoten. Was mich tröstet, ist vielleicht der Gedanke, dass meine eigene Erzählung aus ebenso vielen Bruchstücken besteht wie der Stein- und Eisenhaufen aus dem All, von dem wir nicht wissen, ob es ihn jemals gegeben hat. Nur in der Zersplitterung können wir die Fiktion der Gesamtheit erfassen, oder widerlegen, oder was auch immer.
„Komm ins Bett, das bringt doch nichts“, sagte Helga, wenn ich zu lange über meinen Zetteln hockte.
Was genau daran nichts brachte, und in Bezug worauf, das konnte sie mir niemals erklären. Wenn ich dann endlich zu ihr kam, schlief sie schon tief. Meine Chemikerin, fest eingebettet in ihr Gefüge aus Formeln, Geborgenheit und Lebenslust.
Sie hatte nie eine Ahnung, wie sehr ich sie beneidete.
FÜNF
Am folgenden Vormittag befiel mich im Büro eine Nervosität, die ich mir nicht erklären konnte. In Google Books suchte ich Jelena Karpovas erste Publikation und versuchte mit höchster Konzentration, ihren Argumentationslinien zu folgen. Mit bescheidenen Ergebnissen. Spätestens bei den komplexen Formeln, die sie entwickelt hatte, stieg ich aus. In meinem Magen begann es zu rumoren. So nahm ich die Akte unter den Arm und machte mich auf den Weg in unsere Kantine. Meistens nahm ich mir zum Essen Arbeit mit, das lenkte von der Beschaffenheit der Speisen ab. Ich bestellte eine müde, in sich zusammengesunkene Lasagne und setzte mich an einen der Plastiktische. Von den Kollegen war noch niemand da.
Plötzlich ging die Tür auf und Herbert trat herein. Das war ungewöhnlich. Herbert mischte sich mittags selten unters Fußvolk, er bevorzugte ein Haubenlokal zwei Straßen weiter. Meine Alarmglocken fingen an zu läuten.
„Hier bist du also“, sagte Herbert. Er kam auf mich zu und bemerkte mit Genugtuung, dass das Dossier Jelena Karpova neben meinem Teller lag. Geöffnet.
„Du bist neugierig geworden, stimmt’s?“
Ich ließ mir Zeit mit der Antwort.
„Die Sache ist interessant. Ohne Zweifel. Aber –“
„Du hast ein Aber. Natürlich. Wie sollte es anders sein?“
Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber.
Aufreizend langsam trennte ich mit der Gabel ein Stück von der Teigmasse ab, führte es zum Mund und begann zu kauen. Herbert verlor die Geduld.
„Nun sag endlich! Aber – was?“
„Du hast etwas vergessen.“
„Ach ja?“
„Ja. Warum um alles in der Welt sollte diese Frau Interesse daran haben, mit der Presse zu sprechen?“ Ein guter Einwand, fand ich, doch Herbert reagierte zu meiner Überraschung erleichtert. Eine Falte, die sich über seinem Nasenrücken gebildet hatte, glättete sich wieder.
„Ach, das!“, sagte er. „Kein Problem, darum kümmert sich Eva.“
„Welche Eva?“
„Frau Dr. Eva Mattusch. Eine der berühmtesten Anwältinnen des Landes. Und einer der eigenwilligsten Menschen, die ich kenne. Erzähl mir nicht, dass dir der Name nichts sagt.“
Tat er nicht. Herbert verdrehte die Augen.
„Du solltest öfter über deinen Tellerrand blicken.“
„Um was zu sehen? Andere Teller?“
„Alles eine Frage der Perspektive.“
„Wenigstens weiß ich, was ich esse.“
„Lassen wir das.“ Herbert wischte sich etwas aus dem Gesicht. Unsichtbare Spinnfäden.
„Ich habe bereits einen Termin mit Eva vereinbart. Sie ist mir noch einen Gefallen schuldig. Oder zwei.“ Er zwinkerte mir zu.
Es war mir ein aufrichtiges Anliegen, mit meinem Kollegen auszukommen. Schon aus Selbstschutz. Oder Bequemlichkeit. Doch es gab Momente, da gelang es mir nicht. Dieses Zwinkern. Jovial, ein wenig zweideutig, beseelt von der eigenen Unwiderstehlichkeit. Ein Ich-bin-mit-der-ganzen-Welt-auf-Tuchfühlung-Zwinkern. War ich ungerecht? Mag sein. Jedenfalls war ich froh, dass in solchen Augenblicken kein Brieföffner in der Nähe war.
„Alles in Ordnung mit dir?“ Herbert musste hinter meiner Stirn etwas beobachtet haben. Mit großer Konzentration schaffte ich es, meine wildgewordenen Gedanken wieder zu zähmen.
„Ja, warum?“ Fast ohne Zittern führte ich mein Glas Apfelsaft zum Mund und trank einen Schluck.
„Ich dachte nur. Dein Gesicht war so –, so –“ Er stockte. „Na, egal. Also morgen um 15 Uhr.“
„Was?“
„Dein Termin. Mit Eva. Morgen um 15 Uhr, vor dem Landesgericht Linz.“
Ein wenig Recherche konnte nicht schaden. Manchmal ist es praktisch, dass jeder im Netz so viele Spuren hinterlässt. Außer vielleicht der Mann mit dem Karton auf dem Kopf, der Autor, dessen Gesicht fast niemand kannte.
Dr. Eva Mattusch war sechsundvierzig, hatte dreitausendzweihundert Freunde auf Facebook und keine Kinder. Alle ihre Fotos sahen aus, als hätte sie ein professioneller Fotograf aufgenommen. Die meisten zeigten sie in perfekt sitzendem Business-Kostüm, dezent geschminkt, Souveränität ausstrahlend. Wikipedia bezeichnete sie als eine der angesehensten Juristinnen Österreichs, da hatte Herbert also nicht übertrieben. Sie war wohl auch ein Liebling der Presse; ich fand zahlreiche lobende Artikel und Prozessberichte.
Lange betrachtete ich