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weiß, was dann davon übriggeblieben wäre.“

      Die Akademie finanziert eine neue Expedition, sie dauert mehrere Monate, doch Kulik findet nichts Neues. Er weiß nun: Er muss es mit Tiefenbohrungen versuchen. Irgendwo unter der sibirischen Erde liegen Bruchstücke des Himmelskörpers, das weiß er ganz genau! Er kehrt nach Leningrad zurück; mit dem Mut der Verzweiflung rüstet er eine weitere Erkundungsreise in das Absturzgebiet aus. Mit den besten Bohrern, die die damalige Technik zu bieten hat. Es gelingt ihm, mit diesen Geräten bis zu vierunddreißig Metern Tiefe vorzudringen. Und er entdeckt: nichts. Nichts von dem, was er finden hätte müssen, wenn es schon keinen Krater gibt – vermehrte Eisen-, Nickel- und Iridium-Vorkommen. Die klassischen Bestandteile eines Geschoßes aus dem All.

      So unermüdlich er auch gräbt: nichts.

      Er bricht ab.

      Niedergeschlagen und ausgezehrt trifft er in Moskau ein. Nun erheben die Kritiker ihre Stimmen: Man könne an der Meteoritentheorie nicht länger festhalten. Es müsse ein Komet gewesen sein, der einige Kilometer oberhalb des Bodens detoniert sei. Ein Komet würde sowohl die Beobachtungen des „Feuerballs“ erklären, als auch die Tatsache, dass keine Impaktorspuren auffindbar seien, da er ja vor dem Aufschlag explodiert sei. Kulik lässt sich davon nicht überzeugen. Die neue These, so findet er, ignoriere die Brandspuren an den Bäumen.

      1938 beauftragt er ein Unternehmen, Luftbilder der Region aufzunehmen. Die Fotos sind wunderschön, die Zone der Verwüstung hat die Form eines Schmetterlings. Wissenschaftlich aussagekräftig sind die Ergebnisse nicht.

      1941, nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, meldet sich Leonid Alexejewitsch Kulik zu einer Reservetruppe. Er gerät in deutsche Kriegsgefangenschaft und wird in ein Lager bei Spas-Demensk deportiert.

      Am 24. April 1942 stirbt er dort an Typhus.

      Sein Rätsel ist noch immer nicht gelöst.

      DREI

      Herbert Schiller empfing mich in seinem Büro mit einem gönnerhaften Lächeln.

      Es war kein protziges Büro, das war meinem Kollegen (oder Vorgesetzten? – ich gewöhnte mich nur widerwillig an den Gedanken) zugutezuhalten. Auch an der Mär – gerne verbreitet von uns sogenannten kritischen Redakteuren –, er hänge vor wichtigen Besprechungen ein Dollfuß-Porträt hinter sich an die Wand, war nichts dran.

      Sein braunes Haar neigte zu verspielter Lockenbildung und ließ ihn jünger aussehen, einzig die Schläfen waren ergraut. Aber da spross nichts ungezähmt in alle Richtungen, wie es bei Schläfenhaaren üblich ist; sie waren sorgfältig gekappt, begrenzt und beschnitten, sodass unschwer zu erkennen war, wie viel Mühe jeden Morgen in ihre Gestaltung floss. Zwei silberne Beete. Wenn mich sein Redeschwall in die halbbewussten Zonen der Tagträume driften ließ, sah ich manchmal Bewegungen in seinem Gesicht, sah, wie zwei zentimeterhohe französische Gärtner die Haarflächen mit winzigen Nagelscheren zu Rechtecken trimmten, deren Winkel auch unter dem stärksten Mikroskop exakt neunzig Grad betrugen. Irgendjemand musste ihm einmal den Floh ins Ohr gesetzt haben, Frauen jeden Alters fänden solche Insignien kontrollierter Weisheit unwiderstehlich.

      Herbert begann in feierlichem Ton.

      „Georg, du weißt, was deine Arbeit für unsere Zeitung bedeutet.“

      „Ich seh’s jeden Monat auf dem Gehaltszettel.“

      Herbert spielte Erstaunen. „Aber Georg, sag bloß nicht, dass dich der Materialismus in seine Klauen bekommen hat. Dich, den reinen Helden der Wissenschaft?“

      „Lass das, Herbert“, brummte ich. „Was willst du?“

      „Schlecht geschlafen heute? Aber deine Stimmung wird sich bald heben. Ich habe einen neuen Auftrag für dich.“

      „Das klingt nicht gut.“

      Herbert ignorierte diesen Satz.

