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...des Lied ich sing'. Gerd Pfeifer
Читать онлайн.Название ...des Lied ich sing'
Год выпуска 0
isbn 9783748598428
Автор произведения Gerd Pfeifer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
"Wenn er sich bewegt, hau' ihn auf die Nuss. Aber kräftig. Ich gehe und hole die Blauen."
Der Mann, der da lag, war ein Stammkunde. Kohlenschlepper. Er wohnte mit Frau und Tochter ein paar Straßen weiter. Georg kannte ihn. Ein stiller Zeitgenosse mit einem eingefallenen Gesicht, in dessen Falten der feine Kohlenstaub festgewachsen war. Nur wenn er zu viel getrunken hatte, wurde er aufsässig. Später, falls er sich überhaupt erinnerte, entschuldigte er sich bei seinen Kontrahenten: "Das nächste Mal hau' mir einen in die Fresse, dass ich liegen bleibe. Dann mache ich wenigstens keinen Unsinn."
Jetzt fing er an, Wilhelm zu beschimpfen. Georg hielt ihm mit seiner schwieligen Gewichtheberhand den Mund zu. Er wehrte sich nicht, sondern blieb ruhig auf dem Tresen liegen, bis Wilhelm mit einem Polizisten zurückkam. Der befahl ihm aufzustehen, und dann unterschrieb er, langsam und mit der Zunge zwischen den Lippen, einen Schuldschein für die Glasscheibe. Im Hinausgehen beschwerte er sich bei Wilhelm:
„Du hättest den Kleinen zu den Blauen schicken sollen. Als ich einen Schnaps haben wollte, hat er mich fast erwürgt."
Wilhelm rief ihn zurück und spendierte ihm ein kleines Bier: "Auf Kosten des Hauses."
Ihre gegenseitige Achtung blieb unverändert.
Das alles wollte Georg 'seiner Sängerin', wie er sie im Stillen und ein wenig stolz nannte, zum Trost erzählen. Aber er konnte es nicht. Er wäre sich kindisch vorgekommen. Ihre Verzweiflung war zu tief für lustige Anekdoten.
Das Gesindel, das in der Nacht die Apotheke beschmiert hatte, waren Fremde gewesen. Unbekannte. Womit konnten sie Ellens Vater derart verächtlich machen, dass Ellen, die gefasste, kühle Buchhändlerin, derart außer Fassung geriet? Was hatten sie auf die Wand geschrieben? Er war wirklich naiv. Nachträglich hätte er sich nicht gewundert, wenn sie geglaubt hätte, er wolle sich über sie lustig machen.
So fragte er sie nach den Schmierereien. Immer wieder. Aber sie antwortete nicht. Sie tat, als müsse er wissen, was geschehen war. Und warum. Er war hilflos, wollte sie beruhigen, trösten. Aber wie, wenn er nicht wusste, was sie verstört hatte? Sie saß ihm gegenüber, war aufgelöst, kopflos und ängstlich. Und ebenso konfus – das entnahm er ihren fast gestammelten Sätzen – lief offenbar ihr Vater in seinem Haus umher, wollte keine Polizei, weigerte sich, Anzeige zu erstatten. Und auch Ellen besaß kein Vertrauen zur Justiz.
"Die kommen erst gar nicht", hatte sie resigniert auf seine Vorhaltungen erwidert. Eine Welt, ihre Welt schien für sie zusammengebrochen zu sein. Hoffnungslos saß sie mit ihm an einem Tisch und war doch meilenweit von ihm entfernt.
Er verstand das alles nicht.
Schließlich sah Ellen ihn ratlos an. Zum ersten Mal schien sie sich seiner Gegenwart heute bewusst zu werden. Sie lächelte vage. Als ob sie um Entschuldigung bäte. Ihre Hände kamen zur Ruhe. Mit einem jämmerlich kleinen bestickten Taschentuch betupfte sie ihre Augen, die rot und tränenlos durch ihn hindurchzusehen schienen.
"Sie wissen wirklich nicht, was uns und anderen geschehen ist!", stellte sie erstaunt fest. "Sie haben keine Ahnung."
Konsterniert schüttelte sie ihren Kopf. Georg fühlte sich einfältig, blauäugig, unwissend und auf eine erbärmliche Art schuldig, wusste aber eigentlich nicht warum.
"Nein", sagte er schlicht und wahrheitsgemäß, lächelte entschuldigend, "sagen Sie's mir!"
Prüfend blickte sie ihn an, wollte Gewissheit haben, fürchtete, dass er sich über sie lustig machen könnte. Nach einer Weile schien sie seinem schüchternen Lächeln Glauben zu schenken.
"Mein Vater ist Jude", sagte sie leise und schaute sich vorsichtig und verschämt in dem kleinen Café um, das fast leer war und in dem niemand Notiz von ihnen nahm. Selbst die Bedienung stand interesselos an der Kasse und blätterte in einer Illustrierten.
