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Wachmann vom Kettenwerk am Weg Nr. 4.

      Nein! Sie musste bleiben.

      Sie musste Georgie davon überzeugen, dass es wirklich nur diesen einen Weg gab, um die Sache zu beenden … wenn sie gemeinsam zurück zu der Gasschleuse gingen. Und während sie so dastand, die Hände auf die breiten Hüften gestemmt, den Blick starr in den Schacht gerichtet, hörte sie von der Halle her Stimmen und knallende Schritte.

      Plötzlich waren sie da.

      Oder sie hatte sie zuvor nicht wahrgenommen.

      Deutlich waren zwei Stimmen zu hören.

      Eine davon war eine Frauenstimme.

      Ihr Kopf flog herum und ihr Blick schoss zur Tür. Bedrohlich zuckte ihr Zeigefinger am Abzug der kleinen Schmeisser-MP 40. Blitzschnell hatte sie das kleine Schnellfeuergewehr in Anschlag gebracht, ohne sich jedoch ganz in Richtung Tür zu drehen.

      Der kurze Blick verriet ihr, dass die Tür geschlossen war. Durch das schmale Fenster in der Tür hätte man sie sofort gesehen, also machte sie reflexartig drei, vier Schritte rückwärts hinaus aus dem Blickfeld und in die Ecke links neben die Tür.

      Rechterhand befand sich der Schreibtisch.

      Ihr Blick schlich zurück in den Raum hinüber zu der schäbigen Holzpritsche, die natürlich nicht an ihrem Platz stand.

      Wenn jemand die Tür öffnete oder auch nur einen Blick durch das Türfenster warf, wäre er sofort gewarnt und würde die Situation sofort erfassen.

      Nur hatte sie keine Zeit mehr, die Situation zu ändern.

      Dafür waren die Stimmen bereits viel zu nah.

      Riss also jemand die Tür auf und käme hereingestürmt, würde sie handeln müssen.

      Keine Sekunde würde sie zögern und schießen. Hoffentlich wäre es das widerliche Schwein Ebling. Einen riesigen Gefallen würde er ihr tun. Er würde ihr wertvolle Zeit schenken.

      In den letzten Stunden war sie ihm mehrmals sehr nahe gekommen. Ein Dutzend Mal hätte sie ihn töten können, doch immer wieder entwischte er ihr, auch unmittelbar vor ihren Augen, so als kann er mich überhaupt nicht wahrnehmen… und ich kann ihn nicht erreichen … ihn nicht anfassen … ihm nichts anhaben?

      In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass er sie gar nicht suchte, sondern ausschließlich die junge Irmi. Nur sie will er haben. Und aus keinem anderen Grund, als das mit allen Mitteln und mit all ihrer Kraft zu verhindern, war sie an diesen scheußlichen Ort zurückgekehrt.

      In diesem Moment erkannte sie eine der beiden Stimmen.

      Es war tatsächlich Ebling.

      Die Frauenstimme war ihr nicht bekannt.

      Sie verstand kein Wort, obwohl die Stimmen sich anschrien. Es hallte zu sehr, als dass klare Worte zu ihr durchdrangen. Einige Wortfetzen schnappte sie dennoch auf: „Ich sehe mich o … um! Geh’ Du …ter!“

      „Was willst du denn da oben?“, entgegnete die Frauenstimme schrill. Es klang, als wären sie jetzt in unmittelbarer Nähe der Tür.

      „Das ist meine Sache! Du gehst runter!“

      Niemand sah durch das Türfenster. Die Tür wurde nicht aufgerissen.

      Stattdessen entfernten sich die Stimmen. Auch die knallenden Stiefeltritte verhallten schnell und hinterließen eine gespenstische Stille. Es war, als hörte sie dicht an ihren Ohren ein gewaltiges Atmen, so als würde der Schacht sämtliche Luft aus diesem schmalen Raum ein- und wieder ausatmen.

      Sie musste hier raus.

      Sie musste Ebling hinterher.

      Sie ahnte wohin er wollte … an das Fenster!

      Für eine Sekunde überlegte sie, ob sie die Luke lieber schließen und die Holzpritsche wieder darüber schieben sollte, doch sie öffnete stattdessen die Tür.

