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studierte. Mittlerweile hatte sie geheiratet und wohnte in der Nähe von Hamburg. Das einzige Enkelkind, ein mittlerweile fünfjähriges Mädchen, hatte seine Frau nicht mehr gesehen; er selber hatte die Kleine außer bei der Taufe aber auch nur noch vier Mal gesehen. Zumeist hatte die Tochter mit ihrem Mann irgendwelche Bekannte im Ruhrgebiet oder die Familie des Schwiegersohnes besucht, und die beiden hatten nicht mehr als einen kurzen Zwischenstopp bei ihm eingelegt. Obschon seine Tochter ihn bei ihren gelegentlichen Telefonaten schon mehrfach eingeladen hatte, war er nie nach Hamburg gefahren: als mittlerweile Sechsundsiebzigjähriger wollte er nicht mehr seine Tochter und deren Familie besuchen. Er wäre sich vorgekommen wie ein Bittsteller, wie ein zufälliger Bekannter, den man nur deshalb im Haus duldete, weil es die Höflichkeit verbot ihm zu sagen, dass er störte.

      Es war Samstag, der 23.9.2000.

      Den ganzen Tag hatte die Sonne geschienen, es war ein herrlicher Tag gewesen, vielleicht sogar schon zu warm, ein wenig drückend auf jeden Fall, so dass mit einem Gewitter gerechnet werden musste. Und gerade diese schönen Tage empfand er als besonders unerträglich, weil ihn solche Tage nach seinem Dafürhalten geradezu aufforderten, irgendetwas Sinnvolles zu tun, irgendeine hier und jetzt gegebene Möglichkeit zu nutzen, das Leben eines sehr reichen Mannes einfach zu genießen. Die Tage mit scheußlichem Wetter gaben zumindest Anlass, sich zu ärgern, mit anderen über irgendein Sauwetter zu reden; die schönen Tage machten nur deutlich, dass man mit sich selber nichts mehr anzufangen wusste. Er wusste immer weniger, wie er die Zeit vom Aufstehen bis zum Einschlafen verbringen sollte, eine Zeitspanne, die zudem auch noch immer länger wurde, weil er abends nicht einschlafen konnte und morgens selbst im Sommer zumeist noch vor dem Sonnenaufgang aufstand. Vielleicht, hatte er oft gedacht, war es die schlimmste Geißel des Alters, insgesamt immer müder zu werden, ohne noch schlafen zu können.

      Dreimal in der Woche kam eine Frau aus Dorsten, einer Stadt am nördlichen Rand des Ruhrgebiets, und brachte das Haus in Ordnung, kochte für ihn, kaufte ein und erledigte überhaupt alle Besorgungen, um die er sie bat. Alle 14 Tage kam ein junger Mann aus der Nachbarschaft und brachte den Garten in Ordnung. An allen anderen Tagen kam niemand, und es passierte an diesen Tagen sehr häufig, dass er den gesamten, immer unendlicher werdenden Tag lang mit keinem Menschen auch nur ein Wort wechselte. Wieso ziehst du nicht wieder in die Stadt?, hatte ihn die Tochter schon mehrfach gefragt. Oder in unsere Nähe? Und dann hatte er jedes Mal ganz entrüstet geantwortet, dass er sich hier wohlfühle wie die Made im Speck, weil er insgeheim davon überzeugt war, dass sie ihn in irgendein Altersheim stecken wollte. Natürlich in das teuerste und beste, das es gab, aber auf jeden Fall in ein Altersheim. Dort, das wusste er, würde er verrückt werden.

      Außerdem hatte sich in den letzten drei Monaten zumindest ein ganz klein Wenig verändert. In den letzten drei Monaten war schon zum wiederholten Mal etwas passiert, das ihn zumindest für eine kurze Zeit seine Langeweile hatte vergessen lassen.

      Beim ersten Mal hatte er fürchterliche Angst gehabt. Er hatte seinen Augen nicht getraut und gewusst, dass er den Vorfall eigentlich bei der Polizei hätte melden sollen. Aber bereits nach ein paar Tagen war er froh darüber gewesen, nicht zur Polizei gegangen zu sein, überhaupt mit niemandem über diesen Vorfall gesprochen zu haben. Es war ihm selber so vorgekommen, als habe er nur so sicherstellen können, ganz allein einem unerhörten Geheimnis auf die Spur zu kommen.

      Und dann war es tatsächlich wieder passiert. Nur ein oder zwei Wochen später, das wusste er nicht mehr, und plötzlich schoss es ihm durch den Kopf, dass es ein Fehler war, über diese Vorkommnisse nicht genau Buch geführt zu haben.

      Die große Stehuhr im Wohnzimmer schlug elf. Für einen Augenblick dachte er daran, das Licht im Wohnzimmer auszuschalten; dann erschien ihm der Zeitpunkt noch viel zu früh. Wenn es heute passieren sollte, würde es noch Stunden dauern, das wusste er.

      Schon oft war ihm die ungeheure Ruhe aufgefallen, die hier ringsum herrschte. Vor allem als sie gerade hier eingezogen waren, hatte er es nicht für möglich gehalten, dass es eine solche Ruhe überhaupt gab.

