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Braco - kleiner Bruder, großer Engel. Anina Toskani
Читать онлайн.Название Braco - kleiner Bruder, großer Engel
Год выпуска 0
isbn 9783748599494
Автор произведения Anina Toskani
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Wieder saß ich eines Abends vor dem Computer und starrte gebannt in Bracos Augen, da stand plötzlich die Zeit still. Ich betrat einen Raum innerer Leere, so als ob alles plötzlich verschwinden würde. Das geschah in Sekundenbruchteilen, mein Denken geriet außer Funktion. Der Verstand blieb stehen wie eine Küchenuhr, das Plappern des inneren Dialoges stoppte. Die innere Stimme fand einfach keine Worte und hatte vor Schreck, bei ihrem üblichen Gebrabbel von überflüssigen Kommentaren, den roten Faden verloren. Mir fiel einfach gar nichts mehr ein, ich war nur da und erlebte das aus der Beobachterposition. Ich lächelte und seufzte tief. Dann empfand ich eine erfrischende Ruhe und eine Art Heiterkeit im Innern. Eine unbekannte Lust, einfach drauflos zu lachen über das ganze Drama unseres Erdendaseins, blubberte wie die allererste Fontäne eines Springbrunnens aus meinem Bauch herauf. Seit Jahren hatte ich wahrhaftig mit Deli so gut wie nichts mehr zu lachen gehabt, ganz im Gegenteil. Oft hatte ich mich dann, sehnsüchtig, an die gute alte Zeit, am Mädchengymnasium in Düren, erinnert, als ich dreizehn war.
Deli auf dem Balkon an der Nähmaschine
Wir wohnten in Norddüren im Ausländerviertel. Deli hatte mit der Änderungsschneiderei alle Hände voll zu tun, da blieb oft keine Zeit zum Kochen und so machten wir mittags eine Sahnetortenschlacht, mit den Torten, die wir bei der Bäckerei in der Nachbarschaft kauften. Mit ihren geschickten Händen besserte Deli so unsere schmale Haushaltskasse auf und saß oft nächtelang, Nadel und Faden schwingend, auf dem großen alten Werktisch im Badezimmer. Unser Bad war ein langer Schlauch und der einzige Ort, wo sie ihre Nähmaschine und den Tisch hatte aufstellen können. Manchmal lag ich abends in der Badewanne, schaute ihr bei der Arbeit zu und wir lachten Tränen, wenn sie ihre kölschen Witze zum Besten gab. Mir kamen nun Tränen liebevoller Erinnerung, als ich an unsere Verschwörung vor 40 Jahren dachte. Wir hielten dicht und verrieten Vati nie, dass Deli keine Zeit hatte, mittags zu kochen und wir uns oft mit Sahnetorte den Bauch vollschlugen.
2013 war dann in München wirklich der Anfang vom Ende. Ich saß abends daheim vor dem Bildschirm: ratlos, orientierungslos, total ausgebrannt. Mit der Kraft der allerletzten Hoffnung saß ich nachts oft vor Bracos Livestream und seinen Videos auf DVD, die ich inzwischen von den Events mitgebracht hatte. Damit verdrängte ich meine Sorgen. Trotzdem wurde mir im Laufe einiger Wochen mit Braco klar, dass mein bisheriges Leben zu Ende war. Eine neue Ära musste anbrechen, aber wie, wo und wann, wusste ich nicht. Mühsam hatte ich viele Jahre in meine Operngesangsausbildung und die Stimme investiert. Am Ende waren Lehrbücher über Belcanto dabei herausgekommen. Doch, während der letzten Jahre, war auch meine Stimme, die ein Barometer für meinen Seelenzustand war, trotz meines umfangreichen Repertoires an Arien, wie ein Brunnen in der Wüste ausgetrocknet. Ich war ins Schweigen gefallen, fühlte mich fast nur noch in völliger Stille und Einsamkeit wohl. Mit Deli konnte ich oft diese Stille teilen, denn sie wurde auch von Tag zu Tag wortkarger, sprach nie mehr als nötig. Trotzdem fühlten wir uns gemeinsam wohl bei diesem Schweigen. Wir saßen oft beim Frühstück beieinander, still vertraut, schlürften Kaffee und Tee und starrten in das Flämmchen der Kerze, die ich auf den Tisch gestellt hatte. Dabei genoss Deli meine Anwesenheit sehr. Nur, wenn sie schlecht gelaunt war, aggressiv oder unruhig, musste ich mich fernhalten, Sie war dann ungenießbar und ich versank nach kleinen Auseinandersetzungen mit ihr jedesmal in Trübsal.
