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Vom höchsten Gut und vom größten Übel. Cicero
Читать онлайн.Название Vom höchsten Gut und vom größten Übel
Год выпуска 0
isbn 9783748566243
Автор произведения Cicero
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
§ 68. Deshalb ist der Weise gegen seine Freunde ebenso gesinnt wie gegen sich selbst, und die Mühe, die er für seine eigene Lust, übernehmen würde, übernimmt er auch für die seiner Freunde. Alles, was von den Tugenden gesagt worden und von der Art, wie sie immer der Lust einwohnen, das gilt auch von der Freundschaft. Herrlich ist der Ausspruch Epikur's, der ohngefähr so lautet: »Derselbe Grundsatz, welcher die Seele ermuthigt, kein Uebel als ein ewiges oder anhaltendes zu fürchten, lässt auch erkennen, dass während dieses Lebens der Schutz der Freundschaft der festeste ist.«
§ 69. Manche Epikureer verhalten sich indess etwas verzagter gegen Euer Schimpfen, aber sind doch ganz scharfsinnig. Sie fürchten, dass alle Freundschaft hinkend werden würde, wenn man sie nur der eignen Lust wegen begehrte. Nach ihnen erfolgt zwar das Zusammentreten, die Verbindung und der Wille zu gemeinsamem Umgang zuerst um der eignen Lust willen; wenn aber der fortgesetzte Verkehr die Vertraulichkeit herbeigeführt habe, so erwachse daraus eine solche Liebe, dass die Freunde, auch wenn die Freundschaft keinen Nutzen gewährt, sich um ihrer selbst willen lieben. Sie meinen, dass man durch Gewohnheit ja schon Plätze, heilige Orte, Städte, Gymnasien, das Feld, die Hunde, die Pferde, die Spiele, die Leibesübungen und Jagden lieb zu gewinnen pflege; um so viel mehr und mit mehr Recht könne dies also auch für den Umgang mit Menschen geschehen.
§ 70. Man behauptet sogar, dass die Weisen einen Bund geschlossen haben, die Freunde nicht weniger wie sich selbst zu lieben; dies halte ich nicht allein für möglich, sondern es ist auch oft geschehen, und es erhellt, dass eine solche Verbindung das trefflichste Mittel für ein angenehmes Leben sein muss. Aus Alledem kann man abnehmen, dass das Wesen der Freundschaft nicht leidet, wenn das höchste Gut in die Lust gesetzt wird, sondern dass ohnedem die Verbindungen der Freundschaft überhaupt nicht angetroffen werden können.
Kapitel XXI.
§ 71. Wenn somit das, was ich gesagt, heller und klarer ist als die Sonne; wenn ich Alles als aus dem Quell der Natur geschöpft dargelegt habe; wenn meine ganze Rede ihre Bestätigung durch die Sinne, als den unbestochenen und wahrhaften Zeugen, erhält; wenn die kleinen Kinder, ja selbst die stummen Thiere es unter Führung ihrer Lehrerin Natur beinahe aussprechen, dass nur die Lust glücklich mache und nur der Schmerz hart sei, und dieses ihr Urtheil weder verderbt noch bestochen ist, sollte man da dem Manne nicht Dank wissen, der diese Stimme der Natur gleichsam vernommen und so fest und ernst zusammengestellt hat, dass damit jeder Mensch mit gesunden Sinnen auf den Weg eines besänftigten, ruhigen, gelassenen, glücklichen Lebens gelangen kann? Und wenn Du Epikur für wenig gelehrt hältst, so kommt es nur davon, dass ihm blos das als Gelehrsamkeit galt, was die Einrichtung des glücklichen Lebens fördert.
§ 72. Sollte er etwa seine Zeit im Lesen der Dichter verbringen, wie ich und Triarius auf Deine Ermahnung thun, in denen nichts wahrhaft Nützliches, sondern nur ein kindisches Vergnügen zu finden ist; oder sollte er sich wie Plato in der Erforschung der Musik, der Geometrie, der Zahlen und Gestirne aufreiben, die von falschen Anfängen ausgehn und deshalb nicht wahr sein können, und wenn sie es auch wären, doch zum angenehmeren, d.h. zum besseren Leben nichts beitragen würden; sollte er also diese Künste treiben und dafür jene grosse und mühsame, aber auch fruchtbringende Kunst des Lebens aufgeben? Sicherlich ist Epikur kein Ungelehrter, sondern jene sind es, welche meinen, dass sie das, was sie als Knaben schmählicher Weise zu lernen versäumt haben, bis zu ihrem Greisenalter nachzuholen haben. – Torquatus schloss hier seine Rede mit den Worten: Ich habe meine Ansichten auseinandergesetzt, und zwar, um Dein Urtheil hierüber zu erfahren. Bisher hatte sich mir die Gelegenheit, dies ganz nach meinem Ermessen zu thun, niemals geboten.
Zweites Buch Kapitel I.
