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wie man sie eigentlich in herrschaftlichen Häusern trägt. Sie war schwanger, das war nicht zu übersehen. Es war keine Touristin, aber keiner wusste, wer sie war, woher sie kam und was sie hier auf Borkum wollte. Sie versteckte sich in einem der alten Bootsschuppen unweit des Anlegers. Dort hat sie dann auch bis zum Schluss gewohnt, oder, besser gesagt, gehaust. Sie fragte in den Häusern nach Arbeit und als die Leute merkten, dass sie ganz geschickt im Nähen war, gaben sie ihr Handtücher und Bettwäsche zum Reparieren. So verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt. Als einige Familien eines Tages vergeblich auf ihre reparierte Wäsche warteten, sah man im Bootsschuppen nach und fand ein neugeborenes Baby neben seiner toten Mutter. Sie war offensichtlich bei der Geburt gestorben. In den Balken neben ihrer Schlafstätte hatte sie mit einem Messer den Spruch geritzt: Lever dod, as Sklav. Das ist ein Satz, der aus der Kriegszeit zwischen den Friesen und den Dänen stammt, als es um die Vorherrschaft in Schleswig-Holstein ging, denn so fühlten sich die Friesen unter der dänischen Herrschaft: Wie Sklaven.

      Die `Näherin´, wie man sie hier einfach nannte, wurde anonym beerdigt. Sie liegt irgendwo in der großen Rasenfläche im hinteren Teil des alten Friedhofs.

      Das Kind – es war ein Junge – war anscheinend gesund. In der Hand der Mutter fand man einen kleinen Zettel auf dem „Sören“ stand. Also taufte man das Kind Sören. Die Frau des Pfarrers nahm sich seiner an mit den Worten: Wo sös satt ward könnt ok söben satt wardn. Womit sie auf ihre eigenen sechs Kinder anspielte. So wuchs Sören im Pfarrhaus auf, aber trotz der sechs `Geschwister´ blieb er ein Einzelgänger. Mit der Schule konnte er sich gar nicht anfreunden und wenn ihn unser Inselpolizist zwangsweise in die Schule brachte, war er spätestens in der nächsten Pause wieder verschwunden. Irgendwann gab man es auf und so wuchs Sören ohne jeden Unterricht auf. Den Jugendlichen stellte der Pfarrer dann als Hilfskraft ein. Seitdem wohnte er im Geräteschuppen im hinteren Teil des alten Friedhofs, weil er es so wollte, hatte der Pfarrer gesagt. Sören säuberte die Kirche, läutete die Glocken und kümmerte sich um die Pflege des Friedhofs. Dabei hat man ihn oft beobachtet, wie er stundenlang vor den alten Grabsteinen saß. Auf diesen Grabsteinen stehen nämlich nicht nur die Namen und die Lebensdaten der Verstorbenen, so wie heute, sondern auf den ganz alten Grabsteinen steht die gesamte Lebensgeschichte des Verstorbenen, allerdings nur die der Männer: Wann und wo geboren, mit wem verheiratet, wie viele Kinder und vor allem der Beruf, denn die meisten waren Seeleute gewesen und in Ausübung ihres Berufes gestorben. Aber die meisten Steine sind schon sehr verwittert, sodass man die Schrift kaum noch erkennen kann. Und wenn man etwas lesen konnte, dann waren da oft Wörter und Begriffe, die man in unserer heutigen Sprache gar nicht mehr kennt. Sören, ohnehin nicht des Lesens mächtig, beschäftigte sich hauptsachlich mit den Symbolen auf den Grabsteinen: Anker, Kreuze, Steuerräder und sogar ganze Segelschiffe. Er malte sie mit Bleistift auf ein Stück Pappe und redete dabei, oder, besser gesagt, er sang. Es war zwar kein normaler Gesang, eher so eine Art Sprechgesang, aber es waren Worte verbunden mit einer Melodie. Leider verstand ihn niemand, denn er redete in Rätseln. Viele hielten ihn für verrückt und wichen ihm aus. Aber als er vor Jahren einmal eine schwere Sturmflut voraussagte und diese dann auch auf den Tag und auf die Stunde genau eintraf, wurde er zum `Spökenkieker´. So nennt man in Norddeutschland Menschen, die eine gewisse Begabung dafür haben, Ereignisse der Zukunft vorherzusagen, leider meist negative. Deshalb gehen ihm viele Inselbewohner aus dem Wege, weil sie Angst haben, dass er ihnen ein Unglück prophezeien könnte.“

      Christian machte eine Pause und sah Maria von der Seite an.

      „Weiter?“, fragte er.

      „Natürlich“ antwortete Maria, „jetzt will ich auch den Rest hören.“

      „ Eines Tages war Sören verschwunden. Keiner wusste warum und wohin.

