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erheben. Die Stadt ist vor fast 1000 Jahren im Zuge von fundamen­talistischen religiösen Auseinandersetzungen kriegerischer Berberstämme entstanden. Ihr Name hat dem ganzen Land seinen Namen gegeben. Die schnell immer mehr politisch-militäri­schen Charakter annehmenden Kämpfe haben ebenso und bis heute das ganze Land beeinflusst.

      Die melodischen, mystisch klingenden Koransänger in den ganz frühen Morgenstunden und genauso das bunte orientalische Treiben auf dem Djemaa el Fna (arabisch: Versammlung der Toten), dem berühmten mittelalterlichen Markt- und Henkersplatz, wo heute orientalische Geschichtenerzähler, Gaukler und Schlangenbeschwörer den Fremden das Geld aus der Nase ziehen wollen, nahmen auch ihn gefangen. Schon am frühen Morgen ging er hin, um frisch gepressten Orangensaft zu schlürfen. Tagsüber erforschte er dann die Souks, also die Bazar-Gassen. Die Frauen müssen dort produ­zieren, nebenher für Essen und Kinder sorgen und dürfen sich dafür verschleiern. Die Männer treiben Han­del, oft recht aufdringlich, und sitzen ansonsten im Café. Ohne Probleme wurde er in eine Koranschule gelas­sen, in eine Moschee aber nicht. Er konnte gut nachvollziehen, warum mehr weltlich gesonnene Marokkaner schon im Mittelalter die Hauptstadt des Landes nach Fès verlegt haben. Marrakesch ist immer noch von Fundamentalismus geprägt und erzkonservativ. Igor hielt es hier nur wenige Tage aus und fuhr auch nach Fès weiter.

      Dort angekommen wurde er am außerhalb der Stadtmauer gelegenen Busbahnhof sofort von jungen Männern umringt, die ihm eine teure Unterkunft aufzuschwatzen versuchten. Doch er kannte die Preise und marschierte mit seinem Gepäck allein in die Altstadt. Die Zahl der teilweise recht unangenehmen Verfolger nahm ab, und zum Schluss blieb genau einer übrig, der sehr nett war und ihn wie in Marrakesch zu einer Traumunterkunft hoch über den Dächern führte.

      Oben über enge Stiegen im fünften Stock der Pension angekommen wurde er von einer arabischen Großfamilie freudig begrüßt. Eine junge Schönheit blickte ihn mit dunkelbraunen Augen lange an, verschwand dann aber. Er bekam ein hübsches Zimmerchen in der Ecke der Dachterrasse mit märchenhaftem Blick über die völlig unübersichtliche Stadt und die getrennt dahinter liegende Neustadt. Abends noch zog er los in die nähere Umgebung, genau darauf achtend, auch wieder zurückfinden zu können. Doch er kam nicht weit. An der übernächsten Ecke lief ihm die junge Schöne über den Weg und lud ihn überraschend ein, die über 700 Jahre alte Riad ihrer Familie anzuschauen. Eine solche Riad ist eine Stadtvilla, außen ein bewusst unauffälliges Gemäuer mit nur wenigen kleinen Fenstern, innen jedoch mit einem eindrucksvollen vier Stockwerke hohen Raum in der Mitte, um den herum fast wie versteckt die Wohngemächer liegen.

      Die Schönheit dieses Gebäudes und der achtzehnjährigen Khawla standen in vollem Ein­klang. Khawla ist die arabische Version von Julia. Nachdem Julia zu Giulia mutiert war, nun sie? Verunsichert wurde er unten in einen Sessel gesetzt. Sie zog mit seinem Fotoapparat in den Obergeschossen herum, um für ihn dort Aufnahmen zu machen. Die folgende lange Unterhaltung auf französisch, was sie fließend sprach, zeigte vor allem ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Gleichzeitig hatte er fortlaufend das Gefühl, von oben durch die vielen Gitterfenster beobachtet zu werden. Doch niemand ließ sich blicken. Was sie ihm von ihrem Leben erzählte, hörte sich für ihn in vielem wie in modernes orien­ta­lisches Märchen an, verschwamm aber großenteils schnell wieder aus seiner bewussten Erinnerung. In seiner eher logischen Art hätte er es kaum wiederholen können. Beim Abschied ließ sie sich im dunklen Ausgang gerne ein wenig mehr umar­men, als es das strenge Gesetz erlaubt. Diese fast schüchterne kurze Annäherung blieb sehr viel länger in seiner Erinnerung haften.

      Am nächsten Tag fragte er sie, ob sie ihm die Medina zeigen wolle. Das war, wie er schnell ver­stand, jenseits des Erlaubten. Als junge Person konnte sie sich dort nicht mit einem älteren Mann sehen las­sen. Doch sie fuhren per Taxi zusammen in die Neustadt, ein inter­essanter Kontrast, aber offensicht­lich noch gefährlicher als die Altstadt. Sie erzählte, dass Raubüberfälle, bei denen man auf offener Straße und zwischen allen Passanten ein Messer an die Gurgel gesetzt bekommt, dort genauso häufig wie Taschendiebstähle sind. Ihr selbst waren auf diese Weise vor kurzem fast 400 Euro geraubt worden. Im Stillen fragte er sich, wieso sie dort mit soviel Geld herum gelaufen war. Das hatte sie angeb­lich selbst ver­dient mit Arbeit in einem Frisiersalon. Ihr Papá gehörte als Besitzer eines Schlachthofes jedoch auch nicht zu den ganz Armen. Aber nun lieh sie sich von Igor 30 Euro.

