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Kopfsteinpflaster in die Lindenstraße und erreichten bald die hell erleuchtete Bäckerei und Gastwirtschaft Erichs. Hier also wohnte Hilde! Inzwischen hatte auch Wally Erichs, die eben noch zu der Mädchengruppe gehörte, das elterliche Haus erreicht, und auch die mitternächtliche Stunde war nicht mehr fern. Als das neue Jahr eingeläutet wurde, standen alle vor dem Anwesen und wünschten „Prost Neujahr!“ Die Freunde verabschiedeten sich artig.

      Schalkowskis Gedanken kreisten ohne Unterlass um die 15-jährige Hilde. Gleich am Neujahrstag machte er sich voller Hoffnung und mit pochendem Herzen auf in die Lindenstraße. Bäckerei und Gaststube waren geschlossen, und auch das Danziger Mädel konnte er nirgends entdecken. Ein kalter Wind pustete, der Junge war zu leicht bekleidet und fror. – In den nächsten Tagen entströmte der Bäckerei ein betörender Duft, Günther traf Hilde, und man redete. Das Wetter war ihm egal. Morgen musste sie wegen des Ferienendes abreisen, der Bus startete um 12.30 Uhr. Er brachte es fertig, sie auf der Rückfahrt ein kurzes Stück zu begleiten. Hilde saß im Bus, und an der nächsten Haltestelle stieg Günther zu, nahm an ihrer Seite Platz, wenigstens bis zum nächsten Ort. Hilde erschrak. Ein wenig unbeholfen bat er sie, ihr schreiben und sie in Danzig wiedersehen zu dürfen. Günther fühlte, dass er Hilde wohl ziemlich durcheinandergebracht hatte, doch zerstörte sie seine Hoffnung auf ein Wiedersehen nicht. Schalkowski war verliebt.

      Die brünette Hilde schaute prüfend in den Spiegel. Günther kommt heute nach Danzig und möchte sie treffen. Seinen vorausgehenden Brief hatte sie positiv beantwortet. Die Zeiger der Standuhr neben dem Spiegel rückten heute besonders träge weiter. 12.30 Uhr, nun fährt Günther in Tiegenhof los. Die passende Bushaltestelle in Danzig war ihm bekannt. Hilde sollte ihn abholen. Wie wird das bloß?

      Schalkowski konzentrierte sich, schaute durch die von Regentropfen und Staub getrübte Scheibe des Überlandbusses. Der nächste Halt war seiner. Er rückte sich die rote Mütze des Abiturienten auf dem Kopf zurecht, ein wenig schief muss sie sitzen, und stand auf. Der Bus kam zum Stehen, der Schaffner öffnete die Tür, nur ein Fahrgast stieg an diesem Sonntag hier aus. Er war allein.

      Der leichte Nieselregen ließ die Steine der Stadt und die eisernen Geländer glänzen. Er schaute die Straße entlang; aus dieser Richtung müsste sie doch kommen.

      Hilde nahm nicht den direkten Weg. Die Langgasse, durch die die Buslinie führt, verläuft schnurgerade und ist weit. Auf gar keinen Fall wollte sie sich schon von weitem unendlich lange in seinem Gesichtskreis bewegen und sich beobachten lassen. Nun kam sie aus der entgegengesetzten Richtung aus einer Nebengasse, und es gelang ihr, Günther zu überraschen. Für eine Überraschung war Hilde immer gut.

      Die etwas steife Begrüßung erfolgte per Handschlag. Man spazierte durch Straßen und Gassen, begutachtete die Auslagen in den Schaufenstern der Geschäfte, und als aus dem feinen Niesel ein fetter Regen wurde, lud Günther Hilde zu einem Kinobesuch ein. Sie sahen den neuen Film „Der Schimmelreiter“, der nach Theodor Storms Novelle mit Mathias Wieman und Marianne Hoppe gedreht worden war.

      Weitere Treffen folgten, Begrüßungen wurden weniger förmlich, Abschiede fingen zu schmerzen an.

      Anfang April 1934 begann Schalkowski sein Lehrerstudium in Danzig-Langfuhr, nahm dort auch Wohnung, und die Begegnungen mit Hilde verdichteten sich mehr und mehr. Hildes Familie nahm Günther herzlich auf; gern war er dort zu Gast. Hildes Mutter Anna hatte als junges Mädchen im Danziger Ratskeller kochen gelernt und verwöhnte ihren zukünftigen Schwiegersohn nun mit leckeren Kuchen und wohlschmeckenden Gerichten.

      „Lass dir’s schmecken, Günther, nimm doch noch!“

      Er genoss es, gut und reichlich zu speisen, und insgeheim gestand er sich ein, dass er hier besser versorgt ist als zu Hause in Tiegenhof.

      Hilde liebte ihren Schalkowski, und Schalkowski liebte seine Hilde. Sie verlobten sich und heirateten nach drei Jahren Verlobungszeit kurz vor Weihnachten 1939 in Danzig. Schalkowski hatte dafür drei Tage Urlaub von der Truppe bekommen. Flitterwochen fielen aus. – Gert-Jürgen wurde 1943 geboren.