§ l. Als hier Beide mich ansahen und zum Hören sich bereit zeigten, so sagte ich: Zunächst habe ich die Bitte, dass Ihr mich nicht für einen Philosophen haltet, der Euch sein System erklären und lehren will; ich kann dies nicht einmal bei einem wirklichen Philosophen loben denn wenn hat wohl Sokrates, der mit Recht der Vater der Philosophie genannt werden kann, dergleichen gethan? Nur bei den damaligen sogenannten Sophisten war dies Sitte, von denen einer, der Leontiner Gorgias, zuerst es wagte, in Zusammenkünften eine Frage zu fordern, womit er wollte, man solle den Gegenstand angeben, über den man ihn hören wolle. Ein dreistes Treiben, was ich unverschämt nennen würde, wenn diese Sitte nicht später auch auf unsere Philosophen übergegangen wäre.
§ 2. Aber sowohl den erwähnten Sophisten wie die andern sehen wir von Sokrates verspottet, wie man aus Plato entnehmen kann. Er pflegte durch Ausforschen und Fragen von Denen, mit welchen er sich besprach, ihre Meinungen herauszulocken, um auf das, was sie zur Antwort gaben, zu entgegnen, so weit es ihm passend schien. Die Spätern hatten diese Sitte nicht beibehalten, allein Arcesilaus führte sie wieder ein, aber so, dass die über das, was sie hören wollten, ihn nicht ausfragen, sondern selbst ihre Meinung aussprechen mussten. War dies geschehen, so entgegnete er, während seine Zuhörer nach Möglichkeit ihre Meinung vertheidigten. Bei den übrigen Philosophen schwieg dagegen Der, welcher nach etwas gefragt hatte, und schon in der Akademie war dies der Fall. Wenn hier ein Zuhörer sagte: Die Lust scheint mir das höchste Gut zu sein, so wird in fortlaufender Rede dagegen gesprochen, so dass man leicht bemerkt, wie Die, welche eine solche Behauptung aufstellen, nicht selbst dieser Ansicht sind, sondern nur die Widerlegung hören wollen.
§ 3. Ich werde es zweckmässiger machen. Torquatus hat nicht blos seine Ansicht ausgesprochen, sondern auch die Gründe dafür; wenn ich nun auch mich an seinem fortgehenden Vortrag sehr ergötzt habe, so halte ich es doch für passender, bei den einzelnen Punkten anzuhalten und zu hören, was Jeder einräumt oder bestreitet; dann kann man aus dem Zugestandenen die nöthigen Folgerungen ziehen und so zu einem Ergebnisse gelangen. Wenn aber die Rede gleich einem Strome fortläuft, so reisst sie zwar Vieles und Mancherlei mit sich fort, aber man kann nichts festhalten, nichts tadeln und nirgends den Redefluss zum Stehen bringen. Jede mit einer Untersuchung befasste Rede, die festen Schrittes und vernunftgemäss vorschreiten will, muss zunächst angeben, wie es bei den Klageformeln geschieht, »diese Sache soll verhandelt werden«, damit die Theilnehmenden sich zunächst darüber vereinigen, was das sei, worüber man sprechen wolle.
Kapitel II.
§ 4. Diese von Plato im Phädrus aufgestellte Regel hat Epikur gebilligt; er meint, dass bei jeder Erörterung dies geschehen müsse. Allein das Nächste hat er nicht gesehen; denn er mag von Distinctionen nichts wissen, obgleich doch ohnedem es oft kommen kann, dass die Streitenden selbst nicht wissen, worum es sich handelt, wie dies auch bei unserer Erörterung der Fall sein dürfte. Wir suchen das höchste Gut; aber können wir das erkennen, bevor wir unter uns, die wir vom höchsten Gut sprechen, nicht festgestellt haben, was das höchste und was ein Gut ist?
§ 5. Diese Aufdeckung eines gleichsam verdeckten Gegenstandes, wo offen gelegt wird, was eine Sache ist, macht die Definition aus, und auch Du hast, ohne es zu bemerken, einige Male davon Gebrauch gemacht; denn Du erklärst das sogenannte Beste, oder Höchste, oder Aeusserste für das, auf welches alles richtige Handeln bezogen werde, ohne dass dieses Letzte selbst auf ein Anderes bezogen werde. Dies ist vortrefflich gesprochen, und Du würdest vielleicht auch, was das Gut ist, wenn es nöthig gewesen wäre, definirt haben, sei es als das, was man von Natur begehrt, oder was nütze, oder was helfe, oder was gefalle. So bitte ich denn, wenn es Dich nicht beschwert, da das Definiren überhaupt Dir nicht missfällt und Du es benutzest, wo es Dir passt, dass Du auch definirst, was die Lust ist, um die unsere ganze Untersuchung sich dreht.
§ 6. Aber ich bitte Dich, antwortete Torquatus, wer sollte nicht wissen, was die Lust ist, oder eine