Da munterte mich Braco’s Blick am Wochenende wieder auf, wenn ich mich in meiner Not für einige Tage in eine Art Abstinenz von Menschen und Gedanken zurückzog, um neue Kraft zu schöpfen. Ich versuchte mich von den Sorgen zu lösen, denn ich war in den vorangegangenen drei Jahren immer stiller und einsamer geworden. Soziale Kontakte waren abgebröckelt, nach und nach ganz verschwunden; ich blieb daheim und ging tief in mich. Aus meiner lange zurückliegenden Scheidung, bei der, vor Jahren, meine Stimme zum ersten Mal zerbrochen war, wusste ich, dass meine Stimme das Barometer für mein Befinden ist. Ich verstummte und ließ es zu. Doch dabei nutzte ich meine einsamen Abende, nachzuforschen, wer Braco wirklich war: ich las und googelte alles, was ich an Details im Internet fand. Die erstaunlichen Heilungszeugnisse der Menschen, die seit 1995 zu Braco kamen, bewegten mich tief. Da war von regelrechten Wundern die Rede, von Heilung von Krebs, Diabetes, psychischen Belastungen, Nervenkrankheiten und so-gar angeborenen Anomalien. Braco hatte etwas, das spürte ich, nach dem ich tief in meinem Inneren suchte, eine Nahrung, die Kraft gab, ein Quäntchen stilles Glück, das ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Er besaß eine Leichtigkeit und Schlichtheit, ja eine Bescheidenheit, die sein Schweigen beredt machte und seine Präsenz heilend wirken ließ. Manchmal konnte sich sogar Deli dafür begeistern und saß mit mir vor dem Computer, um Braco’s Videos anzuschauen. Dann sah ich selten genug wieder ein Lächeln über ihre Züge huschen. Ja, Braco’s Blick tat ihr gut, obwohl sie irgendwie Angst vor einer Begegnung mit ihm hatte.
Niemand unter meinen zahlreichen irdischen Lehrern und Meistern hatte mir je die Frage nach dem Sinn des Daseins und vor allem nach dem Sinn solchen Leidens, wie es Alzheimer Patienten haben, beantworten können. Ich krankte an der täglichen Anteilnahme an Deli’s Leiden mit ihrer Trübsal, den Selbstmordgedanken und der Verzweiflung, ganz zu schweigen von den körperlichen Beschwerden, wie häufigen Durchfällen oder Atemnot und Schwere in den Beinen, die sie außerdem noch hatte. Mit Braco gab es nun eine stille Hoffnung ohne Worte. Mit jedem Blick, den ich mit Braco auf Videos verbrachte, wurde mir ein wenig leichter ums Herz. Ich wurde dann sehr neugierig auf seine persönliche Präsenz. Die Faszination, die die erste Begegnung ausgelöst hatte, ist mir noch immer gegenwärtig, als wäre es heute gewesen. Ich schöpfte Hoffnung, dass er Deli helfen könne, ihren wohlverdienten Lebensabend zu genießen.
Braco war meine allerletzte Hoffnung, denn alles andere hatte schon versagt: die Beratungen bei der geriatrischen Psychiatrie, bei der wir eine kettenrauchende Sozialhelferin angetroffen hatten, die Hilfsangebote von Pflegediensten, die keine Vertrauensperson stellen konnten, die Therapeutin, die ins Haus kam, diverse Putzhilfen, die das Handtuch warfen, manche Begegnungsstätte, die zu weit weg war, Ärzte, die sich nicht trauten, Deli einzuweisen und vieles andere mehr. Deli klebte an mir, wie eine Klette und hatte vor allen Fremden tierische Angst. Den Job, sie zu unterstützten, konnte ich nicht einfach an den Nagel hängen, eher hätte ich meiner Firma kündigen können. Doch wovon sollten wir dann existieren. Delis winzige Rente hätte für uns nie gereicht.
Begeistert brachte ich deswegen Deli die frohe Botschaft von Braco und von den Tausenden von Heilungszeugnissen, in denen Menschen von unheilbaren jahrzehntelangen Beschwerden und Leiden, körperlicher, psychischer und seelischer Art, erlöst worden waren. Meine Hoffnung, auch sie würde von den Alzheimer Dämonen befreit werden, wuchs, als ich noch eine Falldarstellung entdeckte, wie eine alte Dame von totaler Hilflosigkeit und Alzheimer Symptomen mit über 70 Jahren völlig genesen war und sich wieder selbst versorgen konnte. So schöpfte ich große Hoffnung, ich könnte Deli auf jeden Fall vor der Einlieferung in die Psychiatrie bewahren, wie schon einmal 10 Jahre zuvor.
Oft nahm ich in Braco’s Gegenwart wahr, dass sich der Raum um mich herum aufhellte. Das geschah, sobald ich seinem Blick begegnete oder seine Stimme hörte. Es war, als würde die Sonne aufgehen, in meinem Herzen und auch ringsherum in meinem Zimmer. Manchmal fühlte es sich so an, als hätte ich den Himmel mit den Fingerspitzen berührt! „Es werde Licht!“ Dachte ich oft lächelnd, denn mit der Erschaffung des Lichts, hatte laut der Bibel alles vor ewig langer Zeit im leeren