      Ein Kapitän meinte ihn als blinden Passagier auf seiner Fähre gesehen zu haben, als er auf dem Weg zum Festland war. Nach einem halben Jahr tauchte er wieder auf und tat so, als ob nichts geschehen wäre. Seitdem `wohnte´ er in demselben Bootsschuppen, in dem er geboren und seine Mutter gestorben war. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten oder sammelte Treibholz am Strand und verkaufte es an Inselbewohner. Manchmal fand er auch ein paar kleine Bernsteinstücke, die er an Thorben Reed, unseren Goldschmied verkaufte. Ich habe ihn einmal gebeten, die Plattenwege rund um unser Haus und auch die Terrasse vom Flugsand zu säubern. Das hat er einwandfrei gemacht. Dafür bekam er hinterher satt zu Essen und noch ein paar Euro. So, nun kennst du seine Lebensgeschichte, mehr weiß ich auch nicht über ihn. Du brauchst dich nicht vor ihm zu fürchten, er ist ein bisschen eigenartig, aber ansonsten harmlos.“

      Und nun saß Sören neben Maria auf der Bank. Er war unruhig, wippte hin und her und rieb ständig den rechten Daumen in der Innenfläche seiner linken Hand. Je länger er so dasaß und starr aufs Meer blickte, umso unruhiger wurde er. Und dann begann er zu singen. Es war genauso, wie Christian es beschrieben hatte, eher ein Sprechgesang mit einer traurigen Melodie. Es war ein Reim, vierzeilig, der sich immer wiederholte: „Dat Führ, dat Führ, dat Führ wär verkehrt. He wär nich verkehrt, he ha sik ni eert, dat Führ, dat Führ, dat Führ wär verkehrt.“ Sören presste seine Hände zwischen die Knie und wippte im Takt seines eigenen Textes vor und zurück. Dabei wurde sein Gesang immer lauter und seine Bewegungen immer heftiger. Dann sprang er plötzlich auf und rannte davon.

      Maria war zunächst wie gelähmt, das Blut pochte in ihren Schläfen und eine Gänsehaut lief über ihren ganzen Körper. Es kam ihr wie ein Albtraum vor, aber es war real gewesen. Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie eine Zigarette rauchte. Aber als sie die Zigarettenschachtel öffnete, zitterten ihre Hände. Dann entschloss sie sich, den eigenartigen Vers aufzuschreiben, um ihn nicht zu vergessen. Sie schrieb ihn auf die Innenseite des Buchumschlags, so, wie sie es phonetisch noch im Ohr hatte. Dann suchte sie Christian auf und erzählte ihm von dieser eigenartigen Begegnung. Während sie in ihrer Ecke saßen, zitterten ihr immer noch die Knie.

      „Komm“, sagte Christian, „trink erst mal einen Cognac. Und dann erzähl‘ alles schön der Reihe nach. Ich hatte dich ja vor ihm gewarnt. Jetzt hast du ihn also selbst erlebt.“

      Maria kippte den Cognac hinunter und sagte zu Alfredo „Bitte noch einen.“

      Alfredo sah sie fragend an, traute sich aber nicht einen seiner berüchtigten Sprüche loszulassen. Auch er schien Maria den Schrecken anzusehen.

      Nachdem Maria sich beruhigt hatte, fragte Christian ob er ihr etwas getan hätte.

      „Nein“, antwortete Maria sofort, „getan nicht, außer dass er mir einen riesigen Schrecken eingejagt hat.“

      Und dann erzählte sie alles der Reihe nach und zeigte Christian am Schluss die Notiz in ihrem Buch. Christian musste trotz der dramatischen Situation ein wenig schmunzeln über Marias `plattdeutsche´ Niederschrift. Er las den Vers laut vor und Maria sagte sofort „Genau! Genau so hat es sich angehört.“

      Christian übersetzte den Text ins Hochdeutsche: „Das Feuer war verkehrt, er war nicht verkehrt, er hat sich nicht geirrt, das Feuer war verkehrt.“ Er kratzte sich verlegen am Kopf und dachte nach. „Was meint er denn dieses Mal gesehen zu haben?“ fragte Christian sich selbst. Und nach längerer Überlegung sagte er „Vielleicht hat er die Strandräuberei gemeint.“

      „Was ist das?“, fragte Maria.

      „Eine alte Geschichte“, antwortete Christian, „aber wie ich dich kenne, wirst du sie jetzt bestimmt von mir hören wollen.“

      „Klarr“, sagte Maria in ihrem Augsburger Dialekt und rollte das „R“ wie ein Kanarienvogel, „erzähl schon.“

      Wieder strich Christian sich mit der Hand über den Kopf und machte eine Pause, so als ob er darüber nachdachte, wie und wo er anfangen sollte.

      „Also“, sagte er dann, „die Bewohner der Inseln waren früher sehr arm. Und wir wären es heute noch, wenn nicht irgendjemand den Inseltourismus erfunden hätte.

      Auf dem Sand der Dünen kann man keinen Ackerbau betreiben und wo nichts wächst, können auch keine Tiere weiden, außer ein paar genügsamen Schafen, stimmt‘s?“

      Maria nickte zustimmend.

      „So war

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