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lassen mich ihr die Geschichte lang und breit erzählen, als wisse sie nichts davon! – Da ja der Sitz der Botschaft hier ist, werde ich jeden Tag herkommen und die Korrespondenz durchsehen.«

      Die Gräfin lächelte. Sie blätterte noch immer in ihrem Briefpacken, nahm ein anderes Schriftstück heraus und ließ es ihn lesen. Diesmal schien er sehr befriedigt zu sein. Und die leise geführte Unterhaltung begann von neuem. Er hatte zu seinem ehrerbietigen Lächeln zurückgefunden. Als er die Gräfin verließ, küßte er ihr die Hand.

      »So, damit wären die ernsten Angelegenheiten erledigt«, sagte er halblaut, als er sich wieder ans Klavier setzte.

      Er hieb aus Leibeskräften einen in jenem Jahr sehr beliebten Gassenhauer herunter. Dann sprang er, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte, plötzlich auf, um seinen Hut zu holen.

      »Sie gehen?« fragte Clorinde.

      Sie winkte ihn heran, stützte sich auf seine Schulter, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Lachend schüttelte er den Kopf. Er murmelte: »Ganz großartig, ganz großartig ... Das werde ich denen da unten schreiben.« Und nachdem er sich verbeugt hatte, ging er hinaus.

      Luigi hatte Clorinde, die auf dem Tisch hockte, durch einen Schlag mit seinem Malstock veranlaßt, sich wieder aufrecht hinzustellen.

      Der Strom der Wagen, der die Avenue entlangrollte, langweilte die Gräfin auf die Dauer zweifellos, denn sobald sie das Kupee des Cavaliere, das inmitten der Landauer, die aus dem Bois de Boulogne28 kamen, verschwand, aus den Augen verloren hatte, zog sie an einer Klingelschnur hinter ihr. Der baumlange Diener mit dem Banditengesicht trat ein und ließ die Tür offen. Die Gräfin vertraute sich seinem Arm an, durchquerte, zwischen den Herren, die sich vor ihr verbeugten, hindurchschreitend, langsam den Raum. Sie dankte mit einem Kopfneigen, mit ihrem Lächeln. Auf der Schwelle wandte sie sich dann um und sagte zu Clorinde: »Ich habe meine Migräne, ich will mich ein Weilchen hinlegen.«

      »Flaminio«, rief das junge Mädchen dem Bedienten zu, der ihre Mutter wegführte, »legen Sie ihr ein heißes Bügeleisen an die Füße!«

      Die drei politischen Flüchtlinge nahmen nicht wieder Platz. Sie blieben noch einen Augenblick lang in einer Reihe stehen und kauten ihre Zigarren zu Ende, die sie alle mit der gleichen korrekten und wohlgezielten Bewegung in einen Winkel hinter dem Tonhaufen warfen. Und sie defilierten an Clorinde vorbei, gingen in feierlichem Zuge fort.

      »Mein Gott«, sagte La Rouquette, der gerade ein ernstes Gespräch mit Rougon begonnen hatte, »ich weiß genau, daß die Zuckerfrage von großer Bedeutung ist. Es handelt sich dabei um einen ganzen Zweig der französischen Industrie. Das Unglück ist, daß, wie mir scheint, niemand in der Kammer diese Materie von Grund auf studiert hat.«

      Rougon, den er langweilte, antwortete nur durch Kopfbewegungen. Der junge Abgeordnete trat näher an ihn heran und fuhr, seinem Zierpuppengesicht plötzlich Würde verleihend, fort: »Sehen Sie, ich habe einen Onkel in der Zuckerindustrie. Er besitzt eine der ertragreichsten Raffinerien von Marseille ... Nun, ich habe drei Monate bei ihm verbracht. Ich habe mir Notizen gemacht, oh, sehr viele Notizen. Ich unterhielt mich mit den Arbeitern, kurz, ich machte mich mit allem vertraut! – Sie verstehen, ich wollte vor der Kammer sprechen ...«

      Er spielte sich vor Rougon auf, er gab sich ungeheure Mühe, ihn von den einzigen Dingen zu unterhalten, die, wie er glaubte, jenen interessieren mußten, war dabei allerdings sehr bestrebt, sich im Lichte eines gediegenen Politikers zu zeigen.

      »Und Sie haben nicht gesprochen?« fiel ihm Clorinde ins Wort, die Herrn La Rouquettes Anwesenheit ungeduldig zu machen schien.

      »Nein, ich habe nicht gesprochen«, erwiderte er mit leiserer Stimme, »ich glaubte, nicht sprechen zu sollen ... Im letzten Moment fürchtete ich, meine Zahlen könnten nicht ganz genau sein.«

      Rougon sah ihn fest an und sagte dabei ernst: »Wissen Sie die Anzahl der Zuckerstücke, die pro Tag im Café Anglais verbraucht werden?«

      Einen Augenblick lang riß Herr La Rouquette verblüfft die Augen auf. Dann brach er in Lachen aus.

