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Der Pferdestricker. Thomas Hölscher
Читать онлайн.Название Der Pferdestricker
Год выпуска 0
isbn 9783750219397
Автор произведения Thomas Hölscher
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ich habe es doch gesagt: Seelenverwandtschaft.
Und ich habe dir gesagt, dass das nicht zutrifft.
Der jüngere Mann sah den älteren eine Zeit lang an, als sei er überrascht, geradezu peinlich berührt, und wolle ihm nichts zu dessen Bemerkung einfallen; schließlich hob er nur die Schultern. Schade, wenn es so ist. Aber dann kann ich es eben nicht ändern.
Nein, du kannst es nicht ändern, stimmte der ältere ihm zu. Aber warum fragst du nicht einmal mich, warum ich dich ausgesucht habe.
Warum sollte ich das tun?
Mach’s doch einfach.
Also: Warum haben Sie gerade mich ausgesucht?
Der ältere Mann schien einen Augenblick zu überlegen.
Weil Sie mich verachten, sagte der junge Mann schnell, als sei ihm die plötzliche Stille peinlich oder könne er wie ein kleines Kind die Antwort auf irgendeine Frage gar nicht erwarten.
Der ältere Mann schüttelte langsam den Kopf. Nein, deshalb nicht.
Warum dann?
Noch immer schien der ältere Mann in Gedanken versunken, als müsse er jedes der Wörter auf die Goldwaage legen, die das zum Ausdruck bringen sollten, was er sagen wollte. Wenn wir uns früher kennen gelernt hätten, sagte der ältere Mann schließlich leise und langsam und doch besonders akzentuiert, ..... ich hätte das Lied ohne Worte für dich gespielt. Nur für dich. Darum.
Für Sekunden schien der jüngere völlig irritiert. Fassungslos schaute er den älteren Mann an. Meinen Sie das im Ernst?, fragte er schließlich.
Der ältere Mann nickte. Das meine ich im Ernst. Als müsse er die Glaubwürdigkeit des Gesagten noch unterstreichen, fügte er nach einer Weile hinzu: Und ich bin mir sehr sicher, es wäre ein Liebeslied geworden.
Und jetzt ist es natürlich zu spät?
Nicht ganz. Das liegt ausschließlich an dir.
Warum nicht ganz.
Weil ich nicht will, dass sie dich abknallen, sagte der ältere Mann schnell und sah sein Gegenüber konzentriert an. Inzwischen wissen sie natürlich längst, wer du bist, und es wird für sie überhaupt kein Problem sein herauszufinden, wo du dich im Augenblick aufhältst. Sie werden hier alles abriegeln, umstellen, ein SEK hierher bringen und irgendein Scharfschütze wird dich letztlich erschießen.
Ja und, vielleicht will ich das doch.
Ich will es aber auf gar keinen Fall.
Warum nicht?
Der ältere Mann schüttelte langsam wie widerwillig den Kopf.
Warum nicht?, fragte der jüngere noch einmal. Bitte sag es mir doch.
Ich habe es dir doch schon gesagt. Was willst du denn noch mehr?
Ganz langsam legte der jüngere Mann die Pistole vor sich in das Gras, rutschte auf den Knien bis dicht neben den immer noch mit nach hinten gestreckten Händen regungslos auf dem Boden sitzenden älteren Mann zu und sah dem unentwegt ins Gesicht. Es tut mir leid, sagte er schließlich, und noch bevor der ältere etwas sagen konnte, strich der jüngere mit der Hand leicht über den inzwischen verkrusteten Striemen im Gesicht des älteren. Es tut mir wirklich leid, sagte er kaum hörbar. Ich habe dich nicht schlagen wollen.
Ich weiß.
Als sich ihre Köpfe fast berührten, sagte der ältere Mann mit so leiser Stimme, als müsse er endgültig sicherstellen, dass niemand außer dem jüngeren Mann ihn hören konnte: Was ist mit Janosz?
Du weißt doch bestimmt, dass er seit 16 Jahren tot ist.
Und Jonas Z.? Ist der auch tot?
Ja, der auch.
Ganz offensichtlich hatten beide den Riesen auf dem Pferd völlig aus den Augen verloren. Urplötzlich hatte der hinter dem jüngeren Mann gestanden. Pass auf!, rief der ältere noch, aber da hatte der riesige Kerl den jungen Mann bereits mit einem wuchtigen Tritt gegen den Kopf wie leblos zu Boden gestreckt.
Prolog 1
23.9.2000
Das Anwesen war viel zu groß für einen Menschen.
