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haben die wenigsten „positiven“ Bescheide der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit über eine Tätigkeit als freier, also Inoffizieller Mitarbeiter bei der Stasi, zur Entlassung des so Belasteten geführt. In vielen Behörden ist es üblich, weniger den Tatbestand als Kündigungsgrund zu bewerten, als lediglich die Bereitschaft, den Fragebogen für die sogenannte „Regelanfrage“ wahrheitsgemäß auszufüllen. Entsprechende Normen wurden, auch aus Mißtrauen gegenüber den Akten der Staatssicherheit, in einer Vielzahl arbeitsrechtlicher Prozesse gesetzt. Grundsätzlich gilt, daß eine Mitarbeit bei der Stasi allein kein Kündigungsgrund ist.

      Dazu kommt, daß viele Opfer nicht in der Lage sind, über ihr zum Teil traumatisches Erleben offen zu sprechen. Viele haben sich der infolge der SED-Propaganda gegen den „Feind“ noch immer gegen sie bestehenden Vorbehalte zu erwehren. Das ist einer der Beweggründe dafür, daß die wenigsten, die als Opfer bekannt sind, Anzeige erstatten: Nach übereinstimmenden Angaben aus der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR und verschiedenen Landesstaatsanwaltschaften erheben nur eins bis vier von hundert Opfern Klage gegen die Täter. Auch die Bereitschaft von Opfern, als Zeuge vor Gericht aufzutreten, ist gering.

      Dennoch ist die Zahl der laufenden Vorgänge außerordentlich hoch. Allein bei der für DDR-Justiz- und Regierungs-Unrecht im Land Brandenburg zuständigen Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Neuruppin waren Ende 1995iv 11 500 Einzelvorgänge anhängig, das heißt, allein in Brandenburg waren zu diesem Zeitpunkt 11 500 mögliche Straftaten früherer DDR-Funktionäre bekannt, darunter 5 500, zu denen Ermittlungsverfahren anhingen oder eine Anzeige vorlag. Rund 4 000 Vorgänge sind Gegenstand von 460 Verfahren gegen Richter und Staatsanwälte der früheren DDR, 1 250 Vorgänge beziehen sich auf Mißhandlungen von Strafgefangenen und Todesfälle in Gefängnissen. Hier liefen Ende 1995 rund 290 Verfahren. Wenn es auch bei weitem nicht jeden traf: Unrecht und Willkür waren Alltag in der DDR – das ist angesichts der Zahlen keine moralische Wertung, sondern eine statistisch untermauerte Tatsache.

      Die Verletzung der persönlichen Ehre ist bei vielen Opfern so tief gegangen, daß sie allein durch den Sieg des „anderen“ Systems nicht zu heilen war. Wie auch, wenn viele der früheren Täter oder deren Handlanger heute in Behörden und Betrieben erneut auf der Karriereleiter emporsteigen – sie haben sich kurzerhand auf die Seite des Siegers geschlagen und fahren gut damit. Schon durch ihre oft überdurchschnittliche Qualifikation  also dank des Bildungsprivilegs, das viele SED- und alle Stasileute genossen  und durch ihre Fähigkeit, im Rahmen streng hierarchischer Befehlsstrukturen eigenständig zu funktionieren, sind sie prädestiniert für Druckposten, wie auch der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Joachim Gauck, im Sommer 1995 auf der Jahrespressekonferenz seiner Behörde feststellte. Dabei bedienen sie sich bis heute häufig alter Kontakte, über die sie noch aus der Zeit verfügen, da das ausgeklügelte System der „Nomenklaturkader“ noch Bestand hatte. Ein jeder an seinem bestimmten Platz, in seiner bestimmten Funktion – einer für alle, alle für ein Ziel. Ziel ist heute freilich nicht etwa die Unterdrückung ehemaliger DDR-Opfer, sondern der eigene, persönliche Vorteil für sich und die ehemaligen Genossen. Das Bestehen sogenannter Seilschaften ist eine zum Beispiel von den Kripo-Leuten, die Wirtschaftsverbrechen der Wendezeit aufzuklären haben, bewiesene Tatsachev. So kommt es vor, daß die Opfer erneut in untergeordneter Position Tätern gegenüberstehen, sei es, wenn sie Antrag auf einen Telefonanschluß stellen – Belastungs-Rate bei der Ost-Telekom: rund 30 Prozent –, sei es, daß sie, wie es Freya Kliervi geschah, als Zeugen in Strafprozessen einem früheren Stasivernehmer, der auf der Stasihochschule in Postdam-Eiche auf „Dipl.“ oder „Dr. Jur.“ studiert hatte, in der Rolle des Verteidigers eines anderen Täters begegnen... Die Reihe ließe sich fortsetzen.