      »Ach, reizend, reizend!« rief er. »Ich verstehe, Sie scherzen ... Aber das, das ist die Frage des Zuckerhandels; ich sprach von der Frage der Zuckerindustrie ... Reizend! Sie gestatten mir wohl, den Ausspruch zu wiederholen, nicht wahr?«

      Er wippte vor Vergnügen in seinem Sessel. Er bekam wieder ein rosiges Gesicht, fühlte sich wieder wohl und suchte nach gefälligen Worten. Clorinde aber zog ihn der Frauen wegen auf. Sie habe ihn noch vor zwei Tagen im Théâtre des Variétés29 mit einer kleinen, sehr häßlichen, wie ein Pudel struwweligen Blondine gesehen. Zuerst leugnete er. Dann aber, ärgerlich über die grausame Art, in der sie von dem »kleinen Pudel« sprach, vergaß er sich, verteidigte diese Dame, eine sehr wohlerzogene Person, die gar nicht so übel sei, und er erzählte von ihrem Haar, ihrem Wuchs, ihren Beinen. Clorinde wurde unausstehlich. Herr La Rouquette rief schließlich: »Sie erwartet mich, und ich gehe zu ihr.«

      Als er dann die Tür hinter sich geschlossen hatte, klatschte das junge Mädchen frohlockend in die Hände und sagte wiederholt: »Weg ist er, glückliche Reise!«

      Und sie sprang munter vom Tisch und lief auf Rougon zu, dem sie beide Hände reichte. Sie tat sehr sanft; sie sei sehr verdrießlich, daß er sie nicht allein angetroffen habe. Welch eine Mühe habe es sie gekostet, die ganze Gesellschaft wegzuschicken! Die Leute begriffen nichts, wirklich! Dieser La Rouquette mit seiner Zuckerindustrie sei reichlich lächerlich! Aber jetzt werde man sie vielleicht nicht mehr stören, und sie könnten plaudern. Sie habe ihm so viel zu sagen! Während sie so sprach, führte sie ihn zu einem Kanapee. Er hatte sich hingesetzt, ohne ihre Hände loszulassen, als Luigi hart mit seinem Malstock aufklopfte und dabei in ärgerlichem Ton wiederholte: »Clorinda! Clorinda!«

      »Ach ja, richtig, das Porträt!« rief sie lachend.

      Sie entschlüpfte Rougon, ging hin und beugte sich auf eine zärtlich geschmeidige Art von hinten über den Maler. Oh, wie hübsch das sei, was er da gemacht hatte! Das komme sehr gut heraus. Aber sie sei wirklich etwas müde, und sie bitte um eine Viertelstunde Ruhe. Übrigens könne er ja am Gewand malen, dafür brauche sie doch nicht Modell zu stehen. Luigi warf funkelnde Blicke auf Rougon, fuhr fort, übellaunige Worte zu murmeln. Da sagte sie mit gerunzelten Brauen, aber immer noch lächelnd, sehr schnell etwas auf italienisch zu ihm. Und er schwieg, führte aufs neue vorsichtig seinen Pinsel.

      »Ich schwindle nicht«, versicherte sie, während sie zu Rougon zurückkehrte und sich neben ihn setzte, »mein linkes Bein ist mir völlig eingeschlafen.«

      Sie klopfte sich auf das linke Bein, um das Blut wieder in Umlauf zu bringen, wie sie sagte. Durch die Gaze sah man als rosigen Fleck ihre Knie. Sie hatte jedoch vergessen, daß sie nackt war. Nachdenklich neigte sie sich ihm zu, die Haut ihrer Schulter an dem rauhen Tuch seines Überziehers scheuernd. Auf einmal aber ließ ein Knopf, auf den sie unerwartet traf, ihr einen heftigen Schauder über den Busen laufen. Sie sah an sich herab, wurde sehr rot. Und eilig holte sie irgendein Stück schwarze Spitze, das sie um sich schlang.

      »Mir ist ein bißchen kalt«, sagte sie, nachdem sie einen Sessel vor Rougon geschoben und sich hineingesetzt hatte.

      Außer einem schmalen Streifen ihrer bloßen Handgelenke ließ sie nichts unter der Spitze hervorschauen. Sie hatte sich das Gewebe so um den Hals gewunden, daß es eine große Krawatte bildete, in die sie das Kinn vergrub. In dieser Hülle, die die Brust gänzlich verdeckte, war sie jetzt bis auf ihr wieder bleich und ernst gewordenes Gesicht ganz und gar schwarz.

      »Nun, was ist mit Ihnen geschehen?« fragte sie. »Erzählen Sie mir alles.«

      Und mit der Freimütigkeit kindlicher Neugier forschte sie ihn aus, wieso er in Ungnade gefallen sei. Sie betonte die Ausländerin, ließ sich bis zu drei Malen Einzelheiten wiederholen, die sie nicht verstanden zu haben behauptete. Sie unterbrach ihn mit Ausrufen in italienischer Sprache, während er in ihren dunklen Augen jeder Regung folgen konnte, die sein Bericht hervorrief. Weshalb er sich mit dem Kaiser überworfen habe? Wieso er auf eine so hohe Stellung habe verzichten können? Wer denn seine Feinde seien, daß er sich so habe unterkriegen lassen? Und da er zögerte, als sie ihn mit der Behauptung,

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