      Im nächsten Moment stand sie wie aufgepumpt in der Halle und lauschte in die Dunkelheit, die Schmeisser im Anschlag.

      Dumpfe Geräusche drangen zur ihr durch. Geräusche, wie man sie nur in derartigen Gebäuden erwartete. Es konnte alles sein und es konnte alles bedeuten. Eine Tür, die irgendwo weiter oben oder weiter hinten ins Schloss fiel, oder es schlug etwas oder jemand polternd zu Boden. Auch nahm sie Stimmen wahr, die aber keine Bedrohung für sie darstellten, da sie zu weit entfernt schienen.

      Als kämen sie sogar aus einem anderen Gebäude.

      Waren es überhaupt Stimmen?

      Auf keinen Fall durfte sie ihre Sinne auf diese unklaren Geräusche einschärfen. Sie durfte sie aber auch nicht außer Acht lassen.

      Sie musste in die erste Etage.

      Das erwies sich als schwierig, da sie sich in dem Gebäude nicht auskannte. Damals war sie mehr oder weniger blindlings neben Ebling hergelaufen, hatte nicht nach rechts oder links gesehen. Sie hätte heute nicht mehr sagen können, warum sie überhaupt von der Gasschleuse wusste. Damals wusste man es halt.

      Derartige Gebäude hatten eben Gasschleusen, andere nicht. Schließlich war es das Verwaltungshaus vom Kettenwerk. Solche Gebäude waren viel besser ausgestattet und geschützt!

      Während sie noch in ihren Erinnerungen wühlte, wie sie am schnellsten in die oberen Stockwerke kam, setzte sie sich in Bewegung, die Schmeisser voran. Sie durchquerte die Halle nach links, dann den Durchgang, der sie zum hinteren Treppenhaus brachte. Wenig später stand sie unschlüssig vor den Holzstufen.

      Die Nachmittagssonne warf gespenstische Strahlen auf die Treppenstufen, tauchte sie in eine diffuse Farbenflut. Tausende kleinste Staubpartikel wirbelten umher, als wäre hier gerade jemand vor ihr die Stufen hinaufgehetzt. Und richtig. Sie hörte erneut Geräusche, die eindeutig von oben kamen, ihren Blick anzogen wie ein riesiger Magnet.

      Das konnte nur … und gleich wird er …!

      „Neeiiiin!“

      Und siehe, es kamen sechs Männer auf dem Wege

      vom Obertor her, das gegen Mitternacht steht;

      und ein jeglicher hatte eine schädliche Waffe

      in seiner Hand. Aber es war einer unter ihnen,

      der hatte Leinwand an und ein Schreibzeug an seiner Seite.

      „Gehet diesen nach durch die Stadt und schlaget drein;

      eure Augen sollen nicht schonen noch übersehen.“

      „Verunreinigt das Haus und macht die Vorhöfe

      voll Erschlagener; gehet heraus!“

      Und sie gingen heraus und schlugen in der Stadt.

      Altes Testament, Hesekiel Kapitel 9, Vers 2/5/7

      Bewegung

      19. Mai 1976

      – 21:30 Uhr –

      Kapitel 1

      Langsam drückte sein Zeigefinger die Telefongabel nieder. Dann legte er auf. Er starrte nach unten auf die Gleise.

      Mittlerweile war das Zimmer dunkel, dennoch kämpften sich aufdringliche Lichtfetzen von der Straße herauf.

      Georgie stand blicklos am Fenster, obwohl er hinuntersah. Längst hatte die Dämmerung ihren feuchten, schwarzen Mantel über den Stadtteil Eppendorf geworfen, während hinter ihm im Zimmer blasse Lichtfetzen verreckten.

      Eine befremdliche Stille kroch umher und wie gewöhnlich war der Himmel über Hamburg grau und wolkenverhangen. Oft stand er beobachtend am Fenster, wenn sich alle fünf Minuten eine U-Bahn von links oder rechts heranquälte und dieses metallische Grollen ausspie.

      Nun aber beschäftigte ihn das gerade geführte Telefongespräch, während sein Unterbewusstsein die nächste U-Bahn erwartete.

      Hoch über der Isestraße schieben

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