      Interessanterweise haben die Täter es geschafft, die eigene Rolle von einst auf die Opfer und den politischen Gegner zu projizieren, um ihren Kampf unter umgekehrten Vorzeichen fortzusetzen. So unterstellte Hans Modrow, einst der letzte SED-Mann an der Spitze der DDR und angeblich ein Reformer, der klageführenden Staatsanwaltschaft und dem Gericht, vor dem er sich wegen Wahlfälschung zu verantworten hatte, politischen Mißbrauch des Strafrechts, um ihn als sozialistischen Volksvertreter aus dem Bundestag zu drängen. Am 18. Februar 1997 verschickte Modrow gemeinsam mit vier anderen früheren Spitzenfunktionären der DDR und der Parteien des sozialistischen Blocksvii, ein „Memorandum zur juristischen Verfolgung von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik durch Justizorgane der Bundesrepublik Deutschland“ nach Angaben einer Nachrichtenagentur an Organisationen und Regierungsstellen in etwa 60 Staaten in aller Welt, in dem die Verfolgungspraxis gegen DDR-Staats- und Regierungsverbrechen seit der Vereinigung Deutschlands als ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte dargestellt wird: „Angeklagt und verurteilt werden Führungskräfte und Mitarbeiter aus Ministerien und Verwaltungen der DDR. Juristischer Verfolgung unterliegen hunderte Funktionäre von politischen Parteien und Verbänden. Sie alle sollen zu Straftätern gemacht werden, weil sie hoheitliche Aufgaben auf der Grundlage der Verfassung und von der Volkskammer  dem höchsten gewählten Gremium der DDR  beschlossener Gesetze wahrgenommen haben.“ In dem „Memorandum“ werden die Opfer der SED-Politik so wenig erwähnt wie der Umstand, daß die Täter heute auf der Basis derselben Gesetze vor Gericht gestellt werden, nach denen sie sich bis 1989 so vorbildlich gerichtet haben wollen.

      PDS-Star Gregor Gysi sieht bei der Vielzahl Berichte, die sich auf den Verdacht beziehen, er habe für die Stasi gespitzelt, ebenfalls Fanatiker am Werke, die die Beweislast dem Angeklagten auferlegen wollten. Viele, darunter als Gutachter die Wissenschaftler der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen, halten es für aktenmäßig erwiesen, daß die Staatssicherheit über den Anwalt Gysi, dem die IM-Decknamen „Gregor“, „Notar“ und „Sputnik“ zugeordnet werden, zu wertvollen Informationen über dessen Mandanten gelangt sei, etwa über den Bürgerrechtler Robert Havemann. Wie der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe – IM „Sekretär“ – weiß Gysi auf alle neu auftauchenden Vorwürfe Antworten und Erklärungen. Beide weisen kategorisch zurück, jemals für die Stasi gespitzelt zu haben, wobei beide wiederum nicht bestreiten, mit der Stasi im Zuge ihrer Arbeit als Anwälte in Strafsachen bzw. für die Evangelische Kirche gelegentlich Kontakt gehabt zu haben.

      Wer behauptet, Gysi sei ein „Spitzel“ der Stasi gewesen, muß mit einer deftigen Unterlassungsklage rechnen, ja wenn eine Zeitung einen Kritiker Gysis mit einer entsprechenden Äußerung korrekt zitiert, klagt Gysi gegen die Zeitung.

      Das Ziel ist, sich selbst als politisch Verfolgte zu zeichnen, die Stasiakten zu einem Fabrikat übereifriger und geltungssüchtiger Bürokraten abzuwerten und Aufklärung fordernde, frühere Bürgerrechtler wie Jürgen Fuchs und Bärbel Bohley als Hysteriker zu diffamieren.

      Die Wissenschaft ist sich indessen einig, daß Akten der Staatssicherheit die Wahrheit enthalten. Sie waren ja nicht als Propagandamaterialien gedacht, um nach einer politischen Wende dem Feind Fehlinformationen zu liefern, sondern dienten der Arbeit des Binnengeheimdienstes als Grundlage. Es wäre unsinnig, aus Sicht der Staatssicherheit sogar gefährlich gewesen, grobe Lügen hineinzuschreiben.

      Fehlerhaft, da ideologisch gefärbt und geschönt, sind die Einschätzungen und Charakteranalysen in den Akten. Doch wenn ein Stasioffizier angibt, sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit mit IM „Notar“ oder „Sekretär“ getroffen zu haben, muß dies im Rahmen menschlicher Fehlbarkeit als Wahrheit hingenommen werden.

      Und doch: Vor Gericht werden viele Informationen aus Stasiakten nicht nur mit vernünftigen Zweifeln bedacht und naheliegender Quellenkritik unterzogen, sondern grundsätzlich angezweifelt – nämlich immer dann, wenn konspirativ, also ohne Nennung von Autor und Adressat – intern Informationen ausgetauscht wurden. Mancher Täter ist unbehelligt und lächelnd aus dem Gerichtssaal geschritten, da das Gericht bei der Beweiswürdigung Informationen, die konspirativ ermittelt und logischerweise ohne Quellenangaben notiert worden waren, mit erlogenen Informationen verwechselt hatte.

      Zu dem nichtbefriedigten Bedürfnis, durch ein Strafverfahren Rechtsfrieden herzustellen, gesellt sich da bei vielen Opfern das Gefühl, daß ihnen ihre mit den Akten gewonnene Biographie in der Diskussion über deren Faktizität wieder entgleitet.

      Dieser Erfolg,

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