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Vom höchsten Gut und vom größten Übel. Cicero
Читать онлайн.Название Vom höchsten Gut und vom größten Übel
Год выпуска 0
isbn 9783748566243
Автор произведения Cicero
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
§ 48. Wer aber die Lust so zu geniessen vermag, dass kein Schmerz daraus für ihn hervorgeht, und wer in seinen Urtheilen zurückhält, um nicht, durch die Lust besiegt, das zu thun, was nach der eigenen Ansicht nicht geschehen soll, der erreicht gerade durch Beiseiteschiebung solcher Lust die höchste Lust, und der erträgt auch oft einen Schmerz, um nicht sonst in einen grösseren zu gerathen. Hieraus erhellt, dass auch die Unmässigkeit nicht um ihrer selbst willen zu fliehen ist, und dass man die Mässigkeit nicht begehrt, weil sie die Lust flieht, sondern weil sie die grössere Lust bereitet.
Kapitel XV.
§ 49. Dasselbe wird sich auch für die Tapferkeit ergeben. Denn weder die Verrichtung einer Arbeit noch das Erleiden eines Schmerzes lockt an sich an; auch thut dies nicht die Geduld, die Emsigkeit, das Nachtwachen, ja, selbst der vielgerühmte Fleiss und selbst die Tapferkeit nicht; vielmehr folgt man ihren Geboten nur, damit man ohne Sorgen und Furcht leben könne und man Seele und Leib nach Möglichkeit vor Ungemach bewahre. So wie die Todesfurcht den ganzen Zustand eines ruhigen Lebens verwirrt, und so wie es jämmerlich ist, wenn man den Schmerzen unterliegt oder sie nur mit gedrücktem oder schwächlichem Sinne erträgt, und wie ob dieser Geistesschwäche Viele ihre Eltern, Viele ihre Freunde, Manche ihr Vaterland, die Meisten aber sich selbst gänzlich ins Verderben gestürzt haben, so hält sich umgekehrt ein starker und erhabener Sinn frei von aller Angst und Sorge und verachtet selbst den Tod; denn wer davon getroffen wird, ist eben nur so daran, als wie vor seiner Geburt. Ein solcher ist bereit, Schmerzen zu ertragen, denn er weiss, dass die grössten mit dem Tode enden, dass die kleinen viele Pausen der Ruhe haben und dass man Herr der mässigen Schmerzen werden kann, so dass die erträglichen ausgehalten werden können, und bei den härteren man mit Seelenruhe das Leben, wenn es nicht gefällt, wie ein Theater verlassen kann. Daraus ergiebt sich, dass die Furchtsamkeit und Trägheit nicht ihretwegen getadelt und die Tapferkeit und Gelassenheit nicht ihretwegen gelobt werden; sondern man verwirft jene, weil sie Schmerzen, und wählt diese, weil sie Lust bereiten.
Kapitel XVI.
§ 50. So bleibt nur noch die Gerechtigkeit, um alle Tugenden behandelt zu haben. Auch von ihr kann indess das Gleiche gesagt werden. So wie ich gezeigt habe, dass die Weisheit, Mässigkeit und Tapferkeit mit der Lust in der Art verbunden sind, dass sie in keiner Weise von ihr getrennt und abgesondert werden können, so gilt dies auch von der Gerechtigkeit, die nicht allein niemals Jemandem schadet, sondern immer durch ihre Kraft und Natur beiträgt, das Gemüth zu beruhigen und die Hoffnung zu erhalten, dass Nichts von dem fehlen werde, dessen ein unverdorbener Mensch bedarf. So wie die Verwegenheit, die Ausgelassenheit und Trägheit die Seele immer peinigen, immer aufregen und stören, so beunruhigt auch die Unredlichkeit, wenn sie in dem Gemüth sich festgesetzt hat, durch ihre blosse Gegenwart; wenn sie etwas unternimmt, kann sie trotz aller Heimlichkeit doch nicht sicher sein, dass es immer verborgen bleiben werde; denn in der Regel folgt den Handlungen des Unredlichen zunächst der Verdacht, dann erhebt sich das Gerede und Gerücht, dann der Ankläger und zuletzt der Richter, ja, Viele zeigen sich selbst an, wie während Deines Consulats geschah.
§ 51. Selbst wenn Einzelne sich genügend gegen alles Bekanntwerden geschützt und verwahrt zu haben dünken, bleibt ihnen doch die Furcht vor den Göttern, und sie halten jene Angst, die ihr Gemüth
»Tag und Nacht«
verzehrt, für eine von den unsterblichen Göttern verhängte Strafe. Wie kann wohl aus unrechten Handlungen eine so grosse Minderung der Unannehmlichkeiten des Lebens hervorgehen, dass sie die aus dem Bewusstsein der Unthaten, aus der Strafe der Gesetze und dem Hass der Bürger hervorgehende Steigerung derselben die Wage hielte? Und doch giebt es Menschen, die weder in dem Streben nach Geld, noch nach Ehren, nach Herrschaft, nach sinnlicher Lust, nach leckem Mahlzeiten und neuen Annehmlichkeiten Maass halten. Keine Beute, die sie aus ihren Unthaten gewonnen haben, mindert ihre Begierden; sie werden dadurch nur heftiger, und nur Zwang, aber nicht Ermahnung kann sie im Zaume halten.