      Seit Kindertagen verfolgte Schalkowski der Wunsch, Lehrer zu werden. Das Ziel hatte er vor Augen, doch besonderen Ehrgeiz legte er nicht an den Tag, es klappte ja auch so. Locker bestand er die Aufnahmeprüfung an der neu gegründeten Hochschule für Lehrerbildung in Danzig-Langfuhr und nahm zum Sommersemester 1934 sein Studium auf.

      Rektor der neuen Danziger Hochschule war Professor Franz Kade, ein Vertreter der modernen Reformpädagogik. Er galt als hervorragender Praktiker, war er doch vor Jahren selbst Volksschullehrer gewesen. Im Taunus in Westdeutschland unterhielt er eine Versuchsschule, wo die von ihm entwickelten Lehr- und Lernmittel erprobt wurden.

      Als Schalkowski sein Studium begann, hatte er nur wenig Vorstellung von dem, was ihn in Danzig-Langfuhr erwartete, vor umfangreicher wissenschaftlicher Arbeit fürchtete er sich ein wenig. Quälen wollte er sich nicht unbedingt. Später erkannte er, dass er genau hier am rechten Ort ist und machte es sich bequem.

      Die angesagte Pädagogik kam Schalkowski auf ganzem Weg entgegen und umarmte ihn. Diese freundliche Annäherung wies er nicht zurück. Bald stand er hinter der Arbeitsschule, die reine Lernschule mit allerlei Formalstufen entsprach nicht dem Geist der modernen Hochschule. Er beschäftigte sich mit Kerschensteiner und Gaudig, auch die Idee Petersens mit den Landschulheimen gefiel ihm. Die Lehr- und Lernziele des Unterrichts sollten vor allem in fächerübergreifenden Einheiten erreicht werden, und zwar so, dass die Kinder möglichst selbst mit geschicktem Einsatz geeigneter Lehrmittel dem Unterrichtsziel näherkommen. Die Aufgabe des Lehrers bestand nun darin, den Schülerinnen und Schülern dabei helfend zu assistieren. Eine Unterrichtseinheit wie etwa „Am Wegesrand“ sollte in den verschiedensten Fächern als Lehr- und Lernstoff ausgebreitet werden: Schwerpunkt Biologie, aber auch Erdkunde, Deutsch, Kunst und vielleicht Religion. – Schalkowski studierte bei Professor Hellmuth Kittel evangelische Religion, was ihm mehr als alles andere dazu verhalf, die ihm später anvertrauten Kinder zu achten und ihre Seele zu verstehen. – En passant lernte er, dass schulisches Leben und Lernen innerhalb des Schuljahres auf dreifache Weise praktiziert werden sollte, nämlich mit Arbeit, Spiel und Feier.

      Der nationalsozialistischen Obrigkeit waren diese reformpädagogischen Leitlinien höchst verdächtig, zu viel demokratisches Gedankengut, zu wenig autokratisches und deutsch-nationales. Sie setzte zunächst bei der Einheit „Feier“ an, hier konnte die nationalsozialistische Weltanschauung vorzüglich einsickern und zum Tragen kommen. Es dauerte nicht lange, und das Dritte Reich bereitete der Idee der modernen Arbeitsschule ein Ende. Im Krieg dann hatte man andere Sorgen. Schalkowski aber nahm sich im Stillen vor, in seinem Berufsleben Unterricht so zu gestalten, wie er ihn für richtig hielt.

      Nach glücklich bestandenem erstem Examen trat Schalkowski seinen Dienst an der vierklassigen evangelischen Volksschule in Schöneberg an der Weichsel an, die von Hauptlehrer Arthur Borell geleitet wurde. Schalkowski kannte Borell, der seinerzeit in Tiegenhof in der Grundschule sein erster Lehrer gewesen war und den er sehr gemocht hatte. Schalkowski dankte Gott. – Bereits nach einem halben Jahr beauftragte der Danziger Kultussenator den jungen 20-jährigen Lehrer mit der Leitung der einklassigen Volksschule in Bärwalde, Kreis Großes Werder, einem von Schöneberg acht Kilometer entfernten Bauerndorf in demselben Schulaufsichtsbezirk. 66 Kinder aus acht Jahrgängen sollten in einem Klassenraum unterrichtet werden. Schalkowski stöhnte und dachte über Theorie und Praxis nach und über tiefe Gräben, die er nun überspringen musste. Tägliche minutiöse Einteilung und Durchführung des Stunden- und Unterrichtsplanes für die einzelnen Abteilungen waren deshalb vonnöten. – Hilde kam oft nach Bärwalde und half, wo immer es erforderlich war, im großen Schulhaus, mitunter auch in der Schularbeit und richtete ihren Verlobten immer mal wieder auf. Als hilfreich erwiesen sich auch die Junglehrer-Arbeitsgemeinschaften, die sporadisch wechselweise an den verschiedenen Schulen des Bezirkes stattfanden. Schalkowski musste dann viele Kilometer mit dem Fahrrad bei Wind und Wetter zurücklegen. Zum Glück waren wenigstens die Wege eben.

      Ende September 1937 war Schluss mit Schule. Der Lehrer von Bärwalde erhielt die Einberufung zum Dienst in der deutschen Wehrmacht und musste Soldat werden. Schalkowski stöhnte erneut, hatte er sich doch gerade erst in sein räumliches, berufliches und persönliches Umfeld eingewöhnt und einigermaßen behaglich eingerichtet.

      Schalkowski

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