Georg war nahe daran, nun doch noch 'na, und – ' zu fragen. Bis ihm gerade noch die Karikaturen in den Zeitungen einfielen, die dickbäuchige, krummnasige alte Männer mit Stirnlocken und steifen Hüten zeigten; sie saßen auf Geldsäcken und wurden für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht: Juden. Er hatte die Zeichnungen kaum beachtet, auch die Hetztiraden im Radio und die Flugblätter auf den Straßen nicht ernst genommen. Es wird viel gelogen in den Zeitungen, und das Papier der Politschriften ist besonders geduldig. Allerdings musste er zugeben, dass er noch nie darüber nachgedacht hatte, ob es tatsächlich Menschen gibt, die hinter dicken, ledergepolsterten Türen ihre Hände reiben und schadenfroh über die Nöte der Anderen feixen. Oder ist die Szene nur ein Bild aus der Vorstellungswelt der ewigen Verlierer, die verbittert sind, weil sie nicht selbst hinter den schalldichten Türen zum Geld sitzen? Und falls es die Händereiber doch gibt - - sind es Juden? Warum? Warum ausgerechnet Juden? Was sind Juden eigentlich?
Er entsann sich einer Szene in der abendlichen Gaststube seines Vaters. Wilhelm stand hemdsärmelig hinter dem Tresen und zapfte Bier. Mit todernster Miene, die er immer aufsetzte, wenn er einen Scherz machen wollte, zeigte er auf die Zeitung, die zusammengefaltet vor ihm lag, und sagte zu dem Gast vor ihm:
"Ihr Juden vergiftet jetzt auch unsere Brunnen und fresst kleine Kinder aus Altona. Das weiß inzwischen jeder."
Der schwarze Ira, der immer leise nach Fisch roch, auch samstags, wenn er einen schwarzen Anzug trug und nicht im Fischereihafen arbeitete, stand vor dem Tresen und wartete auf sein Bier. Mit ähnlich ernstem Gesicht antwortete er langsam und ließ jedes Wort genüsslich auf der Zunge zergehen:
"Und ihr dämlichen Christen geht nur in die Kirche, um euren Heiland aufzufressen und sein Blut zu trinken." Er schüttelte sich und tat angewidert: "Barbaren!"
Scheinbar böse blickten die beiden Männer sich an. Ira sah wirklich aus wie die Judenkarikaturen in den Zeitungen. Große Nase, überall schwarze Haare, in der Nase, in den Ohren, auf den Armen. Georgs Mutter hatte gelegentlich darüber gesprochen und gemeint, dass sie nicht mit ihm verheiratet sein wollte. Wilhelm hatte gesagt, dass er nicht einmal wisse, ob Ira wirklich Jude sei.
"Vielleicht weiß er es selbst nicht so genau. Jedenfalls geht er nicht in die Synagoge."
In die Fopperei der beiden Männer am Tresen mischte sich eine Stimme aus dem Hintergrund, wo eine Skatrunde zu vieren saß, so dass immer ein Spieler frei blieb:
"Über Kirchen darfst du mit Wilhelm nicht reden. Er hat noch nie eine von innen gesehen."
Und eine andere Stimme aus der Runde warf ein: "Und mit Ira nicht über Kinder. Er weiß nicht einmal, wie man sie macht."
Ira war seit vielen Jahren verheiratet, aber Kinder hatte er nicht.
Die Neckereien in der Schankstube schienen nur herzlos. Die Männer kannten sich seit Jahren. Die Scherze blieben immer die gleichen. Es gab kaum etwas, das man einander übelnahm. Ein Außenstehender hätte vielleicht wirklich geglaubt, sie seien eine große Familie – Jude, Christ, Katholik, Protestant, Agnostiker, Ungläubiger oder der Mann, der an den Sack Zement glaubte, von dem Wilhelm gern sprach.
Und nun war Ellen fast zusammengebrochen, weil ihr Vater Jude war und ein paar braune Stürmer das an die Apotheke geschmiert hatten. Er verstand die Aufregung noch immer nicht. Aber sie blieb unbeirrbar: "Wir dürfen uns nicht mehr sehen", sagte sie ein ums andere Mal. Er konnte reden, so viel er wollte.
Sie blieb bei ihrer Meinung. Auch unterwegs noch, als er sie wie immer zurück in die Buchhandlung brachte, flehte sie ihn geradezu an:
"Sie machen sich unglücklich, wenn Sie sich in der Öffentlichkeit mit mir sehen lassen."
Georg hielt sich nicht an ihre Mahnung. Er kam wie immer, stellte sich vor den Buchladen und nickte ihr zu. Aber sie folgte seiner stummen Einladung