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Hinweis auf die 20 Millionen Kriegsopfer in der Sowjetunion zurück. Damit verweigerte er im Prinzip jede weitere differenzierte Auseinandersetzung mit Unrecht in der DDR, indem er es durch die Legitimität ihrer Gründung rechtfertigte. „Allerdings muss betont werden, dass es Unrecht, auch grobes Unrecht, in der DDR gab und dass die Opfer endlich bessergestellt werden müssen", nahm Gysi zur Kenntnis.

      Auch Schorlemmer stellte am 7.11.2014 in der „Süddeutschen“ fest, dass die Bezeichnung Unrechtsstaat alles delegitimiere, was in der DDR gewesen sei. Er wolle nichts an der DDR beschönigen. Die Motivation der Leute, die der engen sozialistischen Linie folgten, „konnte indes durchaus ethisch und menschlich respektabel sein“. Die DDR habe vielen Menschen Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten geboten, sie sei also „in toto“ kein Unrechtsstaat gewesen, zumal dieser Begriff die Gefahr berge, die DDR mit dem Nationalsozialismus, mit „Judenmord und Angriffskrieg“ gleichzusetzen.

      Auch Christoph Dieckmann meinte in Ausgabe 11/2014 des „Rotary Magazins“, Unrechtsstaat sei ein zu klarer Begriff, um ihn auf so etwas Komplexes wie die DDR anzuwenden. Es sei ja immerhin nicht so, dass alles in der DDR Unrecht gewesen sei, sie habe sich entwickelt. Mit dem Begriff „Unrechtsstaat“ werde in unzulässig vereinfachter Darstellung der Verhältnisse lediglich die Delegitimierung der DDR betrieben.

      Wie wenig einfach die Dinge angeblich sind, scheint der Umstand zu belegen, dass niemand bestreitet, dass es in der DDR Unrecht gegeben habe. Und es ist auch unbestritten, dass die DDR eine Diktatur gewesen ist und kein Rechtsstaat etwa im westdeutschen Sinne.

      Mit den koexisitierenden Feststellungen aus quasi einem Munde, dass die DDR kein Rechtsstaat, aber zugleich auch kein Unrechtsstaat war, hat die immer wieder aufbrandende Debatte jedoch absurde Züge angenommen. Was ist ein Unrechtsstaat, wenn er nicht das Gegenteil eines Rechtsstaats ist?

      Zu diesem Durcheinander trägt zweifellos bei, dass es sich beim Begriff „Unrechtsstaat“ nicht um eine juristisch definierte Vokabel handelt. Das heißt aber nicht, dass sich das Wort nicht definieren ließe.

      Machen wir den Versuch.

      Ein „Unrechtsstaat“ – was ist dies überhaupt?

      Absurderweise lautet die gängige Antwort auf diese Frage nicht: auf jeden Fall auch ein Staat, der seine Bürger einmauert.

      Dass dies nicht so einfach zu sagen ist, liegt auch daran, dass der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch nach dem Krieg praktisch nur das NS-Regime als Unrechtsstaat gelten ließ – nämlich als einen Staat, der seinem Wesen nach auf das Unrecht selbst gerichtet war. In Abgrenzung dazu war die DDR nach dieser sehr rigorosen Definition ein Staat, der im Sinne der Mächtigen das Recht gebeugt hat, eine Dikatur, aber kein Unrechtsstaat.

      Tatsächlich ist der DDR zuzubilligen, dass sie nicht durch und durch von Unrecht getragen und nicht auf dieses gerichtet war. Niemand in der DDR hat systematisch Massenmord organisiert. Das Ausmaß des NS-Unrechts und die Ungeheuerlichkeit der rassistischen Ideologie des NS-Staates verbietet Vergleich oder Gleichsetzung.

      Aber es ist möglich, die DDR für sich zu betrachten.

      Dabei hilft ein Perspektivenwechsel: die Opfersicht.

      Aus dieser Perspektive betrachtet, erweist sich Unrecht genau dann, wenn es im Konfliktfall darauf ankommt, das Recht des Einzelnen zu schützen. Im Kontext der DDR liegt das Unrecht also zum Beispiel da, wo ein politischer Witz schärfer bestraft wird als schwere Körperverletzung, oder wo friedliche Oppositionelle mittels falscher Anschuldigungen kriminalisiert oder aus ihrem Land gesperrt werden, oder wo staatliche Übergriffe bis hin zu Freiheitsberaubung, schwerer Körperverletzung und Mord ungesühnt bleiben.

      Ein Unrechtsstaat erweist sich also nicht notwendig durch kollektives Unrecht und massenhaftes Leid. Er zeigt sich an individuellem Unrecht, dem ein System zu Grunde liegt. Dies System war in der DDR die „sozialistische Gesetzlichkeit“, die alles staatliche Handeln unter ideologischen Vorbehalt stellte.

