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dass dieser Ort nichts von der eigentlichen Kultur repräsentierte, die er suchte, ließ er sich einen Computer und eine Flasche Cola geben und schaute in seine E-Mail. Drei Mails von seinen Freunden enthielten alle, als hätte es eine geheime Absprache zwischen ihnen gegeben, ganz ähnlich die Frage, ob er ihnen Fotos von seiner Reise schicken könnte, und sie wollten alle wissen, wie es ihm geht. Vage kam in ihm das Gefühl hoch, dass eigentlich niemanden interessiert, was er hier wirklich sucht. Einer machte eine frotzelnde Anspielung, dass er sicher mal wieder eine Frau gefunden habe für . . . .

      Ja, für was, das äußerte dieser nicht. Doch die auszufüllenden Punkte sagten alles. Nur für ihn selbst schien das nicht so. Für was hatte er sich denn mit den Beiden in Aventurina getroffen,- für was kam er jetzt hierher? Es stimmte schon, dass der Sex ihm gewaltige Freude gemacht hatte. Aber wenn ihm jemand ins Gesicht gesagt hätte, dass er dort nur Sex suchte, hätte er der Person sicher die Augen ausgekratzt. Er hatte das Gefühl, dass die beiden Frauen genau gespürt hatten, wie ihn der kulturelle Unter­schied zwischen ihnen interessiert, auch wenn sie das sprachlich nicht artikulieren konnten.

      Dann schaute er sich die Webseite von Wikipedia über Spelunca an. Er wollte sich doch für die viel­schichtige Kultur dieses Ortes interessieren. Ah, schon die Spartaner und der römische Kaiser Tiberio hatten hier ihre Spuren hinterlassen. Später waren die Sarazenen und die Türken, also islamische Völker, als Angreifer gekommen, hatten den Fischern, die sich hier eine Festung zu ihrem Schutz gebaut hatten, zweimal den Ort verwüstet. Er lag knapp außerhalb des damaligen Vatikan­staates. Die Altstadt bekam ihre heutige Form danach,- also vor etwa 300 Jahren. Später wurde die Gegend ein Zankapfel zwischen den sich bildenden italienischen Regionen Lazio und Campania. Die großen Veränderungen kamen aber erst über 10 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Bau der Küstenstraße brachte den Tourismus und beendete die große Armut der Bevölkerung.

      Noch in dem Intercafé rief er Giulia an und machte mit ihr ein Treffen in einem Lokal auf dem Markt­platz der Altstadt aus. Als er sie zwei Stunden später dort zur Begrüßung liebevoll in die Arme nahm, spürte er deutlich, wie sie ihm mit größerer Reserve als die beiden Asiatinnen begegnete. Fünf Jahre hatte er sie nicht mehr gesehen. Sie schien ihm recht verändert, war fülliger geworden,- eine Vollblut-Italienerin, dachte er. Auch ihren Namen schrieb sie nicht mehr Julia wie in Deutschland, sondern jetzt eben Giulia.

      Genau darauf zielte nun seine erste Frage, als sie in der stimmungsvollen Dämmerung zwischen all den gestikulierenden und oft recht lautstarken Italienern an einem Tisch Platz genommen hatten: „Na, wie geht es dir denn hier? Du hast mir doch erzählt, dass du halb eine Italienerin und halb eine Spanierin bist. Als du Deutschland verlassen hast, hast du dich da voll und ganz für Italien und nicht für Spanien entschieden?“ Sie lachte laut los und meinte, wie er denn auf die Idee kommen könnte, dass ein Mensch plötzlich eine Hälfte seines Wesens verliert. „Du erinnerst dich doch, wie ich damals den spanischen Sieg in der Fußball-Europa-Meisterschaft erlebt habe. Aber dieses Mal hat eben Italien gesiegt, und ich habe mit den Italienern gefeiert. Aber wie geht es denn dir? Bist du jetzt ein richtiger Casanova geworden, oder? Bevor du angekommen bist, habe ich mir im Internet kurz die Biografie von Casanova angeschaut. Soll ich dir mal erzählen, was ich davon behalten habe?“ Als er leicht belustigt nickte, fuhr sie fort:

      „Casanova war ein Kind von wissenschaftlichen Schaustellern, das älteste von fünf Geschwistern. Als Kind war er mehrmals lebensgefährlich erkrankt, und kam auch durch den damaligen Krieg dreimal in unmittelbare Lebensgefahr, sah, wie Soldaten vor seinen Augen ums Leben kamen und erlebte den Tod von Schulkameraden durch Krankheit. Dadurch hat er aber in seinem späteren Leben kaum mehr Angst gehabt. Auf Wunsch sowohl der Eltern als auch der Großeltern wurde er Wissenschaftler. Der kräftige Alkohol­genuss in den Studentenkneipen der traditionsreichen Stadt Monte Mirtillo schadete seiner Karriere zunächst nur wenig. Er setzte dort und in Colonia, wo er die Schönheit der Basis unseres Lebens zu erforschen lernte, je ein legales Kind auf die Welt. Von der Gesamtzahl seiner Kinder erhielt er laut Wikipedia jedoch nur teilweise Kenntnis.

