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Gefangen - Unter Wasser und Beton. Frank Hille
Читать онлайн.Название Gefangen - Unter Wasser und Beton
Год выпуска 0
isbn 9783741868498
Автор произведения Frank Hille
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der Hauseingang war um die Ecke. Scheiße, ich habe Manfred gar nicht gefragt wie Ulli mit Nachnamen heißt. Vier Möglichkeiten blieben: Beyer, Wuttke, Kesselmann und Fischer. Die Klingelanlage sah recht ramponiert aus. Drei demolierte Briefkästen ohne Namensschild hingen windschief an der Wand. Er klingelte Manfred an, der nahm nicht ab. Das kann ja jetzt eine peinliche Veranstaltung werden dachte er. Welcher Name könnte am besten zu Ulli oder Ullrich passen? Ich nehme Fischer. Er drückte den Klingelknopf.
„Wer schellt da an meiner Tür?“
Glück gehabt.
„Guten Abend, ich möchte zum Inhaber von Ullis Buchladen. Ich komme auf Empfehlung von Manfred.“
„Du bist richtig, mein Freund, es wird dir aufgetan.“
Der Türöffner summte.
Das Treppenhaus konnte es mit der Fassade locker aufnehmen. Nein, es übertraf die Fassade locker. Eine müde Funzel, wahrscheinlich noch aus Kaisers Zeiten, gab spärlich Licht ab.
Die Wände ließen das Mauerwerk blicken, das Treppengeländer fehlte teilweise, es roch eigenartig. Irgendeine Mischung aus Pisse, Zigarrenrauch und etwas Undefinierbarem. Er spürte seinen Magen rebellieren, aber nach einem Moment war es vorbei. Aufwärts, spornte er sich an. Der alte Treppenfußboden knarrte vernehmlich bei jedem Schritt und schien jeden Moment einzubrechen zu wollen. Oben auf dem Absatz blickte ihm ein Rottweiler tief in die Augen. Verdammter Mist, worauf habe ich mich eingelassen und sofort abhauen war sein Gedanke. Gleichzeitig wusste er, dass der Hund ihn eher packen würde als er zwei Stufen weit gekommen war. Etwas Feuchtes sammelte sich in seiner Unterhose und Panik nahm von ihm Besitz.
„Komm zu Vati, du böses Getier“ dröhnte ein Bass durch das Haus und Schritte näherten sich.
„Der will nämlich nicht spielen, hahaha. Na los, komm‘. Du bist gemeint, nicht der Hund.“
Gott steh mir bei sagte er sich verzweifelt. Und betrat den Absatz. Der Hund lag zu Füßen eines bulligen Mannes von vielleicht zwei Meter Größe und geschätzten 150 Kilo. Er hatte ein offenes, wenngleich verwüstetes Gesicht, in dem zwei blaue Augen dominierten, die ihn jetzt durchdringend ansahen. Die Nase war klobig und mit Pockennarben übersäht, das Haar, schon silbrig, fiel ihm bis auf die Schultern. Sein Alter war schwer zu schätzen, zwischen vierzig und sechzig war alles möglich. Er trug eine vergammelte Jogginghose und ein verwaschenes Hemd, dessen ehemalige Farbe nicht mehr zu bestimmen war. So ins Graue gehend. Oder so schmutzig. Darüber noch eine Fellweste. Plötzlich begann es zu jucken. Überall. Spinn‘ nicht rum, raunte er sich zu. Das kann gar nicht sein. Du bist jeden Tag unter der Dusche.
„Tritt doch näher, junger Freund“ donnerte es durch das Treppenhaus. „Zerberus ist ganz friedlich. Schon mal von dem gehört?“
„Klar“ stammelte er.
„Der Höllenhund.“
„Gut“ kam die Antwort „du scheinst mir von hoher Bildung zu sein. So was findet man heute bei dieser laschen und verdorbenen Jugend nicht mehr oft. Konntest du akademische Weihen erlangen?“
„Ja“ presste er heraus.
„Warum so schüchtern? Schämst du dich deiner Bildung? Sie ist ein Privileg derer, die es sich verdienen. Man muss etwas erwerben. Verstehst du: erwerben. Du sorgst für dich selbst. Nicht dem Staat auf der Tasche liegen. Wie faule und plagende Tiere, die anderen etwas sauer Erarbeitetes nehmen. Wie sagt Joel in der Bibel zu Heuschrecken: sie sind ein Schaden. Oder Jesus: sie sind gefräßig. Die Apokalypse wird kommen, wenn wir uns nicht besinnen und alle zu Egoisten werden. Verzicht heißt das Ziel. Verzicht auf das, was entbehrlich ist. Was wäre für dich entbehrlich, mein junger Freund?“
„Na vielleicht 50 Sorten Joghurt“ stieg er in die Diskussion ein.