      Den Rechtsstaat zeichnen vor allem drei Grundsätze aus: die Gleichheit aller Bürger und der Freiheiten, die sie sich nehmen, vor dem Gesetz, dessen demokratische, transparente und konsequente Setzung und Exekution sowie die Unabhängigkeit der Gerichte.

      Damit ist auch der Unrechtsstaat definiert: Die Bürger sind vor dem Gesetz ungleich; Legislative, Exekutive und Jurisdiktion unterliegen schwankenden, opportunistischen, oft intransparenten politischen Vorgaben – wie eben der „sozialistischen Gesetzlichkeit“.

      Nach dieser Definition war die DDR Zeit ihrer Existenz klar ein Unrechtsstaat, in dem die Würde des Menschen jederzeit angetastet werden konnte und zehntausendfach angetastet wurde. Dabei behauptete Recht im DDR-Alltag unbestritten großen Raum, in den Unrecht nicht eindrang – oder anders gesagt: Kein Bürgerrechtler dürfte jemals im Gefängnis gelandet sein, weil er bei Rot über die Ampel ging. Doch diese Aussage dürfte auch auf Juden unter dem NS-Regime zutreffen. Solche Feststellungen sind ebenso wertlos, ja zynisch, wie das Unrecht vor allem an der Zahl der Opfer zu messen.

      Die Begriffe sind aus Respekt vor jeder einzelnen Opfer-Biografie ganz einfach zu klären: Ein Unrechtsstaat ist da, wo ein Rechtsstaat nicht ist.

      Genau an diesem Punkt setzt jedoch die Gegenseite den Hebel an. Denn das Unrecht behauptet ja zugleich erheblichen Raum da, wo von einem Unrechtsstaat nicht geredet wird.

      Man nennt zum Beispiel einen Staat einen Rechtsstaat, in dem ein Geheimdienst durch massenhafte Überwachung der Bürger das Recht täglich bricht. Hat jemand, der die USA für einen Rechtsstaat hält, nicht die Legitimation verloren, die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen?

      Nein, so ist es nicht. Denn es gibt einen vierten Unterschied. Im Rechtsstaat ist eine von allen daran interessierten Bürgern und gesellschaftlichen Kräften unternommene freie Reflexion seiner Fehler systematisch auf deren Korrektur gerichtet. Ein Unrechtsstaat dagegen unterdrückt die freie Reflexion seiner etwaigen Fehler. Sie dürfen nicht einmal benannt werden.

      So leicht ist das. Doch haben sich die Argumente, die für die DDR sprechen, längst über den Kern der Debatte hinaus verselbstständigt. Es geht einigen der Protagonisten darum, Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen Rechtsstaaten und solchen, die diese Bezeichnung nicht verdienen, zwischen Wahrheit und Propaganda, recherchierten Fakten und geschönten Lügen zu verwischen.

      Wo aber die Erkenntnis von Unrecht verwischt, löst sich auch das Recht auf. Den Begriff Unrechtsstaat zu verwenden und ihn zum Beispiel anhand der DDR mit Leben zu erfüllen, hilft also, den Rechtsstaat zu verstehen und schätzen zu lernen.

      Die Verwischung der Differenzen liegt daher im Interesse von Extremisten aller Couleur. Wo demokratische Maßstäbe und Standards grundsätzlich in Frage stehen bzw. ihre Verbindlichkeit verlieren und die Moral es angeblich gebietet, Kritik zu unterlassen – weil „im Westen“ schließlich auch nicht alles zum Besten stehe – und auf Menschenrechtsverletzungen mit Indifferenz zu reagieren, können extreme Positionen blühen.

      Es besteht bei Vertretern dieser Argumentation ein Interesse daran, dass sich der demokratische Raum von seinen Rändern her auflöst. Die Demokratie hat der in Social Media grassierenden Gegenaufklärung der „Lügenpresse“-Brüller und Verschwörungstheoretiker augenscheinlich wenig entgegen zu setzen. Diese Gegenaufklärung vergiftet die demokratische Öffentlichkeit vor allem, indem sie aus einer Vielzahl Versatzstücke – realen und fiktiven – das Bild einer Gesellschaft schafft, die von einer kleinen, dem Volk und seinen Interessen fernen, demokratisch nicht legitimierten Elite manipuliert wird.

      Diese Behauptung ist gesellschaftlich akzeptabel geworden. Durchschnittsbürger mittleren Alters vertreten sie offen in Demonstrationszügen, im Internet und vor TV-Kameras.

      2015 wird vielleicht in die deutsche Geschichte eingehen als das Jahr, in dem sich „Dunkeldeutschland“ erstmals ins Licht wagte. So nannte Bundespräsident Joachim Gauck die Mischung aus zukurzgekommenem Kleinbürgertum, Egoismus und aggressiver Ablehnung der (politischen) Eliten, die sich im Spätsommer vor den Flüchtlingsheimen Luft machte. Von Pegida und der Alternative für Deutschland (AfD) wird wahrscheinlich in drei, vier Jahren schon niemand mehr etwas wissen. Aber sie haben die Haltung der angeblich schweigenden

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