      Später reiste er zu einem wissenschaftlichen Papst in der Nähe von Harvard. Der dortige Vatikan war fest in jüdischer Hand. Die dortigen jüdischen Novizinnen gefielen ihm aber besser als die Kardinäle. Doch mehr und mehr fühlte er sich zur filmischen Schaustellerei hingezogen. Schon in Colonia, als eine Revolution der Untertan das Land nicht sehr blutig erschütterte, war er nach Haschgenuss unter heftigen Lachanfällen aus einem Institut getorkelt. Doch erst nach einigen frustrierten Jahren in wissen­schaftlichen Tempeln verschiedener jungkapitalistischer Länder zog er sich in den bayerischen Sumpf zurück. Er traf auf Roland Emmerich, Werner Herzog und die damals noch lebendige Underground-Szene, die aber nicht das Rückgrat hatte, zu ihrer Life-Verfilmung von Schnitzlers 50 Jahre altem sexy Reigen zu stehen. Wie sehr von Männern dominiert diese Szene war, wo er doch die Frauen liebte! Die wenigen „diesbezüglichen“ realen Möglichkeiten bauschte er zu 101 Nächten auf. Sie sollen hier kein Thema sein. Wie sehr sie dennoch seinem Ruf geschadet haben, ist historisch klar.

      In den letzten Jahren seines Lebens widmete er sich nur noch dem Schreiben und der wiederholten Durchsicht seiner Manuskripte. Casanova starb in Deutschland oder Tschechien im Alter von 73 Jahren, wie in „101 Nacht“ beschrieben ist. Danach verschwand er aus seiner Grabkammer, feierte in Asien Wiederauferstehung und wurde zum wirklichen Casanova. Er gab das dort sinnlose Zählen der Nächte auf und widmete sich ihnen fortan auf asiatische Art.

      Wegen Königslästerung wurde er in die Bleikammern von Bang Kopf geworfen. Doch der eigentliche Grund war wohl seine Liebe zur Einfachheit. Nicht nur, dass er keinerlei Möbel besaß, nein, auch die Minimal Arts liebte er. Die Liebe zu dieser Art von Musik hatte er von seinem Sohn geerbt, diejenige zur Architektur dagegen von einer Berliner Gespielin, und zum Film von einem ewig brummelnden Freund, der nur zwei Minuten lange Filme am besten fand. Auch die Religion- er verehrte mehr das Unverständliche als das Menschliche- wollte er auf ein Minimum reduzieren, indem er Raum und Zeit aus der Trans­zendenz verbannte. Das Recht dazu nahm er sich durch wissenschaftlich fragwür­dige, vielleicht aber nicht ganz dumme angebliche Spekulationen, die natürlich sofort auf dem Index der peer review landeten. Aber wer glaubte in dieser angeblich gestochen rationalen Welt schon noch an Zusammenhänge zwischen so verschiedenen Gebieten wie Kunst, Religion und Naturwissenschaften?

      All die Mini-Päpste dieser etablierten Disziplinen, die in üblicherweise von ihnen bewohnten, bisweilen mit stattlichen staatlichen Gehältern finanzierten aufwendigen Villen im Fernsehen wirksam zu Geltung kamen, fürchteten natürlich dergleichen wie die Rattenpest.“

      An dieser Stelle musste Igor bei Giulias mit todernstem Gesicht vorgetragener Story laut loslachen. Doch so ganz war ihm nicht zum Lachen zumute. Durch sein von dem inzwischen ausgetrunkenen Glas Wein leicht verändertes Bewusstsein huschte die schnell wieder verdrängte Frage, ob diese Frau denn hellseherische Fähigkeiten habe.

      Er spürte eine merkwürdige Mischung von Nähe und Distanz bei ihr. In dem Wunsch, diese unklaren Gefühle überbrücken zu wollen, rückte er näher an sie heran, legte seine Hand auf ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: „Können wir hier wieder so zusammen sein wie damals? Das wäre super!“ Doch ihre Reaktion kam unerwartet schnell: „Du giltst hier als typischer Deutscher. Ich weiß wohl, dass du das nicht bist. Aber ich könnte mich hier auf keinen Fall auf dich einlassen. Schau dich mal um! Hier kommen keine deutschen Reisegruppen her. Ich weiß genau, dass es in Reisekatalogen bei euch kaum Angebote für diesen Ort gibt. Das hat eine ganze Reihe von Gründen. Die italienische Oberschicht macht hier traditionell Ferien. Das sind Leute sowohl mit viel Geld als auch mit Beziehungen. Denen stinkt, wie die Deutschen sich mit ihrem Geld wichtig tun und aber nicht die lockere Lebensart haben, die hier vorherrscht. Aber sie erinnern sich auch genauer, als ihr ahnt, an die schlimmen Dinge, die die Deutschen hier im Krieg verursacht haben. Hast du mal von Monte Cassino gehört? Und den Wiki­pedia-Artikel über „Deutsche Kriegsverbrechen in Italien“ scheint kaum jemand von den Touristen zu lesen. Das allerschlimmste Verbrechen in Marzabotto bei Bologna ist dort sogar nur in Fußnoten erwähnt.“ Er merkte, wie Giulia sich in Rage redete. Doch diesmal war ihre Rage echt und kein gut gespieltes Theater, wie er es früher bei ihr erlebt hatte. „Nein, Igor, sei mir nicht böse, aber ein Mann deines Alters hat hier in Italien keine Chance bei mir, auch wenn ich wohl weiß, dass du auch damals noch ein

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