      Und gerade diese Ruhe war es gewesen, die ihm Angst bereitet hatte, als es zum zweiten Mal passiert war. Niemand würde seinen Hilferuf hören, wenn ihm etwas zustoßen sollte, das war ihm schlagartig klar gewesen, und er hatte hinter der Gardine gestanden und war davon überzeugt gewesen, dass selbst draußen noch sein Atem und sein schneller Herzschlag zu hören waren.

      Zuvor hatte ihm die Abgeschiedenheit des Hofes noch nie Angst bereitet. Schon mehrfach hatte die Tochter ihn gefragt, ob er nicht Angst davor habe, ganz allein dort zu wohnen, und jedes Mal hatte er ihr wahrheitsgemäß gesagt, dass er keine Angst habe. Das Haus war schließlich mit teuren Sicherheitsvorkehrungen und einer aufwendigen Alarmanlage ausgestattet. Er hatte nie Angst gehabt. Bis vor ein paar Wochen. Aber das war eine Angst, die man sich mit Alarmanlagen nicht vom Halse schaffen konnte.

      Gegen kurz vor zwölf schaltete er das Licht im Wohnzimmer aus.

      Noch als es zum dritten Mal passiert war, es musste vor zwei oder drei Wochen gewesen sein, hatte er nur gewagt, die Szene vom Fenster seines Schlafzimmers im ersten Stock zu beobachten. Nun ging er langsam durch den dunklen Flur und öffnete die Tür zur Tenne, die sie damals umgebaut hatten zu einem viel zu großen Partyraum, in dem noch niemals eine Party stattgefunden hatte. Neben dem großen Tor war ein Fenster, von dem aus man die beste Aussicht auf die kleine Weide hatte.

      Als ihm seine fast krampfhaften Bemühungen bewusst wurden, in der Dunkelheit jedes auch noch so geringe Geräusch zu vermeiden, musste er vor sich selber zugeben, was er natürlich schon längst wusste: Er wollte, dass es wieder passierte. Bereits vor ein paar Tagen hatte er sich gesagt, dass er schließlich nicht der Gejagte war: Er war der Jäger. Und je mehr er sich in diese Bildlichkeit verstiegen hatte, desto nachdrücklicher waren alle Reste der Angst einem Gefühl gewichen, das er nun als das bezeichnen konnte, was es war: Jagdfieber.

      Bei seinen allabendlichen Streifzügen durch das Haus hatte er den besten Beobachtungsplatz ausgekundschaftet, hatte kaum die Enttäuschung darüber verkraften können, dass es an vielen Tagen hintereinander wieder einmal nicht passiert war. Er war mit dem Wagen bis in die Innenstadt von Essen gefahren, um sich das beste Fernglas zu kaufen, das er finden konnte. Und er hatte begonnen, das, was er tat, um jeden Preis auch vor den wenigen Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung verborgen zu halten. Er war fürchterlich wütend geworden, als seine Haushaltshilfe das Fernglas entdeckt und ihn daraufhin angesprochen hatte. Er brauche das Gerät, um Tiere zu beobachten, hatte er der völlig überraschten Frau äußerst unfreundlich mitgeteilt und schließlich noch hinzugefügt, sie solle sich gefälligst nicht in seine Privatangelegenheiten mischen.

      Und dabei hatte er nicht einmal gelogen, dachte er plötzlich und musste kurz lachen: Ich habe mir dieses Fernglas gekauft, um Tiere beobachten zu können.

      Das Fenster bot den besten Blick auf den Tatort, aber schon nach wenigen Minuten spürte er wieder die Nachteile, die sein Beobachtungsplatz mit sich brachte: Das Fenster war so hoch, dass man nur im Stehen durch die zudem verdreckte Scheibe sehen konnte. Er hatte in den vergangenen Tagen lange überlegt, ob er das Fenster nicht säubern sollte, aber dann war es ihm jedes Mal als die sicherere Lösung vorgekommen, die Scheibe so verdreckt zu belassen, wie sie war. Auf diese Weise würde er als Beobachter von außen nicht zu entdecken sein.

      Das Alter vermindert das Bedürfnis nach Schlaf, nicht aber die Neugierde und die Ungeduld. Das Warten wurde wie immer für ihn eine Tortur.

      Er führte sogar eine Art Protokoll, und nur einen halben Tag später hätte die Mordkommission der Recklinghausener Polizei sich zumindest für kurze Zeit der Hoffnung hingeben können, damit den Schlüssel zur Lösung zumindest eines der rund gerechnet fünf bis sechs Morde in der Hand zu haben, die rein statistisch in diesem ziemlich großen Landkreis pro Jahr begangen werden. Aber da war dieser Notizblock verschwunden.

      Zunächst hatte er irgendwo im Haus vorhandenes Papier benutzen wollen; dann war er aber doch eines Tages mit dem Wagen nach Dorsten gefahren und hatte in einem Schreibwarenladen einen neuen Notizblock gekauft. Nach langem Hin und Her hatte er sich für 50 Blatt DIN A 6 entschieden.

      Nur knapp eine halbe Seite dieses Notizblocks sollte beschrieben werden, bevor es für immer der Chance beraubt war, in der Asservatenkammer der Polizei

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