Vielleicht, dachte er plötzlich, war das typisch für dieses Land: zu wenige Menschen wohnten in viel zu vielen und zu großen Häusern. Und die Menschen, die solche Häuser hätten bevölkern können, die mochte man in diesem Land nicht. Dann wollte er diesen Gedanken nicht mehr weiterspinnen: Irgendwie verursachte ihm ein solches Denken ein Gefühl des Unwohlseins, manchmal sogar der Angst; der Angst, schon längst zum Fremden geworden zu sein im eigenen Land. Er wusste, dass er selber auch zu den Stammtischstrategen gehörte, die die vielen Ausländer nicht mochten und ständig neue Ideen hatten, was man mit denen anstellen sollte. Und sobald er alleine war, wollte er auch an sein Gerede am Stammtisch nicht mehr denken, verursachte es ebenfalls ein ungutes Gefühl und manchmal sogar die Überzeugung, dafür irgendwann so etwas wie die Quittung zu erhalten.
Dabei gab es für ihn in der Realität schon seit Jahren keine Abende an irgendeinem Stammtisch mehr.
Und doch waren es vor allem die vielen Ausländer gewesen, die sie vor Jahren schon aus dem Süden von Gelsenkirchen geradezu hatten flüchten lassen. Ein riesiges Haus hatten sie dort gehabt für sich selber und mehrere Mietshäuser für andere Leute. Zunächst hatten sie nichts dagegen gehabt, auch ausländische Familien in ihren Häusern wohnen zu lassen: schließlich war man kein Unmensch, und die Leute hatten nett und sauber ausgesehen und fleißig für ihr Geld gearbeitet, und sie hatten oft davon gesprochen, sobald wie möglich wieder in ihre eigenen Länder zurück zu gehen. Aber nur ein paar Jahre später waren sie gezwungen gewesen, fast alle Wohnungen an ausländische Familien zu vermieten oder leer stehen zu lassen, weil diese Leute nicht mehr weggingen, sondern immer mehr von ihnen kamen, und viele von diesen Leute hatten auch nicht mehr nett ausgesehen und fleißig für ihr Geld gearbeitet, weil es die Arbeiten, die sie einst ins Ruhrgebiet gelockt hatten, gar nicht mehr existierten. Und gewollt und immer häufiger auch verlangt hatten sie vor allem nur noch eines: dass man sie gewähren ließ, wenn sie Regeln nicht nur nicht achteten, sondern sogar gezielt verletzten. Für Unruhe hatten sie gesorgt, für ein ungutes Gefühl zunächst, dann für immer schneller steigende Sorgen und Ängste. Und da waren sie kurzerhand weggezogen ins Grüne wie so viele, die es sich irgendwie leisten konnten wegzugehen aus einer Umgebung, die ihnen längst fremd und oft sogar unerträglich geworden war.
Und sie hatten sich diesen ehemaligen Bauernhof in der Nähe von Raesfeld, einem kleinen Ort im Münsterland am Rande des Ruhrgebiets, allemal leisten können. Eigentlich ist es Feigheit vor dem Feind, hatte seine Frau damals gesagt, und sie hatten darüber gelacht. Mittlerweile lachte er darüber schon lange nicht mehr.
Eines Nachmittags waren sie einfach rausgefahren, hatten kurz vor Raesfeld die stark befahrene B224 verlassen und waren nach ein paar Kilometern vor dem damals schon leerstehenden Gehöft gelandet. In the middle of nowhere, das hatte er damals bereits gesagt, die nächste menschliche Behausung war schließlich über einen Kilometer entfernt; aber der Hof hatte ihnen beiden gefallen, war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen, und so hatten sie, ohne lange zu überlegen, das Haus mit einem großen Stück Land gekauft.
Allein der Umbau hatte ein Vermögen gekostet, Geld, das sie aber hatten. Das er auch jetzt noch hatte. Viel mehr, als er in der noch verbleibenden Zeit seines Lebens je würde verbrauchen können.
Das war nicht immer so gewesen: aus einer kleinen Bäckerei hatten sie im Laufe von weniger als zehn Jahren eine ganze Kette von Läden in mehreren Städten des Ruhrgebiets aufgebaut, hatten Tag und Nacht geschuftet, um weitere Filialen zu eröffnen und noch mehr Geld anzuhäufen. Nur hatten sie nie die Zeit gehabt, das viele Geld auch auszugeben.
Und dann war es ihm als eine grauenhafte Absurdität vorgekommen, dass seine Frau nur drei Monate nach Fertigstellung dieses großen Anwesens und dem Umzug aufs Land gestorben war und die einzige Tochter