      Ein halbwüchsiger Junge von der Familie in der Pension führte ihn dann später zusammen mit einigen Spaniern durch die Altstadt. Darüber, dass das nur lizensierte Fremdenführer taten, wachte dort eine Art Geheim­polizei, mit der sicher nicht zu spaßen war. So wurde diese Führung in spanischer Sprache zu einer Art Katze-und-Maus-Spiel mit jenen Agenten, das aber gut ausging. Von Zeit zu Zeit verschwand der junge Führer, um den Kontrollen zu entgehen, tauchte aber dann immer wieder auf.

      Die verwinkelte Altstadt, die Medina mit der uralten Zentralmoschee, angeblich der ältesten Bildungs­einrichtung der Welt, die ununterbrochen in Betrieb, aber wie hier üblich für Fremde gesperrt ist, musste er allein erforschen,- ein gutes Training für das Ortsgedächtnis. Fès erschien ihm rätselhaft komplex, eine der spannendsten Städte der Welt, übri­gens die einzige, von der es bis heute keinen exakten Stadtplan gibt. Fès gleicht einem riesigen Ameisenhaufen, der aus der Luft nicht zur Karto­grafie fotografiert werden kann, weil all die engen Pfade überdacht sind, um die Hitze fernzuhalten. Von oben sieht man nur ein einziges großes Dach.

      Freitags am Nachmittag ist auch diese muslimische Stadt wie ausgestorben. Doch er wurde in Khawlas Riad zu einem Couscous-Essen eingeladen, absolut lecker. Ihm kam es wie ein buntes orientalisches Theater vor. Die etwa zwanzig eingeladenen Männlein und Weiblein unterhielten sich lautstark an getrennten Tischen. Auch die Familie aus der Pension kam mit Kind und Kegel, erwies sich als mit deren Familie verschwägert. Khawla war marokkanische Meisterin im Bauchtanz geworden, was hier und später auch noch einmal in der Pension in einer durchaus eindrucksvollen privaten Videoaufnahme gezeigt wurde. Eine blau gekleidete marokkanische Band spielte traditionelle hiesige Musik, wozu vor allem die Frauen in einer Mischung von Schüchternheit und Ausgelassenheit tanzten.

      Im Stillen fragte sich Igor, was diese fremde Welt mit ihm selbst zu tun hatte, und zuckte mit den Schul­tern. Er liebte vor allem das Café Clock, etwas versteckt ein paar Gassen weiter in einem Seiten­gang liegend, auch eine alte vier­stöckige Riad mit zwei kleinen und umso begehrteren Dachterrassen. Abends spielten dort ebenfalls biswei­len marokkanische Bands in jenen typischen blauen Gewändern, zogen von Etage zu Etage und versetz­ten die Besucher in Stimmung,- aber wie! Eine hinreißende Musik brachte Frauen und Män­ner zu voller Begeisterung. Schleier waren hier nicht gefragt, die Mehr­zahl sogar ohne Kopftücher, dafür prächtig bunt gekleidet.

      Es fand in Fès gerade ein internationales Festival für sakrale Musik statt, das aber für Igor unbezahlbar teuer war. Die Einheimischen wurden umsonst hinein gelassen, so auch Khawla. Anschließend ver­schwand das arme Mädchen mit den geliehenen 30 Euro auf Nimmer-Wiedersehen. Wie zuvor Giulia blieb sie ein für ihn unerreichbarer Traum. War auch die Julia, die er früher kennen gelernt hatte, nur eine Fiktion gewesen? Der große Altersunterschied? Auf jeden Fall war der Abschied von dieser Stadt nicht sehr erfreulich.

      Zwei Tage später empfand sich Igor im spanischen Granada wie zur Einsamkeit verurteilt, obwohl die Stadt von jungen und oft sehr schönen Studentinnen nur so wimmelte. Und Männer im eigenen Alter? Er fühlte ein tiefes Knurren in sich selbst und schüttelte sich trotzig.

      Granada ist eine sehr lebendige Universitätsstadt mit malerischen Gassen, Plätzen und Lokalen, doch nicht ganz billig. Der Empfeh­lung des Sohnes folgend wohnte er in einem Backpacker-Hostel oben am der Alhambra gegenüber liegenden Hang. Das Haus wurde von einem jungen Engländer mit seiner französischen Freun­din nahezu perfekt geführt. Die so eindrucksvolle Festung lag abends strahlend erleuchtet in etwa 200-300 Meter Entfernung vor seinen Augen. Washington Irving, der vor etwa 150 Jahren das Leben in der Alhambra so faszinierend beschrieben hat, würde auch heute noch seine Freude haben, dort zu wohnen. Im jenem Backpacker-Hostel fand Igor nicht nur überaus freundliche Menschen aus vielen verschiede­nen Ländern und mit vielseitigen Interessen, sondern auch in Büchern und im Internet reichliche und tiefgehende Informa­tion über die so nahe

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