„Falsch, vollkommen falsch. Der Verzicht auf die Macht, andere zu beherrschen. Dieser tägliche Wahn, einem anderen überlegen zu sein, und bei der Wahl der Mittel, das zu erreichen, nicht zimperlich zu sein. Jedem sein Selbst lassen. Keine Konventionen zulassen. Hast du Macht über andere?“
„In meinem Job ja“ gab er jetzt schon etwas genervt zu.
Was wollte dieser Zausel von ihm? Er sollte das Heft rausrücken und sich dann ins Knie ficken. Der Zausel dachte gar nicht daran sondern setzte seine Rede fort.
„Dann musst du dich ändern, denn du dirigierst andere gegen ihren Willen. Machst sie zu deinen Arbeitssklaven. Nutzt sie aus. Zu deinem Vorteil. Vielleicht mit üblen Spielchen?“
„Hören Sie zu. Ich wollte nichts weiter als das Heft von Ihnen kaufen. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir, will nach Hause und ins Bett.“
„Siehst du. Du bist gefangen. In diesem verlogenen System. Das dich auf die Dauer aussaugt und wegwirft, wenn du nicht mehr funktionierst.“
Plötzlich zauberte er eine Flasche aus der Westentasche und nahm einen tiefen Schluck.
„Sa Rodinu. Sa Leninu. Sa Stalinu” brüllte er plötzlich wie wahnsinnig.
Der Hund entwich mit irrem Gebell und eingezogenem Schwanz in die Wohnung.
„So, jetzt sollst du die Gabe erhalten. Der Herr sagt mir, dass du einen weiten Weg auf dich genommen hast. Du hast dir das Büchlein erworben. Jetzt sollst du es haben. Nimm es aus meiner Hand.“
Er fasste sich ein Herz und näherte sich dem Zausel. Je näher er der Wohnung kam, desto mehr nahm der Gestank zu. Jetzt wusste er auch, woher das Undefinierbare kam. Hundescheiße. Auf dem gesamten Treppenabsatz. An seine hochglanzpolierten Schuhe dachte er gar nicht einmal, als er mit torkelnden Gang eines heillos Betrunkenen auf den Zausel zusteuerte, um ja nicht in die Scheiße zu treten. Er konnte ihm in das Gesicht sehen. Muss früher mal ein attraktiver Mann gewesen sein dachte er sich. Hat sich durchs Saufen fertig gemacht. Wer weiß, was er früher gewesen war. Oder was passiert ist.
„Du versuchst mich zu erkennen, stimmst? Nun, junger Freund, das wird dir nicht gelingen. Jeder trägt ein Geheimnis in sich. Müsstest schon Nostradamus sein, um mir meines zu entreißen. Ist auch nicht wichtig. Nimm dein Büchlein und der Herr segne dich.“
Als er das Heft nahm konnte er die Hände ansehen. Feingliedrig und gar nicht zu dem massigen Körper passend. Die Hände eines Pianisten, eines Arztes oder Ingenieurs, der seine Finger am Skalpell oder Computer geschickt einsetzen musste. Keine Handwerkerhände. Er sah auch, dass der Zausel gepflegt war, die Haare ohne Fett und ordentlich. Frisch rasiert.
„Wie viel bekommen Sie von mir?“
Das Brüllen nahm an Stärke zu.
„Willst du mich beleidigen? Hast du denn gar nichts begriffen? Du hast es dir erworben! Dann muss es dir etwas Wert sein! Und jetzt verschwinde, sonst greift dich der Zerberus.“
Plötzlich fiel jegliche Spannung aus seinem Gesicht und die Züge erschlafften. Doch an die sechzig schätzte er. Nun wusste er auch, dass er ohne Kommentar gehen sollte. Die Treppe gab beim Abwärtsgehen wieder ihr Konzert und er war erleichtert, als er das Haus verließ.
Das kann nicht wahr sein was hier abgegangen ist ging es ihm durch den Kopf. Manfred, du Arsch. Du hast genau gewusst, was das für ein Typ ist. Das Jucken war wieder da und er sehnte sich nach einer Dusche. Das war das erste, was er zu Hause tat. Seine Gedanken kreisten um den Zausel. Manfred würde er morgen Abend besuchen und ein Hühnchen mit ihm rupfen. Er hätte ihn zumindest vorwarnen können. Von wegen bisschen verrückt. Total durchgedreht der Kerl. Nach der Dusche fühlte er sich besser und holte ein Bier aus dem Kühlschrank. Er ließ sich auf die Couch fallen und legte die Beine auf den Tisch. Das Heft lag auf dem Tisch, aber zu weit weg, um es mit der Hand zu erreichen. Mit dem Fuß zog er es heran. Bin ja mal gespannt was ich hier erfahre dachte er schon etwas schläfrig, denn das Bier war schon alle. Er musste Energie aufbringen, um sich ein zweites aus dem Kühlschrank zu holen.