§ 52. So empfiehlt die wahre Vernunft dem Verständigen die Gerechtigkeit, die Billigkeit, die Treue. Schon dem ungeschickten, dem schwachen Menschen nützt sein Unrechtthun nichts, da er seine Pläne nicht leicht auszuführen und, wenn es geschieht, das Erreichte nicht festzuhalten vermag. Aber auch die Macht an Geist und Vermögen passt besser zu einem edlen Sinne, denn durch einen solchen erlangt man das Wohlwollen der Menschen und, was für die Ruhe des Lebens noch wichtiger ist, ihre Liebe, weil aller Anlass zum Unrechtthun dann fehlt.
§ 53. Denn die natürlichen Begierden können leicht und ohne Verletzung Anderer befriedigt werden, und den eitlen Begierden darf man nicht nachgeben, da sie kein Wünschenswerthes begehren und in dem Unrecht selbst mehr Schaden enthalten ist, als Vortheil in den Dingen, die durch das Unrecht erlangt werden. Deshalb kann man auch von der Gerechtigkeit nicht sagen, dass sie um ihrer selbst willen begehrenswerth sei; sie ist es nur, weil sie zur Annehmlichkeit des Lebens am meisten beiträgt. Geliebt zu werden und Andern theuer zu sein, ist angenehm, weil das Leben dadurch sicherer und die Lust vollständiger wird. Wir meinen daher, dass die Unredlichkeit nicht blos deshalb zu fliehen sei, weil sie dem Unredlichen Nachtheil bringt, sondern weit mehr noch, weil sie das von ihr eingenommene Gemüth niemals zu Athem und Ruhe kommen lässt.
§ 54. Wenn sonach selbst das Lob der Tugenden, in dem sich die Ausführungen der übrigen Philosophen hauptsächlich so stolz ergehen, zu keinem Ergebnisse führen kann, so lange es nicht auf die Lust gerichtet wird, und wenn die Lust allein es ist, die uns durch ihre Natur anruft und anlockt, so kann es nicht zweifelhaft sein, dass sie das höchste und äusserste Gut ist, und dass das glückliche Leben nur in einem von Lust erfüllten Leben besteht.
Kapitel XVII.
§ 55. Ich will nun kurz darlegen, was mit diesem festen und gesicherten Grundsatz verknüpft ist. In dem höchsten Gut und Uebel, d.h. in der Lust oder in dem Schmerze, kann man sich nicht irren, aber wohl kann man in den Gegenständen fehlgreifen, wenn man nicht weiss, aus welchen Ursachen jene hervorgehen. Wir gestehen, dass die Lust und der Schmerz der Seele aus der Lust und dem Schmerz des Körpers entsteht. Ich gebe deshalb zu, dass, wenn Einzelne von uns hier anderer Ansicht sind, dies, wie Du sagtest, die Sache verloren macht; es sind dies zwar Viele, aber doch nur Unerfahrene. Wenn auch die Lust der Seele uns Freude macht und ihr Schmerz uns unangenehm ist, so entspringen doch beiderlei Gefühle aus dem Körper und werden auf ihn bezogen. Doch kann trotzdem die Lust und der Schmerz der Seele viel grösser als die des Körpers sein; denn mit dem Körper kann man nur das Gegenwärtige und Anwesende empfinden, mit der Seele aber auch das Vergangene und Kommende. Wenn man auch bei körperlichen Schmerzen ebenso in der Seele leidet, so kann doch dieses Gefühl erheblich steigen, wenn man meint, von einem dauernden und endlosen Uebel bedroht zu sein; und dasselbe gilt von der Lust, sie steigt, wenn man nichts dergleichen befürchtet.
§ 56. So erhellt schon hieraus, dass die grösste Lust und der grösste Schmerz der Seele von höherer Bedeutung für das glückliche oder elende Leben ist, als beiderlei Empfindung, wenn sie gleich lange im Körper ist. Nach unserer Ansicht folgt aus der Entziehung der Lust nicht sofort die Traurigkeit; es müsste denn an Stelle der Lust zufällig ein Schmerz getreten sein; aber umgekehrt erfreut der Nachlass der Schmerzen, auch wenn keine die Sinne erregende Lust nachfolgt, und daraus kann man ersehn, welche grosse Lust in der Schmerzlosigkeit enthalten ist.
§ 57. Ebenso wie man durch die Güter, welche man erwartet, aufgerichtet wird, freut man sich ihrer in der Erinnerung. Nur die Thoren quälen