      „Du hast sicher vom Fall Jan Koller gehört.“

      Hatte ich nicht.

      „Er ist letzte Woche in Linz ermordet worden. In der Nacht vor einem großen Kongress.“

      „Kriminalfälle interessieren mich nicht“, sagte ich brüsk.

      „Du wärst aber der ideale Berichterstatter.“

      Ich benötigte einige Sekunden, bis ich begriffen hatte, was er meinte.

      Empört sprang ich auf.

      „Du willst mir jetzt nicht allen Ernstes verkünden, dass ihr mich als Gerichtsreporter einsetzen wollt? Nur weil der Chef zu geizig ist, mehr Personal einzustellen? Aber nicht mit mir!“

      „Beruhig dich doch, Georg!“ Herbert hielt mir seine offenen Handflächen entgegen. „Bist du nicht ein bisschen zu alt, um hier ständig den Oberrevoluzzer zu geben?“

      „Zu alt?“, knurrte ich. „Denk an Chomsky.“

      „Nun, der arbeitet, Gott sei’s gedankt, nicht in unserer Redaktion.“ Herberts freundliche Grübchen erschienen auf seinen Wangen. „Außerdem gibt es noch gar keine Verhandlung.“

      Ich nahm wieder Platz.

      „Was willst du dann von mir? Und warum ich?“

      „Du bist unser Wissenschaftsjournalist. Und die mutmaßliche Täterin ist Teilchenphysikerin.“ Er machte eine kurze Pause, dann setzte er nach: „Am CERN.“

      Aha. Damit wollte er mich also ködern. Mit der Gralsburg der Naturwissenschaftler. Schon stellte ich mir die gewaltigen Ausmaße des ATLAS-Detektors vor, sah mich neben ihm stehen und zu einem Insekt schrumpfen. Doch das war nur eine Finte, ich durfte mich davon nicht beeindrucken lassen.

      „Soll ich ein Interview mit einer Mörderin führen?“

      „Ganz genau.“

      Herbert zog ein Kuvert aus der Schublade, öffnete es, nahm ein Foto heraus und legte es vor mich hin.

      „Das ist sie“, sagte er mit siegesgewisser Miene.

      Wie anmaßend! Hielt er mich für einen Mann, dessen Urteilsvermögen sich durch hübsche Larven beeinflussen ließ?

      Dann schaute ich mir das Porträt doch an. Länger als geplant. Aus dem Nichts fiel mir Taminos Arie ein, obwohl ich mindestens zehn Jahre nicht mehr in der Zauberflöte gewesen war. Das Unbewusste ist zuweilen ein Heckenschütze.

      „Sie ist angeblich eine der begabtesten Physikerinnen am CERN“, sagte Herbert. „Die Männer mit eingeschlossen. Ihr Name ist Jelena Karpova.“

      „Russin?“

      „Ihre Familie stammt aus Krasnojarsk.“ Herberts Grinsen hatte jetzt etwas Warmes, Mitleidiges.

      So schnappte die Falle zu und das Unheil nahm seinen Lauf.

      Falls es denn eines war.

      Nennen wir es lieber: das Unvorhersehbare.

      Herbert erhob sich und zog eine dicke Mappe aus dem Regal neben dem Fenster.

      „Das ist alles, was wir über sie haben. Ich möchte, dass du jede Seite davon liest.“

      „In meiner Freizeit, nehme ich an.“

      Herbert seufzte und setzte sich wieder. „Du kannst deine Arbeitsstunden gerne der Zeitung verrechnen. Aber mit Maß und Ziel.“

      Ich betrachtete die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln.

      „Warum liegt dir so viel an dem Fall?“

      „Er ist mysteriös“, sagte Herbert. „Eine ideale Ausgangslage für eine Aufdeckergeschichte.“

      Auch so ein Lieblingswort des Ressortchefs. Wenn die Gesetze es zugelassen hätten, würde als Berufsbezeichnung in seinem Pass Aufdecker stehen. Er träumte von den ganz großen Geschichten, in denen alles steckte: Kabale und Liebe, Betrug und Lügen und natürlich

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